Millionenbudget ohne Therapie?
Die Pflege reitet zurzeit auf großer Öffentlichkeits-Welle – und das völlig zu Recht. Viel zu lange haben wir weggesehen, ignoriert und bagatellisiert, inzwischen ist dem Letzten klar, dass Deutschland ein doppeltes Problem hat: Dramatische Demografie mit immer mehr Pflegebedürftigen trifft auf immer weniger, die unter den aktuellen Bedingungen pflegen wollen!
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und der Deutsche Gewerkschaftsbund haben kürzlich eine repräsentative Befragung der Pflege vorgestellt. 77 Prozent der Altenpflegerinnen und -pfleger können sich nicht vorstellen, bis zur Rente so wie bisher weiterzuarbeiten. Gleichzeitig rechnet uns das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung vor, dass heute bereits 17.000 Stellen in der Pflege unbesetzt sind. Diese Zahl mag sich bis 2025 nach Berechnung des statistischen Bundesamtes auf 112.000 erhöhen.
Wie also soll man in einem Land mit ohnehin großen Nachwuchssorgen immer mehr Bewerber für ein Berufsbild finden, das nicht mal die bestehenden Kräfte zu halten vermag. Der erste Impuls – „Na dann sollen das Ausländer machen“ – zündet nicht so recht. Viele Länder haben eigene Demografie-Sorgen, EU-Ausländer kommen vielleicht in Zeiten von Finanzkrisen, gehen dann aber auch schnell wieder, und für Nicht-EU-Ausländer bestehen große Hürden. „Was mich [Jens Spahn] verzweifeln lässt: Die ausgebildeten Fachkräfte müssen oft zehn Monate auf ein Visum für Deutschland warten.“
Bleibt also, die Pflege in Deutschland aufzuwerten. Vier wichtige „Mehr‘s“ werden diskutiert: mehr Geld, mehr Mitsprache bei den Arbeitszeiten, mehr Aufstiegsmöglichkeiten, mehr Personal. Und ja, an all diesen Punkten klebt ein Preisschild, ein richtig großes. Wo soll das Geld herkommen? Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, testet gerade Ideen. Im Juni kam er mit dem Gedanken, Beiträge auf Kapitaleinkünfte wie Mieten zu erheben: „Es kann nicht sein, dass die Zukunft der Erben wichtiger sein soll als die Zukunft der Pflege“. Jetzt spitzt er die Empfehlung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2007 zu, nämlich die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten. Eine Pflegekraft, die eine Wunde zuerst sieht, sollte nach Westerfellhaus auch diagnostizieren, therapieren und selbst abrechnen dürfen. Doppelter Nutzen: neues Geld und neue Aufstiegsmöglichkeiten. Unsere zahnmedizinischen Themen scheinen aktuell nicht im Fokus, aber sie wurden durchaus schon diskutiert. Bei dem Notlage-Bonus, den die Pflege aktuell genießt, wird Aufschreien allein nicht mehr genügen, wer aufschreit, muss auch liefern können.
Gerade wir sollten liefern können, denn die Zahnmedizin hat ihr politisches „Pflege-Fenster“ optimal genutzt – Besuchsgebühr, Prävention. Sehr schlecht, wenn dann Schlagzeilen entstehen wie „Millionenbudget, aber wenig Therapie“ (Süddeutsche) oder „Zahnärzte besuchen öfter Seniorenheime, Behandlung erfolgt kaum“ (Handelsblatt). Auslöser im April war die Vorstellung des Barmer Zahnreports. Schlechte Nachrichten muss man aushalten, wenn sie denn stimmen. Die genaue Datenanalyse aus dem Zahnreport zeichnet aber ein ganz anderes Bild. Im Referenzjahr 2016 haben die Kolleginnen und Kollegen 21,4 Prozent der pflegebedürftigen Barmer-Versicherten besucht – nach aller alterszahnmedizinischen Erfahrung Menschen in der letzten Lebensphase. Diese haben dann durchschnittlich 1,84 Leistungen erhalten, darunter auch „ZST“ in jedem möglichen Fall. Wenn große Leistungen fehlen, erklärt sich das aus den Bedürfnissen der letzten Lebensphase. Im Fazit läuft die Zahnmedizin in der Pflege schon ganz gut an, aber natürlich besteht Luft nach oben.
Mehr Kolleginnen und Kollegen sollten sich beteiligen und die neuen Möglichkeiten dann auch intensiver nutzen. Wenn wir das jetzt nicht wollen, werden uns andere vielleicht nicht mehr soviel Bedenkzeit geben!
Prof. Dr. Christoph Benz
Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer