Mundgesundheit von Flüchtlingen

Auf dem Stand der 90er!

Die orale Erkrankungslast von Flüchtlingen entspricht der Situation in Deutschland vor 30 Jahren. Zu dem Ergebnis kommt die repräsentative Querschnittsstudie „Flüchtlinge in Deutschland - Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“ von der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK ), Bundeszahnärztekammer (BZÄK ) und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV).

Insgesamt 544 Flüchtlinge aller Altersgruppen wurden in der von Ende 2016 bis Mitte 2017 durchgeführten Studie erfasst. Die geschätzten Kosten des Behandlungsbedarfs für eine vollständige orale Rehabilitation aller zahnmedizinischen Fachbereiche werden dabei im Mittel je nach Altersgruppe mit 178 bis 1.759 Euro pro Flüchtling beziffert.

Ausgangslage für die multizentrische Studie waren die große Anzahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Europa sowie die insgesamt sehr lückenhafte Datengrundlage zu deren oraler Morbidität. Im Unterschied zu anderen Untersuchungen, die sich auf spezielle orale Erkrankungen in einzelnen Altersgruppen beschränken, werden in der vorliegenden Studie wesentliche Mundgesundheitsprobleme und mögliche Therapiekosten im Alter von 3 bis 65 Jahren erfasst.

5,22 dmft bei den 6- 7-Jährigen

Die deskriptive Auswertung der untersuchten 544 Flüchtlinge aus allen Altersgruppen ergibt eine klare Verteilung der oralen Morbidität. Karies im Milchgebiss ist bei Flüchtlingskindern vergleichsweise hoch:

  • Schon 3-Jährige haben im Mittel 2,62 betroffene Zähne,

  • und im Alter von 6 bis 7 Jahren wird ein mittlerer Wert von 5,22 dmft erreicht.

  • Für die 8- bis 11-Jährigen sinkt der dmft aufgrund des Zahnwechsels leicht auf 3,60.

Die Mehrheit der kariösen Defekte war unbehandelt. Weisen aktuell in Deutschland 80 Prozent der Zwölfjährigen ein naturgesundes bleibendes Gebiss auf (IDZ 2016), sind es unter den gleichaltrigen Geflüchteten nur 35 Prozent. Der Mittelwert der Flüchtlinge von 2,0 DMFT liegt damit um ein Vielfaches über dem deutschen Wert von 0,5 DMFT und entspricht der Kariesprävalenz, die deutsche Jugendliche Mitte der 1990er Jahre aufwiesen (DAJ 2010).

Zwar liegen diese Karieswerte deutlich unter den Maximalwerten von 4 bis 6 betroffenen Zähnen, die in Deutschland in den 1980er Jahren gemessen wurden, dennoch ist bei Flüchtlingskindern insgesamt eine deutliche Präventionslücke gegenüber deutschen Kindern festzustellen.

16,0 DMFT im bleibenden Gebiss

Bei den Jugendlichen und Erwachsenen steigen die Karieswerte im bleibenden Gebiss kontinuierlich an (45 bis 64 Jahre: 16,0 DMFT). Allerdings schließt sich die Differenz der Morbidität im Vergleich mit deutschen Erwachsenen schon ab 35 Jahren. Während die Flüchtlinge im Mittel zwischen 3 bis 4 kariöse Zähne haben und als bisherige Haupttherapie die Extraktion überwiegt, dominiert bei der deutschen Bevölkerung die Sanierung mit Füllungen.

Die ermittelten Karieswerte entsprechen auch den Daten von Studien aus den Heimatländern der Geflüchteten (OHD 2016) und Untersuchungen aus Australien, den USA oder Schweden.

Eher hohe Plaque- und Zahnsteinwerte bei den 45- bis 64-Jährigen

Die Plaque- und Zahnsteinwerte der 45-bis 64-Jährigen waren beim Parodontalen Screening Index (PSI) eher hoch - es fanden sich kaum gesunde Probanden. „Dies ist wegen der schon primär schwierigen Bedingungen in den Heimatländern, der Flucht, den Problemen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und bei den Herausforderungen mit der Etablierung eines geregelten täglichen Lebens nicht verwunderlich“ heißt es in der Studie.

Mehrheitlich lagen allerdings nur eine gingivale Blutung und Zahnstein vor, die den Autoren zufolge durch einfache Maßnahmen der Mundhygieneverbesserung oder professionelle Zahnreinigung leicht zu korrigieren sind. Schwere Parodontopathien waren mit maximal 4,4 Prozent der Gebisssextanten eher selten.

Niedriger prothetischer Versorgungsbedarf

Der prothetische Versorgungsgrad war bezüglich des normativen Bedarfs niedrig, allerdings hatten die 35- bis 44-Jährigen im Mittel mehr Brücken beziehungsweise Teilprothesen als deutsche Gleichaltrige. Vollprothesen waren nur bei 0 bis 4 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge vorhanden, mehrheitlich bei den 45- bis 64-Jährigen und im Oberkiefer. Von den wenigen Senioren 65+ war nur einer auf Totalprothesen angewiesen.

Wie in Deutschland erfüllen ungefähr ein Drittel der geflüchteten Kindern und Jugendlichen die Kriterien der kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Die häufigste Dysgnathie war der einseitige Kreuzbiss.

5 Prozent der Flüchtlinge hatten akute Schmerzen

Akute Schmerzen gaben etwa 5 Prozent der Flüchtlinge zum Zeitpunkt der Untersuchung an - sie hätten im Zuge der Schmerzbehandlung nach §4 AsylbLG therapiert werden können. Die Kosten für mehrheitliche Füllungen oder Extraktionen lagen pro Fall im Mittel zwischen 59 und 297 Euro je nach Altersgruppe. Bei der großen Mehrheit der Flüchtlinge wurde eine zusätzliche, nicht therapierte orale Morbidität ermittelt - vor allem multiple offene kariöse Defekte, die durch Füllungen, Extraktionen und gegebenenfalls auch Wurzelkanalbehandlungen einschließlich Begleitleistungen behandelt werden könnten.

Bei anerkannten Flüchtlingen oder Asylbewerbern könnten diese Therapien im Rahmen der GKV-Regelversorgung erfolgen. Dazu kommen gegebenenfalls kieferorthopädische, prothetische oder parodontologische Behandlungen, die als Therapieplan vorab genehmigt werden müssten.

Allerdings gehen die Autoren davon aus, dass die tatsächliche Inanspruchnahme weit unter dem normativen Bedarf liegt - „wegen der komplexen Beantragung dieser Leistungen, den zahlreichen Anforderungen an die Flüchtlinge bei der Organisation des täglichen Lebens in Deutschland, den Sprachbarrieren, der eher symptombezogenen Inanspruchnahme von zahnärztlichen Behandlungen und dem - zumindest für die Kieferorthopädie - nachgewiesenen geringeren subjektiv empfundenen Behandlungsbedarf bei Flüchtlingen gegenüber europäischen Wohnbevölkerungen“.

„Außerdem bleibt die KFO-Therapie von Flüchtlingen“, heißt es in der Studie, „genau wie prothetische Leistungen, für das erste Jahr nach der Anerkennung verwehrt.“ Unabhängig davon werde auch bei der deutschen Bevölkerung etwa der parodontologische Behandlungsbedarf zu wesentlichen Teilen nicht ausgeschöpft (IDZ 2016).

Fazit: Eine frühzeitige Sanierung ist kostengünstiger!

Die frühzeitige Sanierung kariöser Defekte erscheint kostengünstiger als weitergehende Therapien bei akuten Schmerzen, die Wurzelbehandlungen oder, im Fall der Extraktion, ebenso teuren Zahnersatz zur Folge haben könnten. Die mit den Ergebnissen der Studie zur oralen Morbidität bei Flüchtlingen klarer umschriebenen Herausforderungen, vor denen die deutsche Gesellschaft steht, ließen sich durch die Verantwortlichen in Wissenschaft und Politik relativ leicht beheben. 

Projektleiter Prof. Dr. Christian Splieth, Leiter der Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde von der Universität Greifswald President-elect der Organisation for Caries Research: „Dazu müssten besonders die für die deutsche Bevölkerung vor 30 Jahren eingesetzten, systematisch entwickelten Präventionsstrukturen zur wirksamen Reduktion oraler Erkrankungen auf die Flüchtlinge ausgedehnt werden.“

Mit finanzieller Unterstützung der Wrigley Foundation wurden von Dezember 2016 bis Juli 2017 in zehn deutschen Asylbewerberheimen und Erstaufnahmeunterkünften in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hessen insgesamt 544 Probanden untersucht, die 2015 bis 2017 als Flüchtlinge angenommen wurden, und diese Ergebnisse ausgewertet.

Prof. Dr. Ch. H. Splieth
Dr. M. Takriti
ZA A. Alani

Universitätsmedizin Greifswald
Abt. für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde
Walther-Rathenau-Straße 42 a, 17475 Greifswald
splieth@uni-greifswald.de

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