Dentaltourismus in Südosteuropa – Teil 1

Ausflug in den Wilden ̶W̶̶e̶̶s̶̶t̶̶e̶̶n̶ Osten

Sven Thiele
Mundhygieneunterweisungen? „Macht eh keinen Sinn!“ Reelle Kostenvoranschläge? „Wären nur abschreckend!“ Ich wollte wissen, wie Dentaltourismus funktioniert. Jetzt war ich mittendrin – als zahnärztlicher Berater einer südeuropäischen Zahnklinik, die sich auf deutsche Patienten spezialisiert hat. Was ich dort erlebt habe, hätte ich mir nicht träumen lassen.

Irgendwann hatte ich in London einen Patienten auf dem Stuhl, der seine Oberkieferversorgung von 15 bis 25, verblockt mit drei Brückengliedern, stolz vorzeigte. Wo er diese denn habe machen lassen, fragte ich ihn. Er antwortete, dass er die zehngliedrige Brücke von seiner Tochter zum Geburtstag geschenkt bekommen habe.

Für die gesamte Konstruktion hatte er 1.000 britische Pfund, also rund 1.110 Euro bezahlt.

„Pro Zahn ‘nen Hunni, Herr Doktor!“

 „Pro Zahn ‘nen Hunni, Herr Doktor“, strahlte er mich an. Wie bitte? Ja, ich hatte richtig gehört. Spätestens nach dieser Aussage fragte ich mich, was dran ist, an jenem unschlagbar günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis, an den Versprechen von hochwertiger Zahnmedizin, modernsten Geräten und einem unglaublichen Service, den es in Deutschland gewissermaßen nicht geben soll? Es war an der Zeit, irgendwo in Südosteuropa – vielleicht am Schwarzen Meer? – anzuheuern und zu erfahren, wie es sich tatsächlich verhält, mit den Versprechungen der Marketingstrategen und den scheinbar begeisterten Patienten. Das Vorhaben ließ sich relativ einfach realisieren und ein paar Wochen reichten aus, um zu sehen, wie nackt der Kaiser ist.

Und so läuft das Geschäft: Die Patienten schicken ihren in Deutschland erstellten HKP an eine der Kliniken oder rufen direkt im Callcenter mit der Frage an, was es dort im Unterschied zu Deutschland kosten würde. Das Gegenangebot basiert meist auf den vom deutschen Zahnarzt angegebenen Gebührenpositionen und liegt deutlich darunter. Und die Kollegen im Callcenter sind Profis, was die kommunikative Überzeugungsarbeit betrifft.

Den Patienten wird angeboten, die komplette Reise zu buchen – schon geht es los: Transfer vom Airport und die Erstuntersuchung direkt nach der Ankunft.

Hilfe, die Zahnärztin kann ja gar kein Deutsch!

Eine junge Zahnärztin, unerfahren und des Deutschen in drei oder vier Worten mächtig, nimmt den Befund mit einer ebenfalls radebrechend Deutsch sprechenden Helferin auf. Die Patientin auf dem Behandlungsstuhl wirkt etwas verwirrt angesichts der Situation. Man ruft nach einer Dolmetscherin, die zehn Minuten später erscheint.

Es geht weiter zur Cone-Beam-Aufnahme. Danach bekommt die Frau ihre weiteren Termine genannt und soll am nächsten Tag zur Befundbesprechung und Vertragsunterzeichnung wiederkommen.

Die Behandlungsplanung erfolgt wie in den Ford-Autowerken – standardisiert. „Warum sollen denn diese drei Zähne im Oberkiefer extrahiert werden? Man könnte die doch belassen und gegebenenfalls später ziehen und durch ein Implantat ersetzen“, frage ich einen Kollegen, „die sind doch noch erhaltungswürdig.“ Antwort: „Wir müssen so planen, dass der Patient nach Möglichkeit nicht wiederkommt. Außerdem würden die Zähne unserer Planung für sofortbelastbare Implantate im Wege stehen.“ Interessant.

Am folgenden Tag werden der Patientin von einem Mitarbeiter, dessen Ausbildung in zahnmedizinischen Fragen und Zusammenhängen allenfalls als rudimentär zu bezeichnen ist, zwei aufgeblasene Behandlungs-pläne vorgestellt. Von den Kosten reicht die Zirkonoxid-Variante an den Plan des deutschen Kollegen heran.

Notwendige Wurzelkanalbehandlungen, Knochenaufbau und natürlich die besseren Materialien sind die Argumente des Verkäufers. „Sie wollen doch später keinen Trauerrand an den Kronen sehen, oder?“ – „Ja, aber von den anderen Behandlungen war doch in Deutschland gar keine Rede“, gibt die verunsicherte Patientin zu bedenken. „Wir haben hier eben die bessere Ausrüstung und können viel genauer sehen, was wirklich zu machen ist“, bekommt sie vom Verkäufer zur Antwort, während er gleichzeitig am Bildschirm die dreidimensionale Abbildung ihres intraoralen Zustands hin- und herdreht.

Der Patient wird ungern vom Haken gelassen

Man merkt, dass die Patientin einerseits noch die Versprechungen günstiger Preise im Kopf hat, andererseits jetzt aber mit anderen Gegebenheiten konfrontiert wird. Warum eigentlich eine Revision der Wurzelkanalbehandlung? Der Zahn ist doch seit 15 Jahren symptomlos. Ach so, der alten Wurzelfüllung fehlen 1,5 mm bis zum Apex. Aber da ist doch im Röntgenbild gar keine Veränderung an der Wurzelspitze zu sehen. Richtig, aber die könnte ja noch kommen. Außerdem ist die erneute Wurzelkanal-behandlung nur ein kleiner Betrag auf der Rechnung. Genau. Einer unter vielen der Kostenplanung. Bei der Patientin rattert es im Kopf.

Es gibt kaum etwas auf dieser Welt, das nicht irgend jemand ein wenig schlechter machen und etwas billiger verkaufen könnte, und die Menschen, die sich nur am Preis orientieren, werden die gerechte Beute solcher Machenschaften. Es ist unklug, zu viel zu bezahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu bezahlen. Wenn Sie zu viel bezahlen, verlieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie dagegen zu wenig bezahlen, verlieren Sie manchmal alles, da der gekaufte Gegenstand die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllen kann. Das Gesetz der Wirtschaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten. Nehmen Sie das niedrigste Angebot an, müssen Sie für das Risiko, das Sie eingehen, etwas hinzurechnen. Und wenn Sie das tun, dann haben Sie auch genug Geld, um für etwas Besseres zu bezahlen.

John Ruskin, englischer Sozialreformer

Jetzt hat sie seit Monaten überlegt, ob sie das Abenteuer Zahnarzt im Ausland wagen soll, sich schließlich dazu entschlossen und all ihren Freunden, Bekannten und Verwandten erzählt, dass sie sich die über Jahre vernachlässigten Zähne im Ausland in Ordnung bringen lässt. Wie steht sie denn jetzt da, wenn sie einfach so wieder abreist!? „Haben wir dir ja gleich gesagt!“, „Das Geld für die Reise hättest du dir sparen können!“, „Geh‘ doch mal zu Dr. Schmitt, der hat auch vernünftige Preise!“ sind die Reaktionen, die wahrscheinlich zu Hause auf sie zukämen.

„Wäre es nicht vielleicht eine Idee, den Patienten zukünftig ein paar Stunden oder Tage Zeit zu geben, um über eine Entscheidung nachzudenken?“, frage ich den Mitarbeiter der Vertragsabteilung. „Nein, wir haben ja enge Zeitpläne. Außerdem lasse ich die Patienten ungern vom Haken, wenn ich sie einmal hier habe“, ist seine Antwort. Nicht nur Zeit ist Geld, auch die Quote muss stimmen. Wer es nicht schafft, eine bestimmte Quote an Vertragsabschlüssen zu erzielen, bekommt keinen Bonus. Der ist dreistufig und bei dem Preisgefüge in diesem südosteuropäischen Land nicht zu unterschätzen. Gleiches gilt für die Quote beim Verkauf von Zirkonoxidversorgungen anstelle der VMK-Prothetik.

 „Sollten die von der Klinik vorab gegebenen Kostenvoranschläge nicht näher am späteren tatsächlichen Betrag liegen?“, schlage ich in einem Meeting vor. „Nein, das geht nicht. Dann würden sich die Patienten nicht dafür entscheiden, zu uns zu kommen. Außerdem steht auf jedem unserer Angebote, dass der genaue Preis erst nach einer Untersuchung vor Ort ermittelt werden kann. Darauf muss man die Patienten immer wieder mit Nachdruck hinweisen“, lautet die Antwort.

Die Behandlung der Patientin beginnt, und als ich zu einer der Sitzungen hinzukomme, scheint sie sichtlich erleichtert, dass es jemanden im Zimmer gibt, der ihr die einzelnen gerade stattfindenden Behandlungsabläufe auf Deutsch erklären kann. Der junge Zahnarzt aus einem Nicht-EU-Staat gibt sich alle Mühe, trotz seines Gehalts von weniger als 1.000 Euro pro Monat, die Behandlung einen Erfolg werden zu lassen.

Gearbeitet wird bis spät in die Nacht, egal wie

„Wie sehen denn deine Planungen in der Spätschicht aus?“, frage ich ihn. Er schaut mich an und sagt: „Ich habe heute Abend noch zwei Stunden für die Präparation eines Ober- und Unterkiefers eingeplant bekommen. Brücken, Kronen, Inlays.“ Gearbeitet wird bis spät in die Nacht, egal wie – die Patienten müssen versorgt werden. Denn der Aufenthalt der Kunden ist begrenzt, das Zeitfenster entsprechend klein.

Angesichts der bei vielen desolaten, über Jahre vernachlässigten Mundgesundheit geht mir die Frage durch den Kopf, wie man denn zukünftige Probleme bei diesen Implantatpatienten vermeiden will. Es ist schließlich allgemein bekannt, dass die Prävalenz für eine Periimplantitis bei bis zu 40 Prozent der Implantatversorgungen liegen kann [Athieh et al., 2013]. Bei 20 Prozent der Patienten liegt die Prävalenz bei fünf bis zehn Jahren [Frisch, 2014]. „Bekommen die Patienten eine eingehende Mundhygieneunterweisung, damit wir eine hohe und langfristige Erfolgsrate haben?“, lautet daher meine Frage an den Chefarzt der Klinik. „Wir sagen den Patienten, dass sie eine Munddusche benutzen sollen und regelmäßig putzen. Denen mehr zu erzählen, macht eh keinen Sinn.“ Damit ist das Gespräch für ihn beendet.

Die Munddusche reicht!

Tage später komme ich zur Nachbehandlung eines Patienten, der seine festsitzende Versorgung vor etwa einem Jahr erhalten hatte. Man ist sichtlich bemüht, die Ursache für eine Keramikabsplitterung an der labial-incisalen Fläche eines oberen Einsers zu finden. Nach längerer Diskussion sind sich die Behandler einig, dass man den Biss überprüfen sollte. Vielleicht hätten die Probleme auch verhindert werden können, wenn man bei der einzeitigen Insertion des ZE einen Gesichtsbogen und weitere gnathologische Hilfsmittel verwendet hätte. Aber das ist nur so ein Gedanke. Einzelfälle? Keineswegs, pro Monat gibt es etwa 100 größere und kleinere Reklamationen.  

Sven Thiele

Zahnarzt, Autor und Dozent Seine Erfahrungen als Berater einer Dentalklinik in Südosteuropa hat er in seinem neuen Buch verarbeitet, das Anfang 2020 erscheint.

Dr. Sven Thiele

Sven Thiele ist Zahnarzt, Autor und Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er über die Zahnheilkunde im Vereinigten Königreich, u.a. in dem Bloghttps://foreigndentist.wordpress.com(deutsch). 

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