„Das ist rechtlich sehr bedenklich“
Ist es zulässig, wenn Patienten keinen persönlichen Kontakt zu dem Behandler der Aligner-Therapie haben?
Carsten Wiedey:
Einerseits unterscheiden sich die Angebote der derzeitigen Start-ups erheblich, andererseits bestehen gewisse Diskrepanzen zwischen der Beschreibung der Angebote auf den Homepages und den Erläuterungen der Geschäftsführer. Daher kann man nur allgemein zwischen Therapien ohne zahnärztliche Beteiligung, mit einer zumindest partiellen zahnärztlichen Begleitung und unter vollständiger therapeutischer Hoheit eines Zahnarztes unterscheiden.
Therapien ohne zahnärztliche Beteiligung:
Ausgangspunkt für die Frage der Zulässigkeit neuer Versorgungsformen zur Alignertherapie ist zunächst das Zahnheilkundegesetz (ZHK): § 1 Abs. 3 definiert, was unter „Ausübung der Zahnheilkunde“ zu verstehen ist. Hierbei wird nicht nur allgemein auf „die berufsmäßige Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten“ abgestellt, sondern expressis verbis definiert, dass unter den Begriff der erfassten „Krankheit“ auch „jede von der Norm abweichende Erscheinung […] einschließlich der Anomalien der Zahnstellung“ fällt. Werden normabweichende Fehlstellungen ohne Beteiligung eines Zahnarztes durchgeführt, ist das sicherlich ein Verstoß gegen das ZHK. Damit wäre so ein Verhalten auch nach § 18 ZHG als unzulässige Ausübung der Zahnheilkunde strafbar. Zudem liegt in § 1 ZHG eine „Marktverhaltensregelung“ im Sinne des § 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), so dass auch zivilrechtliche Unterlassungsansprüche in Betracht kommen.
Geht es dagegen um Maßnahmen, die eine Zahnstellung „behandeln“ und verändern sollen, die nicht von der Norm abweicht bzw. keine Anomalie darstellt, könnte ein solche Tätigkeit zwar vom Approbationsvorbehalt des ZHG ausgenommen sein, fraglich ist jedoch, wie sinnhaft sie dann ist. Schon die Drehung eines Zahns um nur 1 mm erfordert einen knöchernen Umbau und überschreitet damit sicherlich die Grenze der erlaubnisfreien Behandlung.
Überdies dürfte dem Patienten ohne persönlichen Arztkontakt unklar bleiben, ob bei ihm eine dem Arztvorbehalt unterliegende Zahnfehlstellung oder eine allenfalls marginale Anomalie besteht. Hieraus resultieren erhebliche Probleme der Patientenaufklärung und es bleibt unklar, über welche zahnärztliche Qualifikation der jeweilige Entscheidungsträger des Schienenlieferanten verfügen soll. Eine Abgrenzung kann konsequenterweise nur durch einen Zahnmediziner erfolgen, da einem Nicht-Zahnmediziner die Qualifikation fehlen dürfte.
Therapien mit partieller zahnärztlicher Begleitung:
Wenn ein Zahnarzt das Behandlungskonzept allein auf Basis eines vom Patienten selbst anfertigten Abdrucks erstellt und seine Tätigkeit hierauf beschränkt, ist zwar nicht von einer unzulässigen Ausübung der Zahnheilkunde auszugehen, allerdings stellt sich die Frage der Einhaltung gültiger Behandlungsstandards. Dies betrifft vor allem die ordnungsgemäße Anamnese- und Befunderhebung, die Durchführung von Vorbereitungsmaßnahmen sowie Verlaufs- und Nachkontrollen. Erwartbar ist, dass ein Gutachter im Schadensfall (Verschlechterung der Zahnfehlstellung, Hervorrufen einer neuen/weiteren Zahnfehlstellung, Entzündungen, Entkalkungen, Karies etc.) infolge einer nicht zahnärztlich überwachten Schienentherapie zu dem Ergebnis kommt, dass eine ordnungsgemäße Therapie die vollständige Befunderhebung insbesondere der Zahnstellungen, wie auch der Relation der Kiefer zueinander und des etwaigen Vorliegens von Problemkonstellationen, das Stellen der Indikation, die Planung und die Verlaufskontrolle durch einen Zahnarzt erfordert. Damit dürfte das entsprechende Unterlassen des sich auf die Planung beschränkenden Zahnarztes eine Standardunterschreitung darstellen und eine Haftung für die Folgen der fehlgeschlagenen Schienentherapie begründen.
Wenn man sich weiter verdeutlicht, dass eine solche Standardunterschreitung planmäßig für eine Vielzahl von Behandlungsfällen sehenden Auges in Kauf genommen wird, liegt es nahe, darin eine Verletzung der Pflichten des Zahnarztes zur gewissenhaften Berufsausübung und Beachtung der Regeln der zahnmedizinischen Wissenschaft nach § 2 Abs. 2 lit. und der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammerzu sehen.
Zudem ist das in § 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) aufgestellte Verbot der Fernbehandlung eine Marktverhaltensregelung und der Verstoß eine Ordnungswidrigkeit nach § 15 Abs. 1 Nr. 6 HWG, so dass Unterlassungsansprüche durchgesetzt werden können, wenn für die Erkennung und Behandlung von Krankheiten geworben wird, die nicht auf eigener Wahrnehmung des Zahnarztes an dem Patienten beruhen.
Schließlich ist bei Beginn einer Schienentherapie ohne Arzt-Patienten-Kontakt nicht denkbar, dass zuvor eine Aufklärung über die mit der Therapie verbundenen behandlungsimmanenten Risiken im Wege eines persönlichen Gesprächs zwischen Arzt und Patient erfolgt ist. Demnach kann der Patient eine entsprechende Einwilligung nicht wirksam erteilen, so dass bei Auftreten von Gesundheitsbeeinträchtigungen von strafbaren Körperverletzungen auszugehen ist. Damit kann man Zahnärzten nur abraten, an einer kieferorthopädischen Schienentherapie dergestalt mitzuwirken, dass nur Teilleistungen in Kenntnis des Unterlassens weiterer medizinisch notwendiger Leistungen erbracht werden.
Therapie unter vollständiger therapeutischer Hoheit eines Zahnarztes:
Keine Bedenken bestehen (natürlich) gegen die vollständig persönlich-zahnärztlich betreute Versorgung mit Schienen, sofern diese den Standards entsprechen.
Wie entscheidend ist die Abgrenzung zwischen einer rein kosmetischen und einer medizinischen Behandlung?
Aus juristischer Sicht ist grundsätzlich denkbar, dass eine Zahnfehlstellung nur ästhetisch problematisch ist, wie auch, dass (zusätzlich) funktionale Probleme aus der Fehlstellung resultieren. Im ersten Fall bestünde also eine rein kosmetische Behandlungsindikation, im zweiten zumindest auch eine relative medizinische Indikation. Bei einer medizinischen Indikation ist nach meiner Auffassung stets von einer Ausübung der Zahnheilkunde auszugehen, da in diesen Fällen wohl immer eine behandlungsbedürftige Anomalie der Zahnstellung gegeben sein dürfte. Dies kann auch bei einer rein kosmetischen Indikation der Fall sein, muss aber nicht. Insofern ist für die Frage, ob eine Approbation erforderlich ist, allenfalls eine Abgrenzung innerhalb der kosmetischen Indikationen vorzunehmen.
Welchen haftungsrechtlichen Anspruch können Patienten haben?
Die nicht lege artis oder ohne ordnungsgemäße Aufklärung ausgeführte und zu einem Schaden führende Behandlung begründet stets einen Schadenersatzanspruch gegenüber dem Behandler. Die Behandlerhaftung ist aber faktisch begrenzt durch seine wirtschaftliche Potenz. Bei einem Zahnarzt greift regelmäßig auch im Falle seiner persönlichen Insolvenz dessen Haftpflichtversicherung, die in diesem Ausnahmefall nach § 115 Abs. 1 Nr. 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) direkt in Anspruch genommen werden kann.
Zusammenfassung:
Eine abschließende Bewertung kann erst erfolgen, wenn klar ist, in welchem Umfang sich Zahnärzte und Kieferorthopäden an den Online-Therapien mit Alignerschienen beteiligen. Zur Orientierung lässt sich sagen, dass umso weniger Bedenken bestehen, je mehr Therapieentscheidung und -hoheit in zahnärztlicher Hand bleiben, erforderliche Verlaufskontrollen durch Zahnärzte persönlich ausgeführt und diese Schienen eher im Sinne einer Produktwerbung beworben werden. Umgekehrt bestehen erhebliche Bedenken, wenn die Anbieter selbst dem Zahnarztvorbehalt unterliegende Behandlungsmaßnahmen anbieten oder aber darauf verzichten wollen, die zu fordernden vollständigen Behandlungsleistungen durch Zahnärzte erbringen zu lassen.
Carsten Wiedey ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Hamburg. www.arztanwalt.com
Carsten Wiedey ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Hamburg.www.arztanwalt.com