DMS V

Jüngere Senioren mit Schwerbehinderung

A. Rainer Jordan
2013 war gut die Hälfte der Menschen mit einer schweren Behinderung in Deutschland über 65 Jahre alt. Überwiegend waren die Behinderungen durch Krankheit verursacht. Die bisherige Datenlage zur Mundgesundheit dieser Patientengruppe ist in Deutschland unbefriedigend. Daher lag es nahe, mit einer gesonderten Auswertung der DMS V weitere Informationen zur Mundgesundheit von Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Hier ist das Ergebnis.

Im Jahr 2012 hat das IDZ eine systematische Übersicht zur Mundgesundheit von Menschen mit Behinderungen in Deutschland auf der Grundlage aktueller Einzelstudien vorgelegt (1). Zu dem Zeitpunkt gab es für Deutschland insgesamt acht wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema. Es zeigte sich, dass der zahnmedizinische Gesundheitszustand im Vergleich zur gesamten Bevölkerung hinsichtlich der Karieserfahrung, der Anzahl fehlender Zähne und des zahnmedizinischen Sanierungsgrads schlechter war. Einerseits wurde also deutlich, dass die Mundgesundheit dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung in Deutschland kompromittiert ist; andererseits stellte die Literaturübersicht aber auch klar, dass auf diesem Gebiet ein erheblicher Forschungsbedarf besteht.

Aus diesem Grund wurden diejenigen Studienteilnehmer aus der Altersgruppe der jüngeren Senioren (65- bis 74-Jährige) der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) auf einen möglichen Grad der Behinderung (GdB) hin überprüft und gesondert ausgewertet. Ziel war, die bisherigen Erkenntnisse aus der Literatur zu überprüfen und um weitere Informationen zum Mundgesundheitszustand und zahnmedizinischen Versorgungszustand zu erhalten (2).

Betrachtet wurden dabei Menschen mit einer Schwerbehinderung (GdB 50 Prozent). In der DMS V wiesen 199 der insgesamt 1.042 untersuchten jüngeren Senioren eine Schwerbehinderung auf (19,1 Prozent).

Dabei bestätigte sich die Erkenntnis aus der systematischen Literaturübersicht aus dem Jahr 2012 (Tabelle 1): Jüngere Senioren mit einer Schwerbehinderung haben eine höhere Karieserfahrung als die gesamte Altersgruppe der jüngeren Senioren (+2,2 Zähne), ihre mittlere Anzahl fehlender Zähne war erhöht (+3,4 Zähne) und sie wiesen einen geringeren Sanierungsgrad (-8,9 Prozent) auf.

Fast vier funktionstüchtige Zähne weniger

Der Begriff der Karieserfahrung schließt die Gesamtheit der durch Karies und Kariesfolgen – Füllungen oder andere Restaurationen, Zahnverluste – betroffenen Zähne eines Gebisses ein. Daher lässt sich aus dieser Größe nicht der Sanierungsgrad ermitteln. Um den Anteil der Restaurationen an den Zähnen mit einer Karies(erfahrung) zu bemessen, muss der DMFT-Index in seine Einzelkomponenten aufgelöst werden. Der Sanierungsgrad kann dann nach folgender Formel bestimmt werden: (F/(D + F)x100).

Interessanterweise ist der Sanierungsgrad auch bei Menschen mit einer Schwerbehinderung in ähnlicher Weise sowohl an die soziale Lage als auch an das Inanspruchnahmeverhalten zahnärztlicher Dienstleistungen gekoppelt, wie dies in der gesamten Altersgruppe ebenfalls beobachtet wurde. So war beispielsweise der Sanierungsgrad bei einem kontrollorientierten Inanspruchnahmemuster fast doppelt so hoch (85,0 Prozent) wie bei einem beschwerdeorientierten Verhalten (43,8 Prozent). Aus dem Sanierungsgrad wiederum lässt sich die Anzahl primär gesunder oder restaurierter Zähne, der sogenannte FST-Index, bestimmen, der die Anzahl der funktionstüchtigen Zähne beschreibt. Diese liegt bei 12,6 Zähnen.

Menschen mit einer Schwerbehinderung weisen somit fast 4 (3,8) weniger funktionstüchtige Zähne auf als die Gruppe der jüngeren Senioren insgesamt. Diese Unterschiede wurden jedoch bei der Prävalenz der Wurzelkaries nicht festgestellt (Prävalenz der Wurzelkaries bei jüngeren Senioren gesamt: 28,0 Prozent versus 27,8 Prozent bei Menschen mit Schwerbehinderung).

Als weiterer zentraler Mundgesundheitsmarker gilt neben der Anzahl fehlender Zähne auch der Anteil totaler Zahnlosigkeit in einer Gesellschaft.

Und fast doppelt so häufig zahnlos

In der DMS V waren jüngere Senioren mit einer Schwerbehinderung fast doppelt so häufig zahnlos (22,7 Prozent) wie die jüngeren Senioren als gesamte Altersgruppe (12,4 Prozent) – mit entsprechenden Auswirkungen auf die prothetische Versorgung: Jüngere Senioren mit Schwerbehinderung sind häufiger mit abnehmbarem Zahnersatz versorgt. Im Oberkiefer war fast jeder zweite jüngere Senior mit einer Schwerbehinderung totalprothetisch versorgt. Die zweithäufigste Form des abnehmbaren Zahnersatzes bei jüngeren Senioren mit Schwerbehinderung war im Oberkiefer der kombiniert-festsitzende Zahnersatz, im Unterkiefer war dies die häufigste Versorgungsform. Auf der anderen Seite waren Kunststoffteilprothesen (mit handgebogenen, weniger stabilen Klammern) bei Menschen mit Schwerbehinderung sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer erkennbar häufiger anzutreffen, wohingegen der Anteil von Modellgussprothesen (mit gegossenen, stabileren Klammern) bei den Prothesenträgern in der Altersgruppe der jüngeren Senioren häufiger vorzufinden waren.

Bei der Beurteilung der parodontalen Gesundheit müssen wir berücksichtigen, dass zum einen deutlich mehr jüngere Senioren mit Schwerbehinderung komplett zahnlos waren und dass zum anderen die bezahnten jüngeren Senioren mit Schwerbehinderung durchschnittlich weniger Zähne besaßen als die gesamte Altersgruppe. Insofern lagen hier weniger „teeth at risk“ für eine Parodontalerkrankung vor. Dennoch lag der Umfang der Zahnfleischentzündung gemessen am Index Bleeding on Probing (BOP) höher als in der gesamten Altersgruppe (43,1 Prozent versus 37,6 Prozent). Bei den zentralen parodontalen Erkrankungsmarkern stellten wir hingegen keine systematischen Unterschiede fest (Tabelle 2).

Insgesamt stellt sich die Mundgesundheit jüngerer Senioren mit einer schweren Behinderung in Deutschland schlechter dar als in der gesamten Altersgruppe. Die zentralen Unterschiede bei der Karieserfahrung, bei Zahnverlusten und bei totaler Zahnlosigkeit sind jedoch kein Spezifikum hierzulande, denn vergleichbare soziale Ungleichheiten wurden auch aus den Vereinigten Staaten berichtet (3).

Demgegenüber zeigte die DMS V beim persönlichen Vorsorgeverhalten keine größeren Unterschiede: Sowohl die jüngeren Senioren als auch jene mit Schwerbehinderungen gaben an, zu rund 90 Prozent den Zahnarzt kontrollorientiert in Anspruch zu nehmen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die gefundenen Ergebnisse eher eine konservative Schätzung darstellen. Die „wahren“ epidemiologischen Kennziffern von Menschen mit Schwerbehinderungen dürften wohl etwas höher liegen, da davon auszugehen ist, dass Menschen mit schwersten Behinderungen weniger häufig an der Studie teilgenommen haben. Bei Schwerstbehinderung jedoch ist die zahnmedizinische funktionelle Kapazität im Sinne der Therapiefähigkeit, der Mundhygienefähigkeit und der Eigenverantwortlichkeit sicher geringer ausgeprägt als dies bei nur leichten Behinderungen zu erwarten ist (4).

Diese Limitationen jedoch sind sowohl bei Therapieentscheidungen zu berücksichtigen und können mitunter durch verstärkte Präventionsbemühungen bei dieser vulnerablen Patientengruppe zumindest teilweise kompensiert werden.

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PD Dr. med. dent. A. Rainer Jordan, MSc., ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ), Universitätsstr. 73, in 50931 Köln.

Literatur

1. Schulte AG: Systematisches Review zur Frage  der Mundgesundheit und des zahnmedizinischen  Versorgungsgrades bei Menschen mit Behinderungen in Deutschland. In: Nitschke I, Schulte AG. Zur Mundgesundheit von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen in Deutschland – eine systematische Übersicht  (Review) auf der Grundlage aktueller Einzelstudien (2000–2012). IDZ-Information 3/2012. Köln: IDZ, Institut der Deutschen Zahnärzte; 2012.

2. Nitschke I, Jordan AR: Krankheits- und Versor-gungsprävalenzen bei Jüngeren Senioren mit  Schwerbehinderung. In: Jordan AR, Micheelis W. Fünf-te Deutsche Mund gesundheitsstudie (DMS V). IDZ-Materialienreihe Band 35. Köln: Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV; 2016.

3. Morgan JP, Minihan PM, Stark PC, Finkelman MD, Yantsides KE, Park A, et al.: The oral health status  of 4,732 adults with intellectual and developmental disabilities. J Am Dent Assoc. 2012;143(8):838–46.

4. Nitschke I, Kunze J, Hopfenmüller W, Reiber T:  Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität –  ein Instrument in der Gerostomatologie.  Quintessenz. 2012;63(2):207–10.

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Prof. Dr. med. dent., MSc A. Rainer Jordan

Wissenschaftlicher Direktor IDZ
Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)
Universitätsstraße 73,
D-50931 Köln

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