„Malo e lelei“ – Post aus Tonga
„Malo e lelei“ (= Hallo), wir sind Ly und Natalia, zwei Zahnmedizinstudentinnen aus Greifswald im letzten Studienjahr. Interesse am Auslandspraktikum hatten wir schon lange, so begannen wir etwa ein Jahr vorher mit der Recherche und Organisation. Dafür haben wir in den vielen Famulaturberichten des Zahnmedizinischen Austauschdienstes (ZAD) gelesen. Uns war es wichtig einen Ort zu finden, der weiter weg von zu Hause ist, der uns andere zahnmedizinische Fälle zeigt, als wie wir sie in Deutschland kennen, einen Ort eben, der uns auch persönlich herausfordert. Wir haben Wert darauf gelegt, dass wir dort selbst praktisch tätig sein dürfen. Es sollte natürlich auch ein Ort sein, wo es wärmer ist und wir neben dem Produktivsein auch etwas Urlaub machen können. Das grenzte die Auswahl ein, und der sehr unkomplizierte Kontakt zu Dr. Amanaki, übrigens dem einzigen Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen in ganz Tonga, führte uns letztendlich in die Südsee.
Das Königreich Tonga ist ein Inselstaat Polynesiens, bestehend aus über 170 Inseln, wobei 36 davon bewohnt sind. Man hat eine bessere Vorstellung davon, wo es liegt, wenn wir das folgendermaßen beschreiben: östlich von Australien (ca. 5.100 km) und Fidschi (770 km), südlich von Samoa (750 km) und nördlich von Neuseeland (2.400 km). Es liegt tatsächlich am „anderen Ende der Welt“!
Unsere Anreise startete in Düsseldorf, ging über Abu Dhabi nach Hongkong, über Auckland nach Tonga und kostete uns 45 Stunden. Die Zeit geht hier auch noch 11 Stunden vor! Zugegeben, die Anreise war ein großes Ding, zum Glück waren wir zu zweit. Aber wir hielten uns immer vor Augen: traumhafte weiße Strände, unglaublich klares Wasser, Palmen und Kokosnüsse, die freundlichsten Menschen der Welt – ein Tropenparadies eben.
Um 23 Uhr am Flughafen der Haupt-insel Tongatapu angekommen, fröhlich empfangen von einheimischen Straßenmusikern, suchten wir nach unserem Fahrer – vergeblich! Wir hatten eigentlich ganz organisiert einen Airport-Transfer bestellt, aber die vom Hostel hatten unsere Ankunft einfach vergessen. Und es blieb nicht bei diesem einen Mal – so entspannt sind die Menschen hier! Frei nach dem Motto „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe stets auf morgen!“ Man hat den Eindruck, die Menschen hier laufen auch langsamer. Oder die Zeit vergeht langsamer. Bei der Suche fiel uns direkt auf, dass das Schönheitsideal der Tonganer fülliger, moppeliger, dicker zu sein scheint.
Wir hatten drei Tage bis zum Start des Praktikums – und fanden schnell heraus, dass der Zuckerkonsum hier sehr hoch ist und die modernen U.S.-Supermärkte mit viel Dosenessen ziemlich beliebt sind. Genauso wie die panierten Chicken Wings mit Pommes beziehungsweise der Maniokwurzel vom Chinesen an jeder Ecke. Die bekommt man im Vergleich zu frischem Gemüse und Obst vom Markt aber leider auch sehr günstig.
In den ersten drei Tagen bestätigte sich auch der Ruf der Insel als „Freundschaftsinsel“, denn wir trafen so viele nette und aufgeschlossene Menschen, super freundlich und offen für Gespräche, Menschen die so gerne lachen! Dabei entdeckten wir ein zweites Schönheitsideal, das fast jeder Dritte trägt: „gold teeth“. Das ist Zahnschmuck, vor allem an den Frontzähnen aus verschiedenen Goldlegierungen in diversen Formen: Voll-/Teilkronen, Inlays, Veneers, Käppchen, die nur die zervikale oder die inzisale Vestibularfläche schmücken, Dazzler oder Twinkles als Stern oder Halbmond.
Zum 21. Geburtstag gibt‘s gold teeth
Dafür werden in der Regel gesunde Zähne beschliffen und es ist ein typisches Geschenk der Eltern, wenn die Kinder in die Highschool kommen oder den 21. Geburtstag feiern. Dabei repräsentieren die gold teeth auch das Hab und Gut der Familie, denn „Du kannst dir das nur machen lassen, wenn deine Familie das Geld hat“ – erzählte uns Sela, eine nette Sitznachbarin im Bus auf dem Weg zum ersten Pratikumstag, deren Foetor ex ore durch ein Minzbonbon leider auch nicht übertönt werden konnte.
Unsere Famulatur begannen wir an der Zahnklinik des „Vaiola Hospital“ auf der Hauptinsel Tongatapu. Hier verbrachten wir unsere ersten zwei Wochen. Das Vaiola befindet sich in der Hauptstadt Tongas, Nuku‘alofa, zwar nicht zentral, eher südlich am Stadtrand, aber das ist kein Problem! Denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind hier gut strukturiert, es gibt einen extra Bus, der zwischen dem Zentrum und dem Krankenhaus pendelt. Den nahmen wir jeden Morgen – dabei haben wir die Gastfreundschaft der Tongaer immer wieder zu spüren bekommen. Vor allem die uniformierten Schulkinder sind im Bus und an den Haltestellen für uns aufgestanden und haben uns Platz gemacht. Das war uns schon fast unangenehm! Andere waren an unserer Herkunft interessiert und haben sich erkundigt, ob alles O.K. sei und ob es uns gut geht – nicht nur im Bus, auch in Restaurants, Bars, auf Märkten. Wir fühlten uns also in den ersten Tagen schon sehr willkommen und waren gespannt auf das Klinikteam!
Angekommen in der Zahnklinik begrüßte uns herzlich Dr. Amanaki Fakakovikaetau, Chefarzt der Zahnklinik. Von ihm bekamen wir eine Einführung in die zahnmedizinische Versorgung im Königreich. Er erklärte uns, dass es in den staatlichen Zahnkliniken auf den großen Inseln drei Hauptarbeitsgruppen gibt. Die erste behandelt die Patienten in den Räumlichkeiten der Klinik, die zweite Gruppe führt das „Mali-Mali-Programm“ mit den Kindern durch (zm-online berichtete) und die dritte Gruppe ist für die zahnmedizinische Versorgung in den Health-Care-Zentren in abgelegeneren Orten und kleineren Inseln verantwortlich.
Unser Tagesablauf in der Klinik soll in den nächsten Tagen so aussehen: Start ist morgens um 8.30 Uhr. Die Schicht geht bis 12.30 Uhr, dann ist Mittagspause und um 13.30 Uhr geht es weiter, um 16 Uhr endet der Arbeitstag. Am ersten Tag kamen wir natürlich früher an und waren total überrascht, denn aus dem Wartebereich hörten wir lauten Gesang?! – Wir schauten nach, und ja, tatsächlich Gesang, alle gemeinsam, sowohl die Ärzte als auch die Helfer und Patienten. Über 90 Prozent der Bevölkerung gehören zur Freien Christlichen Kirche und die Religion hat für die Tongaer einen hohen Stellenwert. So sprachen unsere Kollegen jeden Morgen gemeinsam mit ihren Patienten im Wartebereich ein Gebet – und sangen. Jeden Sonntag besuchen die Tongaer traditionell – schick gekleidet – die Kirche. Der Sonntag ist hier so heilig, jeglicher Betrieb strafbar! Also keine Bars, keine Busse oder Flugzeuge, nicht einmal Taxen, und die Hotelrezeption ist quasi unbesetzt. Zurück zur Klinik! – Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn der erste Eindruck der Klinik war sehr positiv, sie war ziemlich gut ausgestattet! In unserer Vorstellung sah die Klinik eben wie eine „typische“ Dritte-Weltland-Klinik aus. Stattdessen: Alles wirkte sauber und strukturiert, jeder kannte seine Aufgaben, es gab richtige Behandlungseinheiten, steril verpackte Instrumente, sogar Digitales Röntgen. Die neun Behandlungseinheiten befinden sich in einem großen Raum, aber eigentlich hat die Klinik eine Behandlungseinheit mehr. Die zehnte Einheit steht in einem privaten Raum, reserviert für die Behandlungen des Königs Tupou VI.! Von den neun Einheiten werden zwei den ausländischen Studentinnen überlassen, die restlichen besetzen einheimische Zahnärzte sowie die „Dental Therapists“.
Das Ärzte-Team in Tongatapus Zahnklinik besteht aus einer Prothetikerin, einem Kieferorthopäden, dem Chef als Kieferchirurgen, drei Zahnärztinnen, die hauptsächlich Füllungstherapien machen, einem Zahnarzt, der sich auf Wurzelbehandlungen konzentriert, und einigen Dental Therapists, die für den Schmerzdienst zuständig sind und hauptsächlich extrahieren. Dental Therapists gibt es bei uns in Deutschland so nicht. Man studiert es, drei Jahre lang, und danach ist man befähigt, fast allen zahnärztlichen Tätigkeiten nachzugehen. Der einzige Unterschied zum Zahnarzt, dessen Ausbildung fünf Jahre dauert, ist, dass Dental Therapists keine Endotologie machen dürfen. Beide Studiengänge werden nur auf den Fidschis und auf Englisch angeboten, so dass Tongaische Zahnmediziner sehr gut Englisch sprechen. Das erleichterte unseren Einsatz extrem! Ebenfalls die Tatsache, dass die Amtssprache hier Tongaisch, aber auch Englisch ist. Nur bei den älteren Generationen hatten wir ab und an Verständigungsprobleme. „Malei, one patient for number four please!“ Nummer vier – das ist unsere Einheit! Unser Tätigkeitsschwerpunkt im Vaiola Hospital ist die Aufnahme und Behandlung von Schmerzpatienten, was so viel heißt wie viele Extraktionen und einige Überweisungen zur Füllung oder Endodontie. So reicht unser kleiner, aber effektiver tongaischer Wortschatz aus, um uns auch mit den älteren Patienten auf eine Behandlung zu einigen: „Mamahi?“ (=Schmerzen?) – „Io.“ (=Ja), „Ta’aki? (=Ziehen?)“ – „Io“, und zack, der Zahn ist draußen! Dann „Hu’u!“ (=Zusammenbeißen; auf die Wattetupfer) und nächster bitte!
Erste Anamnesefrage: Diabetes mellitus?
Bevor wir aber mit der Behandlung beginnen, ist die erste Anamnesefrage: „Haben Sie Diabetes oder Bluthochdruck?“ Denn, wie schon erwähnt, sehr viele Tongaer sind stark übergewichtig, Adipositas ist hier quasi normal. Mit dieser Frage sichern wir uns ab und versuchen, Komplikationen zu umgehen. Falls die Patienten die Frage bejahen, werden sie zur Hauptklinik geschickt, um die Werte checken zu lassen. Allerdings kommt es auch vor, dass einige gar nicht wissen, dass sie an Diabetes erkrankt sind. Und tatsächlich ist Diabetes mellitus die Haupttodesursache der Menschen auf Tonga. Zu unseren täglichen Befunden gehörten Foetor ex ore, massive Plaque, völlig zerstörte, ausgehöhlte Zahnkronen, kariöse Wurzelstümpfe, Abszesse und Fisteln, desaströse Gebisse, und vor allem Lückengebisse – aber eher alles gleichzeitig. Solche Fälle haben wir an der deutschen Universität selten gesehen. Tongaer gehen nämlich erst zum Zahnarzt, wenn die Schmerzen unaushaltbar sind, dementsprechend kommen sie oft mit einer genauen Behandlungsvorstellung: schmerzbefreiend, schnell und effektiv, da bleibt keinesfalls Zeit für eine Wurzelkanalbehandlung über mehrere Termine. Kostenlos sollte die Behandlung auch sein. Es stört sie nicht einmal, wenn ein Frontzahn oder Prämolar dabei verloren geht. Das schockierte uns anfangs sehr, denn diese Einstellung hatten auch die jungen Frauen und Männer.
Der kariöse Nachbarzahn stört nicht
Wir hatten anfangs Hemmungen, viele der Zähne zu extrahieren, haben noch versucht, die Patienten und die Ärzte umzustimmen, denn in Deutschland hätten so viele davon noch Jahre erhalten werden können – erfolglos. Natürlich war uns bewusst, dass auf Tonga viele Zähne gezogen werden, darauf hatten wir uns sogar gefreut. Denn es sind wertvolle Arbeitserfahrungen, wenn man bedenkt, dass wir in Deutschland im ersten Klinischen Jahr nur vier bis acht Zähne extrahiert haben. Hier waren es für uns beide jeweils vier bis acht am Tag. Nur leider ist dieser Zustand auch gleichzeitig ein Spiegelbild der mangelhaften medizinischen Versorgung auf Tonga. Viele der Menschen wissen nichts über Mundhygiene, geschweige denn über Möglichkeiten der Zahnerhaltung. Aus Sicht der Ärzte sprechen die fehlenden Materialien und Kapazitäten leider auch gegen die Erhaltung des Zahnes. So konzentriert man sich hier eigentlich nur auf den Schmerz bereitenden Zahn. Dass der Nachbarzahn kariös ist, stört nicht – bis er dann soweit zerstört ist, dass der Patient wieder mit Schmerzen kommt. Sehr schade! Und Zahnersatz ist eine Privatleistung, über die die meisten Menschen erst gar nicht nachdenken.
Wir benötigten also eine gewisse Abstumpfungs- oder eher Anpassungszeit, aber dann hieß es für uns immer wieder aufs Neue: Alle Skrupel verlieren und das machen, was die Patienten wünschen, egal ob Front- oder Seitenzahn, kleine oder große Läsionen, einfach „Ta’aki!“, einen nach dem anderen, „Malei, next patient for number four please!“, wie Fließbandarbeit! Wir haben uns relativ schnell an das Arbeitstempo, die vielen Patienten und das selbstständige Arbeiten gewöhnt, und dabei das Vertrauen der Ärzte sehr geschätzt!
Unsere Zeit auf Tongatapu neigt sich dem Ende zu – jetzt geht es für uns weiter auf die Nachbarsinsel Vava’us – zum zweiten Teil unseres Praktikums!