Große Extravasationszyste der Unterlippe
Eine 54-jähige Patientin berichtete, dass sie die Läsion erstmals vor circa einem Jahr bemerkt habe. Seitdem sei es zu einem progredienten Wachstum gekommen. An ein ursächliches Trauma konnte sie sich nicht erinnern.
Bei der Inspektion ließen sich keine Auffälligkeiten erkennen, palpatorisch zeigte sich jedoch ein weicher, leicht fluktuierender und zirkulärer Tumor in dem vorbeschriebenen Bereich, der leicht druckdolent und gut verschieblich war. Dental zeigte sich kein Sanierungsbedarf bei einem konservierend und prothetisch suffizient versorgten Restgebiss. Es folgte eine sonografische Untersuchung, in der sich eine 21 mm x 21 mm x 16 mm große, echoarme Raumforderung mit dorsalem Schallschatten im Sinne einer zystischen Veränderung in der rechten Unterlippe darstellen ließ (Abbildung 1).
Des Weiteren lagen vereinzelte ipsilaterale Lymphknoten mit einer Größe von bis zu 10 mm, jedoch ohne Malignitätszeichen vor. Bei klinischem und sonografischem Verdacht auf Vorliegen einer Schleimretentionszyste/Mukozele der Unterlippe erfolgte daher unter Lokalanästhesie die Entfernung derselben. Über einen 1,5 cm großen Schnitt konnte der kugelige Tumor vorsichtig unter Schonung aller Nachtbarstrukturen aus dem Gewebe enukleiert werden (Abbildung 2).
Die die Zyste deckende Schleimhaut wurde ebenfalls exzidiert. Ohne die Raumforderung eröffnet zu haben, wurde das Gewebe (Abbildung 3) zur anschließenden pathohistologischen Begutachtung gesandt, bei der das Vorliegen einer mit gallertartiger klarer Masse gefüllten Mukozele der Mundschleimhaut ohne epitheliale Auskleidung (Extravasationszyste) und ohne Malignitätszeichen bestätigt wurde. Die postoperative Wundheilung der Patientin war komplikationslos.
Diskussion
Mukozelen der kleinen Speicheldrüsen sind die häufigsten zystischen Läsionen der oralen Mucosa mit einer geschätzten Prävalenz von 2,5/1.000 Einwohner [Yamasoba et al., 1990]. Sie erscheinen typischerweise als asymptomatische, fluktuierende, nicht druckdolente Submukosatumore mit einer normalen, darüber liegenden Schleimhaut. Gelegentlich erscheint die Läsion bläulich, wobei die Variation in der Farbe von der Größe der Läsion, von ihrer Nähe zur Schleimhautoberfläche und von der Elastizität des darüber liegenden Gewebes abhängt. In vielen Fällen besteht eine klinische Assoziation mit einem Trauma eines sekretorischen Drüsenganges (zum Beispiel durch Beißen der Lippen, der Wange oder der Zunge) [Baurmash, 2003]. Die hohe Rate von Fällen, die die Unterlippe betreffen, kann dementsprechend der hohen Inzidenz von mechanischen Traumata in diesem Bereich zugeschrieben werden. Die Zunahme der Zahnlosigkeitsraten nach dem vierten Lebensjahrzehnt könnte den Rückgang der Mukozelenfälle in der Unterlippe im Laufe der Zeit erklären [Bodner et al., 2015].
Klassischerweise handelt es sich bei der enoralen Mukozele um eine schmerzlose, oft rezidivierende Schwellung, die bereits seit Monaten bis Jahren vor der Behandlung des Patienten vorhanden sein kann [Baurmash, 2003]. Obwohl Mukozelen in jedem Alter auftreten können, sind Kinder und junge Erwachsene am häufigsten betroffen.
Histologisch existieren zwei Haupttypen der Mukozelen. Die Majorität besteht aus Extravasationszysten ohne epitheliale, aber mit granulomatöser, pseudokapsulärer Auskleidung, bei denen nach einem Trauma Speichel aus dem beschädigten Kanal ins angrenzende Bindegewebe ausgetreten ist. Die andere, bei Erwachsenen seltener, bei Kindern so gut wie gar nicht vorkommende Variante ist die Retentionszyste, bei der es aufgrund einer Obstruktion des Kanals ohne Ruptur zur Bildung der mit duktalem Epithel ausgekleideten Zyste kommt. Extravasationsmukozelen kommen, wie im vorbeschriebenen Fall, am häufigsten in der Unterlippe vor [Granholm et al., 2009], während sich Retentionsmukozelen eher in der Wange und am Gaumen finden [Sela und Ulmansky, 1969].
Eine Sonderform ist die Ranula des Mundbodens, die meist lateral der Mittellinie im Mundboden, oberhalb des M. myelohyoideus liegt [Cavalcante et al., 2009]. Bei Überschreitung der Mittellinie präsentiert sich die Ranula oft zweigeteilt durch das Zungenfrenulum. Durchdringt sie die Mundbodenmuskultur (cervicale Ranula; Synonym: plunging Ranula) erscheint sie häufig als schmerzlose, submentale Schwellung. Die Ranula entsteht in den meisten Fällen aus dem Ausführungsgang der Glandula sublingualis. Seltener geht sie von der Glandula submandibularis aus. Die Glandula sublingualis ist im Gegenteil zur Glandula submandibularis eine spontan sezernierende Drüse, die trotz Obstruktion weitersezerniert. Auf diese Weise kann eine Gangruptur zur Füllung eines nichtpräformierten Raumes mit mukösem Speichel führen [Bolm et al., 2011].
Die Therapie der Mukozele, und zwar aller Formen, ist die Exzision bis auf den darunter liegenden Muskel; sei es – wie im beschriebenen Fall – unter Lokalanästhesie oder in einer kurzen Vollnarkose [Han et al., 2012]. Alternativ wurde in der Literatur, insbesondere bei größeren Mukozelen und bei Gefährdung benachbarter Strukturen, über Marsupialisationen, kryochirurgische Entfernungen oder die Injektion von Kortikosteroiden berichtet. Generell ist die Rezidivrate gering, wobei bei einer nur teilweisen Entfernung des Gewebes oder bei erneuten mechanischen Traumata ein Wiederauftreten der Mukozelen nicht selten ist. Differenzialdiagnostisch zur Mukozele der Unterlippe sollten beispielsweise Fibrome, Lipome, Sialolithen, Phlebolithen und Neoplasmen bedacht werden, wobei die klinische Diagnose meist pathognomonisch ist.
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, M.A., FEBOMFS
Leitender Oberarzt und Stellvertretender Klinikdirektor
Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2
55131 Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de
Fazit für die Praxis
Bei der Diagnose der oralen Mukozele kann man sich – neben der rein klinischen Befundung – vor allem der Sonografie bedienen, um die Tiefenausdehnung beurteilen zu können.
Aufgrund der gefährdeten Nachbarstrukturen sollte schonend operativ vorgegangen werden.
Bei der Ranula ist aufgrund der Rezidivhäufigkeit bei der Zystektomie und der Marsupialisation die Entfernung der Glandula sublingualis Therapie der Wahl.
Trotz eindeutiger Klinik ist die differenzialdiagnostisch ein malignes Wachstum in die Überlegungen einzubeziehen.
Literatur
1. Yamasoba, T., Tayama, N., Syoji, M. und Fukuta, M. (1990). „Clinicostatistical study of lower lip mucoceles.“ Head Neck 12(4): 316–320.
2. Baurmash, H. D. (2003). „Mucoceles and ranulas.“ J Oral Maxillofac Surg 61(3): 369–378.
3. Bodner, L., Manor, E., Joshua, B. Z. und Shaco-Levy, R. (2015). „Oral Mucoceles in Children--Analysis of 56 New Cases.“ Pediatr Dermatol 32(5): 647–650.
4. Granholm, C., Olsson Bergland, K., Walhjalt, H. und Magnusson, B. (2009). „Oral mucoceles; extravasation cysts and retention cysts. A study of 298 cases.“ Swed Dent J 33(3): 125–130.
5. Sela, J. und Ulmansky, M. (1969). „Mucous retention cyst of salivary glands.“ J Oral Surg 27(8): 619–623.
6. Cavalcante, A. S., Rosa, L. E., Costa, N. C., Hatakeyama, M. und Anbinder, A. L. (2009). „Congenital ranula: a case report.“ J Dent Child (Chic) 76(1): 78–81.
7. Bolm, I., Kämmerer, P. W. und Walter, C. (2011). „Differentialdiagnose zystischer Raumforderungen am Mundboden: Ranula der Glandula sublingualis.“ Zahnärztliche Mitteilungen 101(24): 42–44.
8. Han, S. H., Baek, S. O. und Jung, S. N. (2012). „Mucocele in the buccal vestibule.“ J Craniofac Surg 23(6): 1928.