Die Anatomie von Unterkiefer-Prämolaren
Die Unterkieferprämolaren sind zwar mehrheitlich einwurzelig, jedoch werden relativ häufig Verzweigungen des Wurzelkanals angetroffen. Diese Verzweigungen liegen oft im mittleren oder im apikalen Wurzeldrittel und können daher nicht durch „Lesen“ des Dentins am Kavumboden erkannt werden. Auch wenn die Röntgenbilder dieser Zähne auf den ersten Blick unspektakulär erscheinen, variiert die Wurzelkanalanatomie jedoch erheblich in der Anzahl der Wurzelkanäle. Im Fall vieler Kanäle sind diese dann sehr schwer endodontisch zu behandeln. In zwei deutschsprachigen Publikationen von Holm Reuver [Reuver, 2002a; Reuver, 2002b] konnte die Komplexität dieser Anatomien anhand klinischer Fälle und durchsichtig gemachter Präparate von extrahierten Zähnen visuell sehr schön gezeigt werden.
Erster unterer Prämolar
Der erste untere Prämolar hat in der Regel nur eine Wurzel – in etwa 98 Prozent der Fälle [Cleghorn et al., 2007a]. Zwei Wurzeln sind selten (1,8 Prozent), drei Wurzeln sehr selten (0,2 Prozent). Die Zähne zeichnen sich durch ein zentral liegendes, oft ovales oder schlitzförmiges Kavum und durch einen ebenfalls ovalen koronalen Wurzelkanalanteil aus [Vertucci et al., 2006]. Die Zugangskavität sollte länglich oval in oro-vestibulärer Richtung präpariert werden. In der Regel sind zwei Pulpahörner präsent, ein größeres bukkales und ein kleineres linguales (Abbildungen 1 und 2). Aufgrund der teilweise stark ausgeprägten Kronenflucht muss beim Gestalten der ovalen Zugangskavität ein teilweiser Verlust des vestibulären, tragenden Höckers in Kauf genommen werden. Wenn das Kanalsystem koronal schwer zu finden ist, kann häufig beobachtet werden, dass der vermeintliche Kanal zu weit bukkal gesucht wird oder die Kronenflucht nicht beachtet wurde.
Die Anzahl der Wurzelkanäle in unteren Prämolaren wurde in vielen Studien untersucht. Hier ist als erstes wieder einmal Vertucci zu nennen, der die Häufigkeit von einkanaligen ersten Unterkieferprämolaren zwischen 70 und 74 Prozent, die von zweikanaligen zwischen 25,5 Prozent und 29,5 Prozent angibt [Vertucci, 1978; Vertucci, 1984] (Abbildung 3).
Es gibt jedoch andere Gruppen von Autoren, die von diesen Ergebnissen zum Teil erheblich abweichen. Caliskan et al. konnten innerhalb einer türkischen Bevölkerungsgruppe 47,2 Prozent einkanalige und 52,8 Prozent überwiegend zweikanalige Zähne aus einem Pool erster Unterkieferprämolaren identifizieren [Caliskan et al., 1995]. In einer jordanischen Bevölkerungsgruppe wurden 58,2 Prozent einkanalige und 41,8 Prozent zweikanalige Prämolaren gefunden [Awawdeh, Al-Qudah, 2008]. Aufgrund dieser Ergebnisse kann ein ethnischer Einfluss auf die Zahnentwicklung unterer Prämolaren vermutet werden.
Anhand röntgenologischer Studien haben Trope et al. versucht, den ethnischen Einfluss auf die Wurzelkanalanatomie zu bestätigen [Trope et al., 1986]. Bei einer Stichprobe in den Vereinigten Staaten mit weißen Probanden hatten 86,3 Prozent der Zähne einen Kanal und lediglich 13,7 Prozent zwei Kanäle. Abweichend davon waren bei einer Stichprobe schwarzer Probanden lediglich 67,2 Prozent einkanalig und mit 32,8 Prozent ein erheblich höherer Anteil zweikanalig. Durchschnittlich waren 76,8 Prozent der ersten Unterkieferprämolaren einkanalig und 23,2 Prozent zweikanalig.
In einer Übersichtsarbeit, die acht Studien über die Anatomie von ersten Unterkiefer-Prämolaren zusammenfasst, ergab sich eine Prävalenz von mehr als einem Kanal in 24,2 Prozent aller Fälle [Cleghorn et al., 2007a]. Dabei überwiegen die zweikanaligen Prämolaren, die Prävalenz von drei Kanälen liegt bei unter 1 Prozent [Bürklein et al., 2017] (Abbildungen 4 und 5). Bei den zweikanaligen Zähnen zeigt sich üblicherweise ein weitlumiger Kanal von koronal nach apikal, von dem im mittleren oder im apikalen Drittel ein kleinerer lingualer Anteil abzweigt. Dieses Phänomen kann sehr ausgeprägt sein und macht die Behandlung extrem schwer (Abbildung 6).
Auch das Vorliegen anderer Wurzelkanalkonfigurationen, wie ein C-förmiges Kanalsystem, wird in der Literatur als nicht selten beschrieben. So zeigten Baisden et al. [Baisden et al., 1992] in einer Studie an 106 unteren ersten Prämolaren, dass in 14 Prozent der Fälle ein C-förmiges Kanalsystem gefunden wurde (Abbildung 7).
Zweiter unterer Prämolar
Grundsätzlich sind beim zweiten unteren Prämolaren die gleichen Varianten in der Wurzelanatomie zu erwarten wie beim ersten, jedoch weniger häufig.
Der zweite untere Prämolar hat noch öfter eine Wurzel als der erste untere Prämolar (etwa 99,6 Prozent der Fälle) [Cleghorn et al., 2007b]. Zwei und drei Wurzeln sind hier sehr selten (0,3 Prozent beziehungsweise 0,1 Prozent). In der Übersichtsarbeit, die acht Studien über die Anatomie von zweiten Unterkiefer-Prämolaren zusammenfasst, ergab sich eine Prävalenz von mehr als einem Kanal in 9 Prozent aller Fälle [Cleghorn et al., 2007b]. Laut Reuver [Reuver, 2002a] scheint es beim zweiten Prämolaren öfter vorzukommen, dass bei Vorliegen eines lingualen Kanals vom Volumen her zwei gleichwertige Anteile vorliegen und die Teilung im Röntgenbild zu sehen ist. Diese Zähne sind wegen der nicht so stark ausgeprägten Abzweigung nach lingual einfacher zu behandeln (Abbildung 8).
Diagnostik
Durch ein genaues Betrachten der präendodontischen, apikalen Röntgenaufnahme können verschiedene Hinweise für das Vorliegen mehrerer Kanäle erkannt werden. Verschwindet ein im Röntgenbild koronal gut sichtbarer Wurzelkanal scheinbar im Verlauf zum Apex oder verengt er sich sehr deutlich, ist das sehr häufig ein Hinweis auf eine Kanalaufzweigung in Strahlenrichtung [England et al., 1991] (Abbildung 9). Weitere Hinweise sind laut Hülsmann [Hülsmann, 2001]:
die exzentrische Lage des Hauptkanals innerhalb der Wurzel
Kontinuitätsänderungen innerhalb der Wurzel und an der Außenseite
Wurzeldoppelkonturen (Abbildung 10)
die exzentrische Lage eines in den Wurzelkanal eingebrachten Instruments
Neben einer orthograden Aufnahme empfehlen England et al., den Tubus für eine zweite exzentrische Aufnahme im davon abweichenden Winkel von 20 Grad nach mesial oder distal auszurichten [England et al., 1991]. Martinez-Lozano et al. schlagen exzentrische Aufnahmen im Winkel von 20 und 40 Grad vor [Martinez-Lozano et al., 1999], während Rödig und Hülsmann einen Winkel von 30 Grad anraten [Rödig und Hülsmann, 2003].
In einer eigenen Untersuchung unter simulierten klinischen Bedingungen konnte ein zweiter lingualer Kanal am besten bei der Kombination eines orthograden und eines 40° mesial exzentrischen Röntgenbildes entdeckt werden [Rapsch und Paqué, 2017].
Die digitale Volumentomografie kann helfen, komplexe Wurzelkanalsysteme richtig zu erkennen. Im Vorfeld sollte jedoch immer eine gewissenhafte Diagnostik mit zweidimensionalen Röntgenbildern erfolgen. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde weist darauf hin, dass nur in einzelnen Fällen eine digitale Volumentomografie indiziert ist, nämlich wenn bestimmte Begleitumstände – wie die komplexe Anatomie eines Wurzelkanalsystems – die endodontologische Therapie erschweren. Das Wissen um die hohe Variationsbreite der Kanalmorphologie unterer Prämolaren reicht daher nicht, um bei diesen Zähnen eine generelle Ausgangsdiagnostik mit der digitalen Volumentomografie zu rechtfertigen.
Klinik bei schwierigen Kanalkonfigurationen
Wie eingangs erwähnt sind die lingualen Kanalabzweigungen im mittleren und im apikalen Drittel nicht durch „Lesen“ des Dentins am Kavumboden zu erkennen. Diese Abzweigung ist nicht selten fast waagerecht und initial meist nur mit vorgebogenen Instrumenten ertastbar (Abbildung 11). Hier bieten sich kleine Stahlinstrumente der Größen 08 und 10 sowie Endodontie-Sonden mit Handgriff an (zum Beispiel Microopener der Firma Dentsply Sirona). Oft lassen sich solche Aufzweigungen erst nach sonoabrasiver Bearbeitung der lingualen Kanalwand finden und können dann gezielt präpariert werden. Der Zugang und die Instrumentierung der lingualen Abzweigung gestalten sich aufgrund der in Abbildung 11 gezeigten Winkel sehr schwierig – man sollte einen sehr guten Zugang zum lingualen Kanalanteil präparieren, um den Apex sicher erreichen zu können.
Zusammenfassung
Die ersten unteren Prämolaren weisen in etwa 25, die zweiten unteren Prämolaren in etwa 10 Prozent der Fälle ein zusätzliches linguales Kanalsystem auf. Der Abzweig vom bukkalen Hauptkanal vollzieht sich meistens erst im mittleren oder im apikalen Wurzeldrittel und ist sehr schwer zu diagnostizieren und zu behandeln. Liegt eine solche Kanalkonfiguration vor, ist der Einsatz eines Dentalmikroskops für die Erschließung und die Bearbeitung lingualer Kanalanteile unumgänglich.
Dr. med. dent. Frank Paqué
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Klinik für Präventivzahnmedizin, Parodontologie und Kariologie
Universität Zürich
und Praxis für Endodontologie
Rennweg 58, CH-8001 Zürich
frank.paque@zzm.uzh.ch
Dipl.-Stom. Michael Arnold
Praxis für Endodontie und Zahnerhaltung
Königstr. 9
01097 Dresden
Literatur:
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