Rund 1,6 Millionen Deutsche sind Analgetika-abhängig
In der Studie wurden stichprobenartige Befragungen von mehr als 9.000 Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren, bezogen auf den Substanzkonsum legaler sowie illegaler Drogen im Zeitraum der vergangenen zwölf Monate, durchgeführt. Dabei war die Gebrauchsprävalenz nichtverordneter Analgetika mit 31,4 Prozent nahezu doppelt so hoch wie die vom Arzt verordneter Analgetika mit lediglich 17,5 Prozent. Auf die Wohnbevölkerung hochgerechnet sei demnach bei etwa 1,6 Millionen Deutschen von einer Analgetikaabhängigkeit auszugehen. Dabei lag der Anteil der Frauen, die in den 30 Tagen vor der Befragung Medikamente eingenommen haben, deutlich höher als der von Männern.
Schmerzmittel spielen bei Süchten eine große Rolle
„Diese Zahlen verweisen auf die große Bedeutung der Abhängigkeit von Medikamenten, insbesondere von Schmerzmitteln“, erläutern die Autoren Andreas Heinz und Shuyan Liu. „Dieses Problem ist vordringlich durch nicht-opiathaltige Analgetika bedingt. So können beispielsweise bei chronischen Kopfschmerzen Symptome einer Abhängigkeit von Paracetamol, Koffein und Ergotamin auftreten. Bisher gibt es kaum Untersuchungen zu den Risikofaktoren für die Entwicklung einer derartigen Medikamentenabhängigkeit und zu den hier relevanten neurobiologischen Mechanismen. Diese Forschungslücke sollte dringend geschlossen werden, zumal Medikamente in solchen Fällen auch ärztlich verschrieben werden.“
Das Institut für Therapieforschung gibt in seiner aktuellen Studie zur Schmerzmittelabhängigkeit zwar Entwarnung: Eine befürchtete zunehmende Schmerzmittelsucht – insbesondere durch Opioide – habe sich nicht bewahrheitet. Allerdings gebe es eine bedenkliche Entwicklung hin zu frei verkäuflichen Medikamenten im Analgetikabereich. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) stellt sich deshalb gegen die unkontrollierte Abgabe von Schmerzmitteln. DGS-Präsident Dr. med. Johannes Horlemann bestätigt, „dass auch der unsachgemäße Gebrauch frei verkäuflicher nicht-opioidhaltiger Analgetika über einen längeren Zeitraum – ab 15 Tage pro Monat – bedenklich sein kann“. Es könnten Medikamenten-induzierte Kopfschmerzen ausgelöst oder ein weiterer Medikamentenmissbrauch bis hin zur Abhängigkeit induziert werden.
Der freie Verkauf sollte beschränkt werden
Nach ESA-Daten aus dem Jahr 2015 wird die Prävalenz einer Gebrauchsstörung durch Opioidanalgetika nach der 5. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) auf 1 Prozent und der Anteil aller durch Analgetika verursachten psychischen Störungen auf 12 Prozent geschätzt. Diese Daten zeigen für Horlemann, dass der Großteil der Abhängigkeitserkrankungen durch freiverkäufliche Analgetika und nicht durch opioidhaltige Analgetika ausgelöst wird. „Somit unterstützt die Datenlage eine seriöse Opioidtherapie im schmerzmedizinischen Bereich“, betont Horlemann.
Allerdings sei die Verschreibung von Opioiden in Deutschland nicht mit der Entwicklung in den USA vergleichbar: Auch wenn die Schmerzmittelabhängigkeit in ihrer Prävalenz die Alkoholabhängigkeit überholt habe, gebe es Hinweise dafür, dass in erster Linie die psychische Komorbidität bei Schmerzmittelsucht im Nicht-Opioidbereich die Problematik in Deutschland erklärt. Daher unterstütze die DGS die Initiative von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, die freie Abgabe von Schmerzmitteln an Patienten verstärkt zu kontrollieren beziehungsweise zu beenden.
Atzendorf J, Rauschert C, Seitz NN, Lochbühler K, Kraus L: The use of alcohol, tobacco, illegal drugs and prescribed medicines – an estimate of consumption and substance-related disorders in Germany. Dtsch Arztebl Int 2019; 118: 577–84
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Pfeiffer-Gerschel, T.: Die süchtige Gesellschaft, IFT 2019, in: Psychotherapie Aktuell, 11. Jahrgang, Ausgabe 3/2019