Aufsuchende Alterszahnheilkunde

Wie viel mobile Prothetik ist möglich?

Dirk Bleiel
Aufsuchend tätige Zahnmediziner sind ein Glück für alle Patienten, die nicht in die Praxis kommen können. Gerade die Prothetik scheint mit Blick auf das mögliche Behandlungsspektrum unter provisorischen Bedingungen allerdings zunächst schwer umsetzbar. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, welche prothetischen Maßnahmen sich außerhalb der Praxis durchführen lassen.

Der zahnmedizinische Behandlungsbedarf nimmt im Alter scheinbar ab. Zumindest ist die Inanspruchnahme von BEMA-Leistungen ab dem 70. Lebensjahr stark rückläufig – und das bei allen Senioren, mit oder ohne Pflegegrad [Rothgang, 2014]. Zahlreiche Studien zeigen jedoch unbestritten einen großen Handlungsbedarf [Nitschke, 1996; Benz, 2010; Stark, 1992]. Wie ist das zu erklären?

Im Alter ist die Mobilität zunehmend eingeschränkt, die Zahngesundheit steht weniger im Fokus und ein Besuch in der Praxis ist nur schwer oder gar nicht mehr möglich. Hieraus ergibt sich die große Diskrepanz zwischen dem hohen Bedarf und der nur geringen Inanspruchnahme einer zahnärztlichen Behandlung. Beim Zahnersatz sieht es nicht anders aus. Senioren mit 77 Jahren haben den höchsten Zahnersatzbedarf [Schäfer, 2013].

Gleichzeitig sind in der stationären Pflege 65 Prozent der prothetischen Versorgungen mängelbehaftet [Nitschke, 2000]. Damit ergeben in deutschen Heimen mindestens eine halbe Millionen Prothesen mit Therapiebedarf: schlechter Halt, ein abgesenkter Biss und Reparaturbedürftigkeit vom Sprung oder Bruch bis zur Klammerreparatur [Manojlovic, 2010].

Therapeutikaauswahl zur Konditionierung von Prothesen

  • Weichbleibende Unterfütterung: (Mollosil plus, Detax)

  • Candida-Infektion: (Amphomoronal Suspension, Daktar Mundgel unter die Prothese, Multilind für die Mundwinkel)

  • Prothesen-Stomatitis: (Chlorhexamed Gel 1%)

  • Xerostomie: (Saliva natura Sray, Biotene oralbalance Gel)

  • Aphthen, Oraler Lichen: (Kortisonhaltige Präparate)

Bevor die Behandlung außerhalb der Praxis startet, sollte gründlich geplant und gepackt werden. Nichts ist nerviger, als wenn zum Beispiel Fräsen vergessen wurden und eine Druckstelle nicht beseitigt werden kann. Praktisch ist, für jeden geplanten Behandlungsfall eine Inventarliste zu erstellen und alles Benötigte in eine Tasche – in Form einer Labortüte, besser noch einer verschweißten Sterilguttüte – zu packen. Der Vorteil: Instrumentarium und Material sind jeweils für einen Patientenfall verpackt und die RKI-Richtlinien werden berücksichtigt.

Als Transportmittel haben sich stapelbare Plastik-Container-Systeme durchgesetzt (zum Beispiel Systainer der Firma Tanos), die gut flächendesinfizierbar und in „rein“ und „unrein“ oder Abwurfcontainer getrennt werden können. Man sollte sich immer darüber im Klaren sein, dass bei der mobilen Therapie „keine mildernden Umstände“ und hinsichtlich der Hygiene dieselben Anforderungen wie in der Praxis gelten.

Kritiker der mobilen Therapie bezweifeln regelmäßig die „Hygienefähigkeit“. Zweifellos gibt es vergleichbare Einsätze in der Notfallmedizin: hygienisch machbar und alternativlos. Teamwerk in München hat mobile zahnmedizinische Behandlungspfade vom Referat Gesundheit und Umwelt (RGO), Abteilung Krankenhaushygiene, begleiten lassen. Dabei erschien mit klaren, machbaren Vorgaben – ähnlich wie in der Praxis – die aufsuchende Betreuung hygienisch darstellbar [Gleich, 2009].

Manche Therapien muss man „modifizieren“

Regelmäßig erscheint die mobile Behandlung konzeptlos und unorganisiert. Gerade wenn Zähne vorhanden sind, ergibt sich regelmäßig ein therapeutisch schwer zu fassendes Bild. Viele Faktoren spielen hier bei der Therapiewahl eine Rolle: In welchem Stadium befindet sich der Patient? Ist ein Transport in die Praxis möglich?

Aufwendige Restaurationen, Präparationen und damit lange Behandlungssitzungen erfordern eine stabile Compliance und eine ausreichende Belastbarkeit des Patienten. Ist das dem Patienten zuzumuten, ist in aller Regel auch ein Transport in die Praxis machbar. Die Herstellung von Kronen und Brücken oder neuem Kombinationszahnersatz wie Teleskopprothesen bleibt eher die Ausnahme.

Vor Ort sollte die Therapie vom Grundsatz her sicher, einfach und solide sein. Es bleibt ein modifizierter Behandlungsplan unter Berücksichtigung der praktischen, klinischen und akademischen Behandlungsplanung [Riesen, 2002]. Regelmäßig stößt man dabei an seine persönliche Grenze und sollte sich stets fragen, was besser in der Praxis oder sogar in Intubationsnarkose erfolgt.

Wiederherstellungsmaßnahmen vorhandener Prothesen:
Zur mobilen zahnmedizinischen Routine sollten in erster Linie Wiederherstellungsmaßnahmen des vorhandenen prothetischen Ersatzes gehören. Dazu zählen Unterfütterungen, Reparaturen oder Erweiterungen. So reicht zum Beispiel ein akkubetriebener Elektromotor mit Universalkupplung mit Handstück und Fräse aus, um Druckstellen zu beseitigen. Moderne Silikone in Mischpistolen mit Universalkolben machen Spatel und Anmischblock überflüssig. Silikone sollten dabei gleichzeitig für funktionelle Ausformungen, Überabformungen und Bissregistrate geeignet sein. Oft kann auf einen klassischen Alginat-Abdruck verzichten werden, mühsame Anmischvorgänge bleiben dann erspart.

Verbesserung der Hygienefähigkeit des vorhandenen Zahnersatzes:
Die Ausarbeitung der Prothesen muss besonders bei Senioren unter dem Aspekt der Hygienefähigkeit erfolgen. Dafür sollten im Seitenzahnbereich die Übergänge zwischen Zahn und Prothesenkunststoff mit transparentem Kunststoff überzogen werden, so dass auch manuell eingeschränkte Patienten die konvexen Flächen effizient reinigen können [Nitschke, 2010]. Bei der Reparatur von vorhandenem Zahnersatz sollte gleichzeitig eine der Pflegebedürftigkeit angepasste Umgestaltung vorgenommen werden.

Prothesenbeschriftung:
Zusätzlich ergibt sich die Möglichkeit zur Beschriftung der Prothesen, um auch dem zahnmedizinischen Laien eine Zuordnung im Heim zu ermöglichen. Im zahntechnischen Labor können hierzu in eingefräste Vertiefungen Folienschriftzüge mittels Klarsichtkunststoff eingekaltet werden.

Verbessertes Prothesenhandling:
Mit nachlassender Mobilität und Geschicklichkeit des Patienten kann das Herausnehmen von Kombinationszahnersatz den Träger herausfordern. Auch Pflegekräfte und Angehörige tun sich schwer, den Zahnersatz aus dem Mund zu lösen. Komplizierte Riegelarbeiten und schwergängige Teleskopversorgungen sollten umgearbeitet werden: zum Beispiel durch Ausschleifen der Außenteleskope zur Retensionsverminderung, durch Anbringen von Metallknöpfen oder durch nachträglich angebrachte Kerben auf der Vestibulärfläche in Höhe der Prämolaren. Auch Prothesenabzieher haben sich hier bewährt.

Doublierverfahren:
Mit zunehmendem Alter und eingeschränkter Kognition ist die Adaptionsfähigkeit deutlich verringert. In der Regel sind Veränderungen unbeliebt und damit Neuanfertigungen schwierig – wenn nicht sogar von vornherein zum Scheitern verurteilt. Neuer Zahnersatz verbleibt in der Schublade und wird nicht getragen. Doch nach jahrzehntelanger Tragedauer des alten Zahnersatzes können Kunststoff und Prothesenzähne bekanntlich extrem spröde und ausgeblichen sein. Ist die Prothese aber noch funktionstüchtig, kann eine Dublette hergestellt werden. Mit dem Duplikat-Prothesenverfahren können gewohnte Eigenschaften der alten Prothese auf eine Neuversorgung übertragen werden, so dass die vorhandenen Kau- und Bewegungsmuster weitgehend übernommen werden können [Müller, 2005].

Verfahrenstechnisch werden dabei mit einer äußeren und einer inneren Mantelabformung aus Silikon sowohl die Oberfläche der alten Prothese als auch ihre Relation erfasst und schrittweise in eine Neuversorgung überführt [Nitschke, 2004].

Prothesenlager-Konditionierung:

Einer der häufigsten Gründe für einen Besuch auf Anforderung sowohl in der häuslichen als auch in der institutionellen Pflege ist das Auftreten von (rezidivierenden und multiplen) Druckstellen. Kausal ergeben sich dabei Passungenauigkeiten der Basis, aber auch Okklusions- oder Artikulationshindernisse.

Beides sollte überprüft werden. Damit vergesellschaftet ist oft eine Prothesenstomatitis oder eine Pilzerkrankung.

Obwohl eine Candida-Infektion oft diagnostisch sofort ins Auge fällt, sind differenzial-diagnostisch auch andere Krankheitsbilder möglich. Klarheit liefert eine einfache Bürstenbiopsie, die auch im Rahmen des BEMA angesetzt wird.

Zusätzlich kann auch die weichbleibende Unterfütterung, die oft polypharmazeutisch stark gestressten, Pergament-dünnen und trockenen Schleimhäute entlasten. Diese Maßnahmen sollten jedoch nur temporär zur Heilung des Prothesenlagers dienen, da die Hygienefähigkeit des weichen Materials langfristig ungünstig ist. Eine Wiederholung kann in Ausnahmefällen jedoch durchaus sinnvoll sein.

Immediatprothetik:
Wenn nach dem akademischen oder dem klinischen Behandlungsplan multiple Extraktionen notwendig   werden, aber aufgrund des allgemeinmedizinischen Zustands des Patienten nicht möglich sind, stehen viele Behandler vor einem Problem.

Viele vollbezahnte Patienten weisen im fortgeschrittenen Pflegefall einen für sie überraschenden, derart desolaten Gebisszustand auf, dass viele Zähne entfernt werden müssen und keine festsitzende Versorgung mehr möglich ist. Eine gingivale Lagerung mit Abdeckung großer Schleimhautareale wird notwendig. Kann sich der Patient bei nachlassender Adaptationsfähigkeit überhaupt an diese massive Umstellung gewöhnen? Eine einfache und kostengünstige „Prothese auf Probe“ ist hier eine Option:

Die zu extrahierenden Zähne werden äquigingival dekaptiert und – wenn notwendig – mit einer temporären langzeitmedikamentösen Einlage versorgt. Mit einer Überabformung wird eine Cover-Denture-Prothese im klassischen Sinne angefertigt und die vorhandenen Wurzelreste werden übergangsweise belassen und abgedeckt. Dabei kann die Adaptionsfähigkeit der gingivalen Lagerung getestet werden und gleichzeitig dient die prothetische Abdeckung als Verbandsplatte für ein mögliches späteres chirurgisches Vorgehen in der Praxis. Ein Aufbau oder eine Aufwertung der Prothese zum Beispiel mit Halteelementen oder Doppelkronen ist zu einem späteren Zeitpunkt immer noch möglich, wenn der medizinische Allgemeinzustand des Patienten dies zulässt.

Prothesenkarenz:

Angehörige legen oft sehr großen Wert darauf, dass Prothesen getragen werden, um den Anblick der eingefallenen Weichgewebsstrukturen zu vermeiden. Bei hochgradiger Demenz oder im palliativen Endstadium der Pflege kann es sich für Patienten aber als kontraproduktiv erweisen, Zahnersatz zu tragen. Für viele Schwerstpflegebedürftige wird es gar zur Qual. Übermäßig viel aufgetragene Haftcreme, ein nachlassender Muskeltonus und Mundtrockenheit erschweren den Halt der Prothesen.

Pflegekräfte berichten, dass die Nahrungsanreichung in diesen Fällen ohne Zahnersatz einfacher, schneller und oft sogar unpüriert möglich ist. Dann scheint neben der nächtlich geforderten Prothesenkarenz (Ausnahme Teleskopprothesen) auch tagsüber eine Prothesenabstinenz sinnvoll zu sein. Und nicht jeder Zahn muss immer ersetzt werden. Weniger Schleimhautabdeckung und weniger Tragedauer können hier wohltuend sein – gerade symptomatische, erleichternde Ansätze stehen dabei im Fokus.

Nötiges Material

  • Kunststoffcontainer zum Transport und Aufbewahrung

  • Patientenumhang, Handtuch

  • Portabler eBite-Lichtkeil

  • Aufbisskeil

  • Spiegel, Sonde, Pinzette

  • Nierenschale aus Hartpappe

  • tragbarer Mikromotor mit Universalkupplung, Technikhandstück, Fräsen, Gummi- und Silikonpolierer

  • Universalmischpistole zum Gebrauch von Standardkartuschen

  • Bürstenbiopsie

In diesem Zusammenhang sei hier auch das Konzept der verkürzten Zahnreihe erwähnt [Walter, 2016]. So ist eine Extraktion der oft schwer zu reinigenden Molaren ohne weiteren Ersatz bei entsprechender Indikation durchaus sinnvoll.

Prothesenhygiene entscheidend:
Alle prothetischen Maßnahmen unabhängig von der Belastbarkeit und dem Pflegegrad der Senioren müssen in ein Konzept der Mund- und Prothesenhygiene eingebettet sein. Selbst bei Prothesen, die unter  gerontologischen Gesichtspunkten optimal hygienisch gestaltet sind, verbleibt am Zahnersatz eine massive Keimbelastung – insbesondere an der der Schleimhaut zugewandten Seite .

Viele Pflegekräfte und Angehörige sind überfordert und oft unwissend. Sie haben Scheu, die Prothesen aus dem Mund zu nehmen und fürchten die Patienten zu verletzen. Oft besteht hier ein mangelndes Problembewusstsein. Bei der Fülle der Aufgaben und der Belastung gerade bei schwerwiegenden Pflegefällen erscheint die Mundhygiene verständlicherweise marginal.

Zusammenhänge zur Allgemeingesundheit sind darzustellen, aber auch der deutliche Benefit an konkreten Beispielen: Bei passendem Zahnersatz und einer schmerzfreien Mundhöhle lässt sich die Nahrung schneller anreichen, so dass letztlich mehr Zeit für die Pflege gewonnen wird.

Mit welchen Handgriffen und welchen Hilfsmitteln wird die Mund- und Prothesenhygiene bei demenziell veränderten Pflegebedürftigen machbar? Oft wird die Machbarkeit bestritten und ein Versuch mit „Gewalt in der Pflege“ betitelt, so dass hier einfühlsam, aber bestimmt Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.

Fazit

Zweifelsohne bleibt es mühsam, den Koffer zu packen, zu planen und unter Campingbedingungen zu therapieren [Bleiel, 2016]. Es stellt aber auch eine charmante Abwechslung zum täglichen Praxisalltag dar. Hausbesuche sind sehr nah an unserem Berufsbild: Hier kann oft mit einfachen Mitteln nicht nur prothetisch viel Gutes getan werden.

Dr. Dirk Bleiel, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für AlterszahnMedizin (DGAZ)Im Sand 1, 53619 Rheinbreitbach

Dr. Dirk Bleiel

Dr. Bleiel Zahnärzte
Im Sand 1,
53619 Rheinbreitbach

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