Willoughby Dayton Miller – Erklärer der Karies
Miller wurde am 1. August 1853 in Alexandria, Ohio, als US-Amerikaner geboren – mit deutschen Wurzeln: Sein Urgroßvater lebte bis zu seiner Emigration in die USA in Deutschland. Und Miller, Sohn der Landwirte John H. und Nancy L. Miller, sollte als Erwachsener in das Land seiner Vorfahren zurückkehren und dort als Zahnarzt arbeiten.
Doch zunächst zog Miller 1865 vom dörflichen Alexandria in die nahe gelegene Stadt Newark, wo er die weiterführende Schule besuchte und 1871 abschloss. Er schrieb sich mit 18 Jahren an der University of Michigan in Ann Arbor ein, studierte Chemie, Physik und Mathematik und erlangte im Juni 1875 den Baccalaureus Artium [Parreidt, 1909; Holzhauer, 1962].
Danach studierte er in Europa weiter. Nachdem er das Wintersemester 1875/76 an der Universität Edinburgh verbracht hatte, ging Miller nach Berlin, wo er unter anderem Vorlesungen in Chemie und Physik besuchte, um seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu vertiefen. Schenkt man zeitgenössischen Ausführungen Glauben, verlor Miller in dieser Zeit „durch unglückliche Transaktionen“ seiner Bank seine gesamten Ersparnisse und musste sich fortan – trotz schwächelnder Gesundheit – mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten [Holzhauer, 1962].
In dieser Zeit lernte Miller den renommierten Francis Peabody Abbot kennen, der in New York Zahnheilkunde studiert und sich zwischenzeitlich in Berlin niedergelassen hatte. Abbot leitete dort eine Vereinigung US-amerikanischer Immigranten, mit der auch Miller in Kontakt kam. Abbot fand Gefallen an dem jungen Mann und machte ihn mit seiner Tochter Caroline bekannt. Und Abbot weckte Millers Interesse an der Zahnheilkunde. 1877 ging Miller zurück in die USA. Bis 1878 studierte er zunächst am Pennsylvania College of Dental Surgery, von 1878 bis 1879 dann im neuen Dental Department der University of Pennsylvania. Er promovierte 1879 mit einer preisgekrönten Arbeit über die „Konservierende Behandlung der Zahnpulpa“.
Im selben Jahr kehrte er nach Berlin zurück und wurde in der zahnärztlichen Praxis von Abbot tätig. Am 26. Oktober heiratete er Caroline Abbot [Holzhauer, 1962; Dieck, 1908; Parreidt, 1909; Hoffmann-Axthelm, 1996]. Parallel zu seiner Praxistätigkeit bildete er sich in den 1880er-Jahren unter anderem bei den Berliner Hochschullehrern Oskar Liebreich, Emil Heinrich du Bois-Reymond und Robert Koch in der Medizin weiter [Parreidt, 1909].
Als im Herbst 1884 das Zahnärztliche Institut an der Universität Berlin errichtet wurde, übernahm Friedrich Busch die Institutsleitung. Miller wurde seinerseits als einer seiner drei Stellvertreter zum Titularprofessor ernannt. Es folgte eine rund zwei Jahrzehnte anhaltende Phase hoher wissenschaftlicher Produktivität, die zu zahlreichen, zumeist deutschsprachigen Publikationen führte. Außerdem erwarb Miller 1887/88 den medizinischen Doktorgrad [Holzhauer, 1962; Dieck, 1908; Parreidt, 1909; Hoffmann-Axthelm, 1996].
Anfang der 1890er-Jahre wurde Miller zum außerordentlichen Professor ernannt. Nun erst, 1894, trat er in den Central-Verein deutscher Zahnärzte ein (CVdZ, heute: DGZMK). 1898 wurde ihm die Goldene Medaille des Vereins verliehen und er wurde zum zweiten Vorsitzenden ernannt. Seit 1900 stand Miller dann – als erster und bis heute einziger Ausländer – dem CVdZ vor [Groß/Schäfer, 2009].
Miller blieb bis 1906 Präsident des CVdZ. Zwei Jahre vorher wurde er 1904 zum Präsidenten der Fédération Dentaire Internationale (F.D.I.) gewählt [Maretzky/Venter, 1974]. In dieser Zeit wurde Miller die Leitung der Zahnmedizinischen Fakultät der University of Michigan angetragen. Und tatsächlich fasste Miller 1906 den Entschluss, dem Ruf in die Staaten zu folgen. Nachdem deutlich geworden war, dass er sich nicht umstimmen ließ, verlieh ihm der CVdZ 1906 die Ehrenmitgliedschaft. Bei seinem Abschied in Berlin wurde ihm der Titel „Geheimer Medizinalrat“ zuerkannt [Holzhauer, 1962; Groß/Schäfer, 2009; Tschernitschek et al., 2007].
Doch Miller war kaum in den USA angekommen, da erkrankte er an einer Appendizitis, die zu einem Blinddarmdurchbruch und in der Folge zu einer Peritonitis führte. Eine im City Hospital in Newark durchgeführte notfallmäßige Operation kam zu spät: Miller verstarb am 29. Juli 1907 im Alter von 53 Jahren. Er hat sein Amt an der University of Michigan somit nicht mehr antreten können. Man übertrug die Leitung der neuen Einrichtung Millers designiertem Assistenten Russell Welford Bunting, der Millers Werk kongenial fortführte [Bunting, 2011].
Das wichtigste Lehrbuch des 19. Jahrhunderts
Der Name „Willoughby Dayton Miller“ steht in der Zahnheilkunde für wissenschaftliche Pionierleistungen. Er gilt als Begründer der oralen Mikrobiologie und als Vorreiter der zahnärztlichen Hygiene. Er entwickelte die chemoparasitäre Kariestheorie, die einen völlig neuen Blick auf die Entstehung von Karies warf und zum zentralen Grundstein moderner Kariestheorien wurde [Dieck, 1908; Parreidt, 1909; Holzhauer, 1962; Groß, 2005]: Miller legte seit 1882 sukzessive in mehreren publizierten Arbeiten dar, dass Bakterien („Mikrokokken und Bacillen“) der Mundflora Kohlenhydrate zu Säuren abbauen, die ihrerseits zur Entkalkung des Zahnschmelzes führen, so dass Bakterien den Zahn penetrieren und die Zahnhartsubstanz zerstören können.
Bis zum Jahr 1889 konnte er mehr als hundert verschiedene Bakterienarten aus den Mundflüssigkeiten und -belägen isolieren. Ihm gelang auch, den bei der Zahnkaries auftretenden „Erweichungsprozeß“ als säurebedingte Entkalkung der Zahnhartsubstanz zu erklären. Miller führte aus, dass Bakterien vermehrt in das erweichte Zahnbein eindringen, dort ihre Stoffwechselprodukte hinterlassen und so weiter entkalkend wirken. Am Ende steht die Zerstörung des Zahnes. Damit war Miller dem Wesen der Karies auf die Spur gekommen.
Er legte seine Erkenntnisse in der 1889 erschienenen Monografie über „Die Mikroorganismen der Mundhöhle“ nieder [Miller, 1889 und 1890]. Sie gilt vielen Fachhistorikern als das wichtigste zahnärztliche Lehrbuch des 19. Jahrhunderts und als zentrales medizinisches Werk – auch vor dem Hintergrund, dass die Zahnkaries als die am weitesten verbreitete Krankheit beim Menschen gilt [Groß, 2005]. Das Buch bildete den Bezugspunkt für zahllose Arbeiten zur Kariologie beziehungsweise zur Kariesprophylaxe und zur oralen Mikrobiologie [Groß, 1994]. Eine ähnliche Wirkmacht entfaltete das 1896 erschienene „Lehrbuch der Conservierenden Zahnheilkunde“ [Miller, 1896].
Miller verfasste trotz seines vergleichsweise frühen Todes insgesamt mehr als 160 Fachpublikationen [Parreidt, 1909]. Zusammen mit dem US-amerikanischen Zahnarzt Newell Sill Jenkins, der sich ebenfalls in Deutschland – in Dresden – niedergelassen hatte, entwickelte er überdies eine kariesprotektive Zahnpasta mit desinfizierenden Inhaltsstoffen [Kolynos, 2011]. Zudem trägt die „Miller-Nadel“ seinen Namen – eine Sonde zum Auffinden von Wurzelkanälen oder Spalten bei Kronenrändern [Hoffmann-Axthelm, 2000]. Zu seinen Schülern zählte der spätere Bonner Ordinarius Alfred Kantorowicz (1880–1962) [Doyum, 1985].
Miller erhielt Ehrenmitgliedschaften, Medaillen und sonstige Auszeichnungen von mehr als drei Dutzend zahnärztlichen Gesellschaften in der ganzen Welt, hinzu kamen Ehrendoktorwürden von Universitäten. Aus deutscher Sicht ist besonders sein Engagement als Vorsitzender des CVdZ zu würdigen. Während unter seinem Vorgänger die Mitgliederzahlen im CVdZ stagniert hatten, entwickelte Willoughby Dayton Miller erfolgreiche Strategien, die letztlich innerhalb von nur sechs Jahren zu einer Vervierfachung der Mitgliederzahlen führten [Groß/Schäfer, 2009]. Auch trat er für eine Akademisierung des Zahnarztberufs ein – eine Forderung, die zwei Jahre nach seinem Tod erfüllt wurde [Parreidt, 1909].
Miller galt als Mann des Ausgleichs. Dies belegt eine Stellungnahme des CVdZ anlässlich seiner Verabschiedung: „Der Central-Verein hat mehr als irgend ein anderer Kreis Gelegenheit gehabt, seinen Vorsitzenden in den Eigenschaften seiner Person, als Mensch, hoch zu schätzen. Mit seiner Tatkraft in der Vertretung und Förderung der Interessen des Vereins verbindet Miller eine Bescheidenheit des Wesens und eine so große Fähigkeit, beruhigend und ausgleichend zu wirken, daß scharfe Gegensätze unter den Hunderten von Mitgliedern kaum jemals hervorgetreten sind. Und wo solche zu erscheinen drohten, da hat niemand so wie er es verstanden, die Wogen zu glätten [Holzhauer, 1962].“
Vor allem aber profitierte die gesamte deutsche Zahnheilkunde von Millers weltweitem Ansehen. Wie dankbar die deutsche Zahnärzteschaft Miller war, dokumentiert auch die Tatsache, dass die deutschen Zahnärzte zu Ehren Millers eine Stiftung ins Leben riefen [Holzhauer, 1962]. Mit den Geldern der Millerstiftung wurde bereits 1908 der „Miller-Preis“ inauguriert, der fortan regelmäßig „von den Zinsen für die beste Leistung auf dem Gebiete der wissenschaftlichen oder praktischen Zahnheilkunde“ vergeben werden sollte [Parreidt, 1909]. Die später „auf Eis gelegte“ Auszeichnung wird seit 1961 wieder regelmäßig vergeben und gilt – bis heute – als der wichtigste zahnärztliche Wissenschaftspreis in Deutschland [Schäfer/Groß, 2009]. Sie ist zugleich Garant für eine lebendige Erinnerung an den Wissenschaftler und Zahnarzt Willoughby Dayton Miller.
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Medizinische Fakultät
RWTH Aachen University
dgross@ukaachen.de