Was mittelalterliche Zähne erzählen
Bei den gut 110 Individuen, deren Skelettreste im Verlauf der letzten 120 Jahre bislang auf dem Klosterareal geborgen und untersucht wurden, geben die Zähne mit die besten Hinweise darauf, wie die Menschen damals gelebt haben:
Zahnerkrankungen zählen neben Abnutzungen an den Gelenkflächen – hier insbesondere im Bereich der Wirbelsäule und im Lendenwirbelbereich – zu den häufigsten Krankheiten, die man anhand der Überreste feststellen konnte.
Dabei zeigen die Zähne eine massive Zunahme der Karies, nachdem die Menschen – in Mitteleuropa ab etwa 5.500 vor Christus – sesshaft wurden und ihre Ernährung auf eine kohlehydratreiche Kost umstellten. Ein weiterer, wenn auch in der Kulturgeschichte stark variierender Faktor, ist die Mundhygiene, die vor allem im Mittelalter und der frühen Neuzeit kaum eine Rolle spielte. Die teilweise massiv auftretenden Konkremente deuten auf fehlende Zahnpflege hin.
Seit 5.500 v. Chr. boomt Karies
Die Folge sind neben kariösen Defekten, unter denen die meisten Männer und Frauen litten und die häufig den einzelnen Zahn vollständig zerstörten, auch Parodonto- patien, Entzündungen an der Wurzelspitze (Zysten) oder sogar Abszesse, die wiederum zu einer Zersetzung des Kieferknochens und des Zahnhalteapparats führten. Gerade bei Menschen über 40 ist demnach häufig ein Zahnverlust dokumentiert, der vor allem die Molaren betrifft. Doch litten selbst junge Menschen unter Zahnausfall.
Schmelzhypoplasien nähren den Verdacht, dass einige Menschen im Kindesalter zwischen eineinhalb und fünf Jahren unterversorgt gewesen sein müssen. Allerdings sind die Gründe für diese Veränderungen im Zahnschmelz vielfältig – sie reichen von Mangelernährung bis hin zu Parasitenbefall oder längeren Krankheitsphasen.
Auch die gelegentlich an kindlichen Skeletten feststellbare siebartige Durchbrechung des Dachs der Augenhöhlen, die sogenannte Cribra orbitalia, kann nicht alleine auf Eisenmangel zurückgeführt werden. Da die Untersuchungen zeitaufwendig und die Analysen noch nicht abgeschlossen sind, können die Forscher weitere Aussagen zum Ernährungszustand derzeit nur eingeschränkt treffen. An den Skelettresten lassen sich jedoch keine eindeutigen Hinweise auf eine Mangel- oder Fehlernährung erkennen. Insgesamt geht man von einer durchschnittlichen bis guten Versorgung der im Kloster Lorsch bestatteten Menschen aus.
Bei der Altersbestimmung wird zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen differenziert, indem der Verwachsungszustand der Gelenkbereiche und der Zahndurchbruch bestimmt wird.
Bei Erwachsenen kann man das biologische Alter nur zuverlässig innerhalb von Zehn-Jahres-Schritten ausweisen. Beurteilt werden dabei unter anderem der Verschluss der großen Schädelnähte, die Veränderung der Gelenkflächen am Becken, Schlüsselbein und Rippen sowie der Abschliff der Zähne.
Ausgrabungen in Lorsch
Was die Funde uns sagen
Das vor über 1.250 Jahren erbaute Kloster Lorsch in Hessen ist heute Weltkulturerbestätte der Unesco. Erste Raubgrabungen brachten bereits um 1800 menschliche Überreste und mehrere Steinsarkophage auf dem ehemaligen Klostergelände zum Vorschein. 2016 haben Forscher dort rund 110 menschliche Skelette naturwissenschaftlich-anthropologisch untersucht, deren Reste im Verlauf der letzten 120 Jahre bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Klosterareal geborgen wurden. Sie erhoffen sich genauere Erkenntnisse über die körperlichen Leiden und die Lebensumstände der mittelalterlichen Menschen im Kloster: Wie alt wurden die Bewohner der Abtei? An welchen Krankheiten litten sie? Welche Spuren von Verletzungen und Arbeitsbelastungen finden sich? Aus welchen Regionen kamen die Menschen nach Lorsch? Was aßen sie? Wie sahen die Menschen aus?
Bei Kindern unterliegt das Wachstum einer gewissen Variabilität – zum Beispiel bricht der bleibende Molar bekanntlich in der Regel im Alter von sechs Jahren durch, manchmal sind die Kinder aber auch schon sieben. Dennoch würde man das Alter mit sechs Jahren mit der entsprechenden Abweichungsmöglichkeit (± zwölf Monaten) angeben, das heißt, es wird nur das biologische Alter bestimmt, das vom tatsächlich erreichten Lebensalter abweichen kann. Abgeschlossen ist das Wachstum erfahrungsgemäß meist nach dem Zahnwechsel, dem Ersetzen der Milchzähne durch die Dauerbezahnung, dem variablen Durchbruch des Weisheitszahns und dem Verschluss der Wachstumsfugen an den Gelenkflächen um das 20. bis 22. Lebensjahr.
Aussagen zur Ernährung lassen sich anhand von Skelettresten nur eingeschränkt treffen: Der meist nachweisbare Zahnabschliff ist zu unspezifisch, um Rückschlüsse zuzulassen. Auch sogenannte Stressmarker am Skelett, die Phasen von Wachstumsstopps beziehungsweise Wachstumsschüben anzeigen, weisen lediglich Krisensituationen nach. Da auch Schmelzhypoplasien durch unspezifische Erkrankungen hervorgerufen werden können, geben auch sie nur bedingt Auskunft über die tatsächliche Ernährung beziehungsweise den Nährstoffmangel.
Seit wenigen Jahren kann man mit biochemischen und seit kurzem auch mit genetischen Verfahren im Zahnstein eingebettete Nahrungsreste analysieren und genau bestimmen. Damit sind Wissenschaftler in der Lage, auch Nahrungsanteile zu bestimmen, die bislang kaum zu erkennen waren – wie etwa die pflanzlichen Komponenten.
Die Beurteilung des Gesundheitszustandes ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt bei der Einordnung von prähistorischen und historischen Gesellschaften. Bei Skelettresten können zunächst nur solche Erkrankungen erfasst werden, die sich am Skelett selbst zeigen. Meist sind dies Krankheiten, die einen längeren Verlauf haben oder die sich in Ermangelung von heutiger medizinischer Versorgung und Medikamentierung in heute, durch das vorherige Eingreifen der Medizin, kaum noch vorkommenden Ausprägungen zeigen. Mittlerweile sind aber auch Erkrankungen, die nicht am Skelett ablesbar sind, weil sie vor allem innere Organe betreffen und so schnell tödlich verlaufen, dass sie keinerlei Spuren am Skelett hinterlassen, in einigen Fällen mithilfe einer DNA-Analyse nachweisbar. Als der Pesterreger vor einigen Jahren in menschlichen Skelettresten gefunden wurde, war das ein enormer Durchbruch. Weitere Krankheiten, wie zum Beispiel Lepra oder – wie erst seit Kurzem – Malaria, können ebenfalls genetisch anhand ihrer im Skelettmaterial noch erhaltenen aDNA identifiziert werden.