Alloplastischer Kiefergelenkersatz bei rheumatoider Erkrankung
Bei einer 54-jährigen Patientin wurde zwei Jahre vor der Erstvorstellung in unserer MKG-Klinik eine chronisch rheumatoide Arthritis diagnostiziert. Nachdem der Rheumatologe die Diagnose gestellt hatte, bestand die Notwendigkeit einer ausgeprägten prothetischen Zahnsanierung durch den Hauszahnarzt. Etwa sechs Monate nach Fertigstellung beklagte die Patientin einen nicht gut sitzenden Zahnersatz mit der Entwicklung eines offenen Bisses (Abbildungen 1a und 1b).
Zu diesem Zeitpunkt bemerkte sie auch eine deutliche Veränderung ihrer Aussprache. Der behandelnde Zahnarzt über‧wies die Patientin zur Konsiliardiagnostik (CT und MRT) und -behandlung in unsere fachspezifische kieferchirurgische Klinik.
Bei der Vorstellung zeigten sich primäre Symptome einer neuerlich aufgetretenen Störung der Abbeißfunktion mit offenem Biss sowie eine Non-Okklusion im Seiten- und im Frontzahnbereich. Eine habituelle Okklusion war demzufolge nicht möglich. Anamnestisch beschrieb die Patientin ein eigenartiges Kaugefühl mit knirschenden Geräuschen in beiden Kiefergelenken. Die Mundöffnung war uneingeschränkt möglich, die Schneidekantendistanz (SKD) betrug 25 mm. Weder lagen funktionell weitere Einschränkungen vor, noch kam es zu sensiblen Ausfällen. Die Patientin zeigte eine äußerst gute Mundhygiene ohne jegliche Art von Belägen. Das Gebiss war kariesfrei und das Parodontium klinisch reizlos. Ein chirurgischer Eingriff im Kopf-Hals-Bereich war bislang nicht erfolgt.
Bereits bestehenden Gelenkveränderungen in Hüfte und Knien
Aufgrund von bereits bestehenden Gelenkveränderungen in Hüfte und Knien lag eine Methotrexat-Dauermedikation (Analogon der Folsäure) bei rheumatoider Arthritis vor. Es erfolgten konservative und minimal-‧invasive kieferchirurgische Therapien, die die Beschwerdesymptomatik am Kiefergelenk jedoch nicht verbesserten.
Die Patientin entschied sich im Endstadium ihrer Kiefergelenkerkrankung und nach differenzialtherapeutischer Aufklärung durch die behandelnden Ärzte für eine Rekonstruktion beider Kiefergelenke, um wieder eine normale Kaufunktion herzustellen.
Die erforderliche detaillierte Diagnostik zur knöchernen Darstellung erfolgte mittels Zentriksplintgesicherter Computertomografie (Abbildung 2a), so dass neben der Diagnostik auch eine dreidimensionale Planung möglich war. Die Auswertung und die präoperative Planung erfolgten mit der Analyse-Software von 3-D-Systems© und in enger Zusammen‧arbeit mit der Firma BIOMET©.
Im ersten Schritt wurde zunächst die Okklusion virtuell wiederhergestellt (Abbildung 2b), anschließend konnte das bilateral zu resezierende knöcherne Gewebe markiert und bestimmt werden (Abbildung 2c).
Auf dieser Basis erfolgte die Erstellung einer Totalendoprothese im patientenindividuellen Design (Abbildung 2d). Daraufhin wurden virtuell die Cutting-Guides für den Unter‧kiefer geplant. Anschließend wurde beidseits die Implantation der Kiefergelenk-‧Totalendoprothese (CAD/CAM-gefertigte Komponenten, Biomet-System©) vorgenommen. Abbildung 3 demonstriert das chirurgische Vorgehen.
Der ursprüngliche Überbiss konnte so wiederhergestellt und bereits zwei Wochen nach der Operation eine maximale SKD von 40 mm bei regelrechter Okklusion erreicht werden. Nach einer kurzen stationären Überwachung konnte die Patientin in die ambulante Nachsorge übergeben werden.
Alle physiologischen Bewegungen möglich
Bei einem inzwischen fünfjährigen Nachsorgeintervall ist sie beschwerdefrei und vollkommen uneingeschränkt in der Nahrungsaufnahme (Abbildungen 4a und 4b). Alle physiologischen Bewegungen einschließlich der Laterotrusionsbewegung des Unterkiefers sind möglich.
Oftmals wird der Sammelbegriff der kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) für Pathologien im Bereich der Kiefergelenk‧region verwendet. Zielorientiert sollte jedoch zwischen Funktionsstörungen und Erkrankungen des Kiefergelenks (beziehungsweise des Kauapparats) unterschieden werden. Zu den Funktionsstörungen zählen muskuläre Hyperaktivitäten, Diskuspatho‧logien (wie Verlagerung, Perforation, Prolaps), eine kondyläre Hypermobilität oder degenerative Gelenkveränderungen. Der Gruppe der Kiefergelenkerkrankungen hingegen gehören beispielsweise Tumor‧erkrankungen, die Ankylose (zum Beispiel nach Trauma) oder chronisch-entzündliche Erkrankungen an [Teschke & Reich, 2015].
Im Allgemeinen zählen zu den rheumatoiden Erkrankungen der Morbus Bechterew, die Psoriasis-Athropathie und die rheumatoide Arthritis (RA) [Sidebottom, 2013].
Die RA ist eine Autoimmunerkrankung und geht mit einer persistierenden Entzündung der Synovia einher, die letztendlich zu einem chronischen Konglomerat aus fibrosiertem Granulationsgewebe mit freien Nerven‧endigungen (Pannus) [Manfredini et al., 2011; Teschke & Reich, 2015] führt. Die Prävalenz der RA liegt bei einem Prozent weltweit und betrifft Frauen häufiger (3:1) als Männer. Der Erkrankungsgipfel findet sich im Alter von 35 bis 45 Jahren [Ruparelia et al., 2014].
Fazit
Der klinische Verlauf variiert von mildem Gelenkdiskomfort mit kurzer Dauer bis hin zu einer stark schmerzenden, chronischen Polyarthritis mit groben Missbildungen der Gelenke und begleitender Schwellung [Ruparelia et al., 2014]. Die chronische Entzündung kann zu einem Verlust des Knorpels, zu Erosionen und zur Schwächung der Knochen und Muskeln führen, die sich in Missbildungen, Zerstörung und Verlust der Funktion manifestieren [Sidebottom, 2013; Ruparelia et al., 2014]. Daraus entstehen ein retrusives Kinn und eine Verkürzung des Ramus und/oder Kondylus, was in der Konsequenz – wie im vorliegenden Fallbeispiel – zu einem anterioren offenen Biss oder einem Frühkontakt der erkrankten Seite im Molarenbereich führt. Typische gemeinsame Symptome sind in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Gelenkempfindlichkeit (70 Prozent), Gelenkkrepitationen (65 Prozent), Schmerzen bei Unterkieferbewegung (60 Prozent) sowie eine eingeschränkte Mundöffnung [Franks, 1969; Gynther & Tronje, 1998].
Patienten im Endstadium einer Gelenkerkrankung sind prädestiniert für chirurgische Rekonstruktionen des Kiefergelenks zur Wiederherstellung der normalen Kieferbewegung, zur Schmerzlinderung und zur Verbesserung der Lebensqualität [Celebi et al., 2011; Alakailly et al., 2017].
Die Literatur empfiehlt bei therapieresistenten Patienten mit ausgewachsenem Skelett einen alloplastischen Kiefergelenkersatz mit Totalendoprothesen [Sanovich et al., 2014]. Als Kiefergelenkersatz haben sich Systeme mit vorgefertigten Komponenten („stock“) und patientenindividuellem Design auf Computertomografie-Basis („Custom made“) – wie im vorliegenden Fall – etabliert.
Unter genauer Betrachtung der Indikationen (respektive Kontraindikationen) weist ins‧besondere die neue patientenindividuelle Prothesengeneration eine biologische Unbedenklichkeit auf. Sie ermöglicht eine funktionelle Rehabilitation, steigert erheblich die Lebensqualität der Patienten und erweitert schließlich die Therapieoptionen bei Kiefergelenkerkrankung [Mercuri et al., 2007; Linsen et al., 2012; Mercuri, 2013; Linsen et al., 2013]. Somit verschiebt sich die Indikation hin zur früheren Therapie und weg vom Endstadium einer Ankylose.
Analog zum Fallbeispiel zeigt sich der totale alloplastische Kiefergelenkersatz bei irreversiblen Pathologien als eine verlässliche Behandlungsoption. Sowohl die vorgefertigte Komponente als auch die patientenindividuelle Prothese besteht obligat aus zwei Komponenten, einem der Gelenkpfanne entsprechendem Gehäuse und einer Art Osteosyntheseplatte mit Aufsatz, der dem Gelenkkopf und gegebenenfalls dem Gelenkfortsatz gleicht [Cornelius et al., 2013].
Auch wenn im Vergleich zur autologen Transplantation die Komplikationsraten beim alloplastischen Kiefergelenkersatz deutlich niedriger liegen, werden Misserfolgsraten beschrieben. Eingriffspezifisch beschreibt die Literatur eine Fazialisschwäche in 42 Prozent der Fälle, wobei diese meist temporär ist. Fazialisparesen betreffen drei Prozent aller Patienten. Im Verhältnis dazu treten Infektionen deutlich seltener auf [Idle et al., 2014]. Im Endstadium einer Kiefergelenk‧erkrankung liegen nur wenige Kontraindikationen für alloplastischen Kiefergelenkersatz vor. Dazu zählen aktive lokale Infektionen im Empfängerareal oder Strahlenreaktionen [Neff, 2015].
Nach Sanierung des Empfängerlagers kann jedoch auch hier ein alloplastischer Ersatz implantiert werden. Als relative Kontraindikation kann eine Autoimmunerkrankung angesehen werden, wobei unter entsprechender kurzfristiger Medikationsanpassung auch in diesem Fall ein Kiefergelenkersatz mit einem nur geringfügig erhöhten Risiko durchgeführt werden kann. Laut britischem Konsensus (zurzeit liegt keine aktuelle deutsche Leitlinie vor) ist eine vorherige Zahnsanierung durchzuführen, bei der parodontal oder apikal gänzlich kompromittierte Zähne zu entfernen sind, um eine ansonsten signifikant gesteigerte Komplikationsrate zu senken. Als Empfehlung wird für die Beobachtungsdauer von mindestens zwei Jahren nach einem Kiefergelenkersatz eine postoperative Antibiotikaprophylaxe bei invasiven zahnärztlichen Eingriffen (beispielsweise Extraktionen) ausgesprochen [Mercuri, 2012; Neff, 2015].
Fazit für die Praxis
Die rheumatoide Arthritis ist eine Autoimmunerkrankung und kann im klinischen Verlauf von mildem Gelenkdiskomfort mit kurzer Dauer bis hin zu einer chronischen, stark schmerzenden Polyarthritis mit groben Missbildungen der Gelenke variieren.
Patienten im Endstadium einer rheumatoiden Arthritis eignen sich zur chirurgischen Rekonstruktion des Kiefergelenks, um wieder eine schmerzfreie Mundöffnung und eine verbesserte Lebensqualität zu erlangen.
Zweifelsfrei setzt die Rekonstruktion des Kiefergelenks mit der komplexen anatomischen Struktur selbst bei idealen Voraussetzungen ein hohes Maß an Präzision für den Operateur voraus. Eine zuverlässige Hilfestellung bietet heute die präoperative, virtuelle, dreidimensionale Planung mit einem Zentrik-gesicherten Splint.
Dadurch gelingt eine präzise Rekonstruktion, weshalb sich die Indikation von der Ankylose (0 mm SKD) aktuell zur eingeschränkten Funktion verschoben hat.
Die korrekte Indikationsstellung und die ideale präoperative Planung sind die ausschlaggebenden Kriterien für ein postoperativ erfolgreiches Ergebnis.
Zahnsanierungen sind im Vorfeld einer Kiefergelenkoperation durch den Hauszahnarzt durchzuführen.
Nach einem Kiefergelenkersatz sollte bei invasiven Zahneingriffen eine Antibiotikaprophylaxe erfolgen.
Dr. Dr. Daniel Schneider
Jana Mielke
Prof. Dr. Dr. Reinhard Bschorer
Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Helios Kliniken Schwerin
Wismarsche Str. 393–397, 19049 Schwerin
daniel.schneider2@helios-kliniken.de
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer MA, FEBOMFS
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Universitätsmedizin Rostock
Schillingallee 35, 18057 Rostock
peer.kaemmerer@uni-rostock.de
Literaturliste
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