Hitlers Zahnarzt
Die systematische Erforschung der im Nationalsozialismus begangenen Medizinverbrechen setzte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein.
Zunächst fühlten sich die Schüler ihren Lehrern oder Vorbildern verpflichtet – ein Verschweigen, das auch den Bedürfnissen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft entsprach. Mit dem Abstand der dritten oder vierten Generation ist nunmehr eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit den Ereignissen und Personen dieser Zeit möglich. Dabei geht es nicht nur um reines Faktenwissen und Transparenz, sondern auch um die Bereitschaft zur kritischen Betrachtung und Erinnerung: Wie weit waren die Leib- und Begleitärzte an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt, wie haben sie ihre unmittelbare Nähe zur Macht genutzt? Sind über 1945 hinaus Kontinuitäten auszumachen? Gab es Selbstkritik? Wie werden NS-Mediziner heute rezipiert?
Nicht in allen Fällen ist eine stringente NS-Laufbahn auszumachen. Auch der Zufall konnte eine Rolle spielen, um in eine herausragende Position zu gelangen. Allerdings stammten die entsprechenden Ärzte überwiegend dem bürgerlich-akademischen Milieu, in dem „völkisches“, antisemitisches und anti-demokratisches Gedankengut vorherrschte, und hatten sich zumeist schon früh der NS-Weltanschauung zugewandt. Diese Nähe zum Nationalsozialismus, und ihrer Führung machte die Zufälle erst möglich.
Zudem wurden besonders den Jüngeren der um 1900 Geborenen vielfache Karrieremöglichkeiten geboten – und im Streben nach Macht und wissenschaftlicher Reputation übertraten sie ethische Grenzen. So griffen sie für ihre Experimente auf die KZ-Insassen zurück. Über die moralische Verwerflichkeit hinaus brachten die Menschenversuche in den KZs keine medizinischen Erkenntnisse und der Großteil der Versuchsdesigns hielt wissenschaftlichen Kriterien nicht stand.
Während sich einige NS-Ärzte bei Kriegsende durch Suizid ihrer Verantwortung entzogen und nur wenige durch alliierte Gerichte verurteilt wurden, gelang es erstaunlich vielen, die Nachkriegszeit glimpflich zu überstehen, in Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer entlastet zu werden und in ihrem alten Beruf weiter zu arbeiten. Zu diesen Personen zählte Hitlers Dentist Hugo Johannes Blaschke.
Der Doktor ohne Abitur
Blaschke, 1881 im westpreußischen Neustadt geboren, stammte aus einer Handwerkerfamilie. Als er ohne Abitur die Höhere Schule verließ und ihm somit die Voraussetzung für ein zahnmedizinisches Studium an einer deutschen Universität fehlte, ging er 1908 in die USA und erwarb 1911 an der University of Pennsylvania in Philadelphia ein Diplom sowie den in Deutschland nicht anerkannten Titel „Doctor of Dental Surgery“ (D.D.S.).
Er kehrte nach Deutschland zurück und fand eine Stelle in der Berliner Praxis des Hofarztes Dr. Eugen Wünsche, die er 1915 übernahm. Den Ersten Weltkrieg erlebte Blaschke nicht an der Front, sondern als Dentist im Dienstgrad eines Unteroffiziers in einer Kieferstation.
In seiner Praxis behandelte er ein ausgesprochen zahlungskräftiges Klientel und erwarb sich bald einen ausgezeichneten Ruf bei seinen prominenten Patienten, unter ihnen auch Hermann Göring. 1931 trat er sowohl in die NSDAP als auch in die SA ein und galt später als fanatischer Nationalsozialist.In der paramilitärischen SA stieg der ehemalige Unteroffizier Blaschke schnell zum Sturmbannführer auf, was, wenn auch nicht wirklich vergleichbar, in der Armee dem Offiziersdienstgrad Major oder in der Polizei einem Kriminalrat entsprach.
1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und die Nationalsozialisten kamen an die Macht. Ende 1933 behandelte Blaschke auf Empfehlung Görings, nunmehr Preußischer Ministerpräsident, erstmals Hitler. Dieser muss mit der Behandlung zufrieden gewesen sein, denn Blaschke wurde fortan dessen „Leibzahnarzt“. Überdies behandelte er dessen „Hofstaat“ wie auch Eva Braun. Mehr noch, Blaschke wurde selbst Teil dieser Entourage, verbrachte zahllose Abende mit Hitler und dessen Kreis aus Sekretärinnen, Adjutanten und Vertrauten.
Auch die SS wurde auf Blaschke aufmerksam. Ambitioniert trieb der „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler den Aufbau der SS voran, verstärkte bewaffnete Formationen und die „Totenkopf-Verbände“, die Wachen der Konzentrationslager.
Für die medizinische Versorgung der SS- Gesamtorganisation war der „Reichsarzt-SS“ Prof. Dr. med. Ernst Robert Grawitz verantwortlich, der Blaschke für die Einrichtung eines zahnärztlichen Dienstes in der SS gewinnen konnte – angeblich stellte er Blaschke in Aussicht, er könne als Dentist in der SS sofort die Bezeichnung Zahnarzt führen. Mit 53 Jahren trat Blaschke 1935 in die SS ein. Verbindungen zu führenden SS-Angehörigen hatte er bereits durch seine Praxis und die Mitgliedschaft in anderen NS-Organisationen. In Berlin übernahm Blaschke nun die Leitung des allgemeinen zahnärztlichen Gesundheitsdienstes im SS-Sanitätsamt. Neben der konzeptionellen Arbeit zählten die Prüfung der Haushaltsmittel der bewaffneten SS sowie die Leitung der Arbeit der zahnärztlichen Stationen der SS in Dachau und Sachsenhausen zu seinen Aufgaben. Hier wurde besonders das SS-Leitungs- und Funktionspersonal der dortigen Konzentrationslager behandelt, so dass Blaschke spätestens seit 1935 mit den KZs vertraut war, denn seine Dienstreisen führten ihn oft dorthin. Am 20. April 1939, Hitlers 50. Geburtstag, wurde Blaschke zum SS-Standartenführer befördert, was dem Dienstgrad eines Obersts gleichkam. In der Position als SS-Führer und Zahnbehandler Hitlers betrieb Blaschke auch Lobbyarbeit für den Berufsstand der Dentisten und beschäftigte sich mit der Frage, wie man die Berufsstände der Zahnärzte und Dentisten vereinen könne – zusammen mit „Reichszahnärzteführer“ Ernst Stuck.
Sein Aufstieg in der SS
Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg. Dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion fielen weit über 22 Millionen Menschen zum Opfer, sechs Millionen Juden wurden ermordet. Der ehemalige Unteroffizier Blaschke machte nunmehr eine rasante Karriere in der SS. 1941 mit dem Dienstgrad eines SS-Standartenführers als hauptamtlicher Führer in die Waffen-SS übernommen, stieg er bis Oktober 1944 zum „SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS“ auf. Im August 1943 wurde er zum „Obersten Zahnarzt beim Reichsarzt-SS und Polizei“ ernannt. Himmler hatte ihm den Totenkopfring und Ehrendegen der SS verliehen und ihn – als den für die zahnärztliche Versorgung der SS verantwortlichen SS-Führer – mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. und 2. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet. Blaschkes Verdienst fasste „Reichsarzt-SS“ Grawitz 1944 in einem Schreiben zusammen: Er habe aus dem Nichts, „entgegen aller Widerstände, die sich insbesondere aus der bis heute ungeklärten Situation der Ausbildung und des Standes der Zahnärzte und Dentisten ergeben“, die zahnärztliche Versorgung der gesamten SS, insbesondere auch der Waffen-SS, geschaffen“.
Ohne dass es anhand von Dokumenten belegbar ist, muss man davon ausgehen, dass Blaschke als „Oberster Zahnarzt“ der SS genaueste Kenntnisse von einem schlimmsten SS-Verbrechen besaß: dem Zahngoldraub der in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen. In seiner Funktion als Chef des Amtes IV (zahnärztlicher Dienst) in der Dienststelle „Reichsarzt-SS und Polizei“ im SS-Hauptamt war er mit der Organisation der SS genau vertraut, besaß persönliche Kenntnisse von den KZs und stand im engen dienstlichen Austausch mit dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, dem die Konzentrationslager administrativ unterstanden. 1941 begann der Holocaust, ab 1942 wurden die europäischen Juden in den Vernichtungslagern systematisch ermordet. Himmler hatte die Gewinnung von Zahngold verfügt, das den Leichen nach der Vergasung durch Mitgefangene herausgebrochen wurde. Bereits im Oktober 1942 teilte das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt Himmler mit, dass Blaschke über 50 kg Gold von toten Häftlingen zur Behandlung der SS-Männer verfügen würde. Dass Blaschke nicht wusste, woher das Gold stammte, ist unwahrscheinlich. Der SS-General blieb weiterhin Hitlers „Leibzahnarzt“ und kam nun auch zu akademischen Weihen: Der „Führer“ ernannte den Dentisten im Juni 1943 zum Professor. Folgt man Blaschkes Nachkriegsaussagen, war ihm vorher auch der deutsche Doktorgrad Dr. med. dent. verliehen worden. Noch im April 1945 wurde Blaschke auf Hitlers Befehl aus Berlin nach Oberbayern ausgeflogen und dort von US-Truppen verhaftet. Sein Vorgesetzter, der „Reichsarzt-SS“, beging Suizid.
Historikertagung Aachen
„Die Ärzte der Nazi-Führer“
Ende Oktober fand am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum der RWTH Aachen, unter der Leitung von Prof. Dominik Groß und Dr. Mathias Schmidt die Fachtagung „Die Ärzte der Nazi-Führer – Karrieren und Netzwerke“ statt. Beleuchtet wurden die beruflichen Biografien der Haus-, Leib- und Begleitärzte führender Vertreter des NS-Regimes – auch die von Hugo Johannes Blaschke: Hitlers Leibzahnarzt, der „Dentist des Teufels“. Ärzte und Medizinhistoriker aus ganz Deutschland zeigten, dass diese Mediziner führend an den Nazi-Verbrechen beteiligt waren und sie bisweilen sogar selbst initiierten.Nahezu zeitgleich startete am Aachener Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin das erste nationale Drittmittelprojekt zur Aufarbeitung der Rolle der Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus (siehe zm 12 und zm 13/2016), das von der DGZMK, der BZÄK und der KZBV unterstützt und finanziert wird.
Blaschke entging nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ einer Anklage durch ein alliiertes Gericht, er wurde lediglich als Zeuge für die Nürnberger Prozesse vernommen. Im Dezember 1947 wurde er aus dem Nürnberger Gefängnis in das Internierungslager Nürnberg-Langwasser verlegt, dort zunächst als Hauptschuldiger von einer Spruchkammer zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt. 1948 erfolgte ohne weiteres Nachverfahren eine Neueinstufung: Der ehemalige SS- General und „Oberste Zahnarzt“ beim „Reichsarzt-SS und Polizei“ wurde in die Gruppe der Mitläufer eingereiht und entlassen. Schon wenig später eröffnete Blaschke in Nürnberg wieder eine eigene Praxis, wobei er den von Hitler verliehenen Doktor- und Professorentitel weiterhin führte. Ohne seine eigene Verantwortung in der SS je kritisch hinterfragt zu haben, starb er 1960 als angesehenes Mitglied der Gesellschaft.
Jens Westemeier
und
Mathias Schmidt
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin,
Medizinische Fakultät der RWTH Aachen,
Uniklinikum Aachen
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
jwestemeier@ukaachen.de