Endstation Dentalkette: Rendite ist King
Die in Deutschland seit einiger Zeit in verschiedenen Medien diskutierte Übernahme von Zahnarztpraxen durch Praxisketten und ihre Ausbreitung sind kein Naturereignis. Vielmehr sind sie das Resultat eines Gesetzes, von dem Politiker einst behaupteten, es sei dazu da, um Versorgungsproblemen auf dem Land entgegenzuwirken. Gut gemeint ist bekanntlich nicht gut gemacht, und der Versuch, Gutes zu tun, endete mehr als einmal in der Katastrophe.
Wer an dieser Stelle bereits denkt, dass eine solche Argumentation ein bisschen übertrieben sei, der gibt sich als jemand zu erkennen, der nicht ansatzweise eine Ahnung davon hat, wie zahnärztliche Praxisketten in Deutschland die Ausübung der Zahnmedizin, die Versorgungsqualität von Patienten, die Therapiefreiheit der Behandler und die Arbeitsbedingungen für Helferinnen verändern werden. Denn um das zu verstehen, muss man nicht nur über die Grenzen Deutschlands schauen, sondern in gleichem Maße die Fähigkeit besitzen, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Veränderungen im Lande selbst seit den 1990er-Jahren wahrzunehmen.
Seit „Die-Rente-ist-sicher“-Blüm wollte jeder Gesundheitsminister seine Marke setzen. Spätestens mit Seehofer war so ziemlich auch dem letzten Kassenzahnarzt klar, wohin die Reise gehen muss, sollte die eigene Praxis wirtschaftlich gesund in die Zukunft geführt werden. In zunehmenden Maße wurden Privatleistungen angeboten, einige mehr, andere weniger sinnvoll. Patienten wurden für ihre Zahngesundheit sensibilisiert, die Medien unterstützten diese Veränderungen. Mit Fortschritten in der Implantologie öffneten sich nicht nur neue und interessante Behandlungsoptionen, sondern ebenso zusätzliche Möglichkeiten aufseiten der Praxiseinnahmen.
Vom Ausland aus betrachtet hat sich die Zahnmedizin in Deutschland im europäischen und im Weltmaßstab auf eine Spitzenposition vorgearbeitet: Das Gesundheitssystem ist verglichen mit anderen Ländern finanziell gut ausgestattet, es gibt hervorragend ausgebildete, an Weiterbildung interessierte Kolleginnen und Kollegen mit einer Praxisausstattung auf sehr hohem Niveau und motivierten, sich fortbildenden Helferinnen. Patienten sind gern bereit, für Leistungen dazuzuzahlen. Hervorragend – als Investor – sich jetzt die gesetzlichen Möglichkeiten im System zunutze zu machen.
Einzelpraxis in der Pampa? Harakiri für Zahnärzte
Ganz anders sieht es zur gleichen Zeit im Vereinigten Königreich aus. Ein unterversorgtes und unterfinanziertes System der Zahnheilkunde innerhalb des National Health Service (NHS). Neben Geldern, die in unendlichen Tiefen eines bürokratischen Kraken versenkt werden, sorgte 2006 eine Reform der zahnärztlichen Gebührenordnung für eine weitere Verschlechterung der Lage. Eröffnete irgendwo auf dem flachen Land eine Zahnarztpraxis, bildeten sich nicht selten Patientenschlangen bis zum Horizont. Der NHS war bestrebt, die Zahl der Zahnarztpraxen zu erhöhen, allerdings glich es einem wirtschaftlichen Harakiri, als Zahnarzt in einer unterversorgten Region eine Einzelpraxis aufzumachen. Das lag am neu geschaffenen Gebührensystem für Zahnärzte. Nicht mehr individuelle Abrechnungspositionen wurden von nun an vergütet, sondern vier Behandlungsgruppen eingeführt. Kurz gefasst: Egal ob eine Füllung erbracht wird oder drei Füllungen und eine Wurzelkanalbehandlung sowie obendrauf noch zwei Extraktionen – es wird derselbe Betrag gezahlt. Ebenso im prothetischen Bereich: Es spielt keine Rolle, ob der Patient eine Unterkieferteilprothese bekommt oder eine Oberkiefertotalprothese und zwei Kronen im Unterkiefer mit einer Teilprothese – auch hier gibt es jeweils dasselbe Geld. Laborkosten, wie hoch auch immer sie sein mögen, sind ebenfalls abgegolten. Jeder dieser vier Behandlungsgruppen entspricht ein „Punktwert“, sogenannte Units of Dental Activity (UDA). Vom NHS bekommt eine jede Zahnarztpraxis ein bestimmtes Kontingent an UDAs pro Jahr. Erbringt man mehr Leistungen, dann werden diese nicht bezahlt, liegen die erbrachten Leistungen darunter, müssen die Praxisinhaber nicht nur Geld zurückzahlen, sondern gleichzeitig auch eine Strafzahlung.
Wer clever ist, kauft NHS-Praxisketten
Eröffnete ein Zahnarzt seine Praxis in einem bisher unterversorgten Gebiet, dann musste der Bohrer glühen wie der Hochofen bei Krupp in Essen, um die Illusion einer wirtschaftlichen Praxisführung zu erzeugen. Allerdings, entgegen den Aussagen deutscher Politiker, ist nichts wirklich alternativlos. Wer clever ist, weiß, wie es geht. Man gründet eine Limited, nimmt Geld aus der reich gefüllten Portokasse, nachdem man zuvor „Short“ in Derivate gegangen ist und kauft bestehende Praxen mit NHS-Verträgen. In diese Praxen setzt man ein paar zusätzliche Behandlungsstühle und junge Zahnärzte aus europäischen Ländern, denn ausreichend englische Zahnmediziner stehen nicht zur Verfügung. Verträge innerhalb der EU machen es möglich, problemlos das griechische, portugiesische, spanische oder rumänische Examen in Großbritannien anerkennen zu lassen, sich beim General Dental Council (GDC) als Zahnarzt zu registrieren und eine Zulassung beim NHS zu beantragen. Das ist besonders attraktiv, da es in diesen und anderen europäischen Ländern nicht wirklich eine Zukunft für junge Zahnmediziner gibt. Diesen jungen Zahnärzten, froh darüber, endlich einen bezahlten Job zu haben und gegebenenfalls auch noch die Familie im Heimatland unterstützen zu können, gibt man einen Vertrag als Associate, was man als Partner, aber auch als Mitarbeiter übersetzen kann. In Deutschland wurden derartige Verträge einmal mit dem Label „Scheinselbständigkeit“ versehen. Bevor es mit dem Bohren englischer unterversorgter Gebisse losgehen konnte, gibt es für die jungen Zahnmediziner eine mehrtägige Einführungsveranstaltung durch die jeweilige Praxiskette. Darin werden neben Grundlagen der NHS-Abrechnung und rechtlichen Bestimmungen auch wichtige Themen wie Gewalt in der Familie und das Erkennen von verdeckter Sklaverei, aber auch das wasserdicht-unangreifbar-gerichtsfeste Abfassen von Behandlungsnotizen behandelt. Zudem geht mehrmals täglich eine Liste im Saal herum, auf der die Teilnehmer unterschreiben, dass sie über das jeweilige Thema ausreichend, umfassend und verständlich aufgeklärt wurden. Schließlich muss man sich als Praxiskette ja auch absichern und rechtssicher beweisen können, alles als Unternehmen getan zu haben, wenn der selbstständige Mitarbeiter aus dem Ruder läuft.
Therapiefreiheit? Ja klar – auf dem Papier!
Ich hatte das Glück, einen Tag an solch einer Veranstaltung teilnehmen zu können und mich mit jungen Kollegen zu unterhalten. Diese hatten in Spanien an der Informationsveranstaltung einer englischen Zahnarztkette teilgenommen, direkt im Anschluss daran einen Vertrag unterschrieben, ihre Koffer gepackt und sich ein paar Tage später auf die Reise ins Königreich gemacht, ohne zu wissen, in welcher Stadt genau sie von der Zahnarztkette eingesetzt werden sollten. Irgendwann später, nachdem sie sich in einer Praxis innerhalb eines bisher unterversorgten Gebiets wiederfanden, haben sie langsam begriffen, wie heiß sie den Bohrer glühen lassen müssen, um ein halbwegs vernünftiges Gehalt zu bekommen. Gern werben die Ketten auch mit internen Akademien und Fortbildungen. Aber manchmal ist es wie mit den tollen Angeboten auf einer Kaffeefahrt. Nicht alles an Lama-Gold war auch Gold. Die hausinternen Fortbildungen sind meist Veranstaltungen, in denen es den Unternehmen darum geht, sich nach außen abzusichern und Verantwortlichkeiten auf zahnärztliche Mitarbeiter zu übertragen. Wer an dieser Stelle noch altem Gedankengut nachhängt und denkt, dass es ja letztlich auch die Zahnärztin oder der Zahnarzt ist, der Verantwortung trägt, der ist noch nicht in der neuen schönen Welt der zahnärztlichen Praxisketten angekommen. Hier werden die Ansagen durch Praxis- oder Area-Manager gemacht, die von zahnmedizinischen Belangen oftmals so viel Ahnung haben, wie Oma Pachulke von der Quantentheorie. Es geht um Zahlen, Zahlen, Zahlen. Also um die Anzahl der erbrachten UDA und Privatleistungen. Kronenrand? Welcher Kronenrand? Prothese im Artikulator? Warum das denn, Okklusion kann man doch frei Hand gestalten!
„Ich habe gerade die neuen Zahlen vom Headquarter bekommen und wir sind mit unseren UDA im Rückstand. Könntet ihr nicht mal darüber nachdenken, ob die braune Verfärbung nicht doch schon eine Karies ist und mit einer Füllung versorgt werden muss! Außerdem bringt ein Inlay die vierfache Anzahl an UDAs gegenüber einer Amalgamfüllung.“
Reparatur? Erst wenn das Handstück steht!
Natürlich muss man auch darauf achten, dass die Kosten für Verbrauchsmaterialien nicht aus dem Ruder laufen. Zehn Spiegel, Sonden, Pinzetten pro Zimmer müssen reichen. Da geht die Helferin zwischendurch öfter mal sterilisieren. Nö, das Handstück müssen wir noch nicht zur Reparatur schicken, bringt zwar nur noch die halbe Leistung, dreht doch aber noch. Es spielt kaum eine Rolle, ob es sich um Praxisketten mit zwei oder drei Zahnarztpraxen handelt oder um die großen Player, deren größter immerhin mehr als 650 Praxen betreibt, Rendite ist King – und was interessieren vernünftige Arbeitsbedingungen oder eine zeitgemäße Zahnmedizin? Die Ausstattung wird erst erneuert, wenn auch endlos viele Packungen von Papierhandtüchern das aus irgendeinem Leck an der Behandlungseinheit austretende Wasser nicht mehr aufhalten können.
Angesichts der Arbeitsbedingungen und größtenteils schlechten Bezahlung, der nicht vorhandenen Wertschätzung ihrer Arbeit, ist die Fluktuation an Helferinnen hoch. Für viele Zahnärzte besteht das Problem inzwischen darin, aus diesen fließbandähnlichen Strukturen wieder ausscheiden zu können. Denn inzwischen ist der Markt an NHS-Zahnärzten in Großbritannien gesättigt.
Dental Therapists: Füllungen legen ohne Studium
Universitäten fahren die Zahl der Studenten bereits schrittweise zurück, ebenso bekommen nicht mehr alle Absolventen der Zahnmedizin eine Stelle als Ausbildungsassistent. Ausbildungen zur Dental Hygienist finden in London nicht mehr statt, stattdessen werden jetzt Dental Therapists ausgebildet, die zusätzlich zur Zahnreinigung auch Füllungen legen dürfen. Ein Schelm, wer Böses denkt, etwa nach dem Motto: Vielleicht kosten sie ja weniger als Zahnärzte, wenn sie in den Praxen arbeiten. Eine eigene Praxis zu eröffnen ist für Zahnärzte ebenfalls schwierig geworden, denn es gibt kaum noch neue Verträge mit dem NHS, das heißt, man muss zu überhöhten Preisen eine bestehende Praxis kaufen und steht dazu noch in Konkurrenz mit weiterhin expandierenden Praxisketten, selbst bei weniger attraktiven Standorten.
Gleichzeitig macht es das System immer schwieriger, eine eigene, unabhängige Praxis zu betreiben. Da sind zum einen Inspektionen durch die Quality Care Commission (CQC), zum anderen Forderungen des NHS nach einer volldigitalisierten Praxis bis 2020, genauso wie die neuen, europaweit geltenden Bestimmungen zum Datenschutz. Für Einzelpraxen entstehen dadurch organisatorische und finanzielle Herausforderungen, die von größeren Organisationsformen wesentlich einfacher abzufangen und zu tragen sind. Hinzu kommt, dass verschiedene Praxisketten eigene Dentallabore betreiben, was zu einer weiteren Konzentration des Umsatzes in wenigen Händen beiträgt.
Der Platz reicht nicht aus, um hier weiter in die Tiefe zu gehen und langfristige Entwicklungen darzustellen, jedoch dürften diese wenigen Beispiele ausreichend sein, um zu zeigen, dass es bei Praxisketten nicht um die Verbesserung der Versorgungsqualität von Patienten geht. Der Politik ist an solch einer Entwicklung durchaus gelegen, befriedigt sie doch einerseits die Interessen von Private-Equity-Firmen und macht es gleichzeitig aber auch den eigenen Behörden leichter, mit den Anbietern von zahnärztlichen Leistungen zu verhandeln.
In Großbritannien sind etwa 15 Prozent der zahnärztlichen Praxen in Ketten organisiert, wobei diese offizielle Zahl nicht die Praxisketten erfasst, deren Eigentümer im Hintergrund bleiben und auf einen einheitlichen „Brand-Name“ ihrer einzelnen Praxen verzichten.
Der derzeitige Einstieg von Investoren in die zahnärztliche Landschaft in Deutschland wird auch diese in zehn Jahren vollständig verändert haben. Mit welchem Druck dabei vorgegangen wird, wird in einem Artikel auf Spiegel Online deutlich, der über den Markteinstieg der Colosseum-Gruppe berichtet [www.spiegel.de]. Dieser (Marketing-)Artikel war länger als manch anderer Beitrag auf der Homepage zu finden, verschwand für kurze Zeit, um dann erneut aufzutauchen. Dieser Gruppe, einem Ableger der Jacobs-Stiftung („Jacobs Krönung“), gehören in Großbritannien etwa 120 Praxen.
Hat die deutsche Politik ein signifikantes Interesse an diesen tiefgreifenden Veränderungen? Man könnte auch fragen: Ist der Papst katholisch? Wäre es nicht im Sinne der politischen Agenda, würde die Politik handeln, so wie sie es beispielsweise beim Fahrdienst „Uber“ getan hat. Und eine derzeitige Reformierung der Zulassung zum Medizin- und Zahnmedizinstudium wird nicht jeder in Verbindung mit der Konzentration von Zahnarztpraxen bringen, unterstützt diese fatale Entwicklung jedoch langfristig. Dazu kommen dramatische Fortschritte im digitalen Bereich, die in den Zahnarztpraxen und Laboren fundamentale und bisher kaum vorstellbare Veränderungen in den nächsten fünf bis zehn Jahren nach sich ziehen werden. Investitionen in diese auf den Markt drängenden digitalen Techniken werden genauso wie die zunehmenden bürokratischen Hürden von Einzel- oder kleinen Gemeinschaftspraxen nicht mehr zu bewältigen sein. Und wer glaubt, dass Banken ein Interesse daran haben, Zahnarztpraxen in der Nähe von bestehenden Versorgungszentren zu finanzieren, der denkt auch, dass die Erde eine Scheibe ist.
Allerdings, das liegt in der Natur der Sache, ergibt sich durch diesen Konzentrationsprozess auch eine brillante Chance für Zahnärzte, die keine Lust auf das Hamsterrad haben und ihren Beruf als Herausforderung zur bestmöglichen Versorgung ihrer Patienten ausüben. Denn Versorgungszentren wird es mittel- und langfristig unmöglich sein, eine patientenzentrierte und hochqualifizierte, qualitativ erstklassige Zahnheilkunde zu bieten. Wer jedoch seine exzellenten zahnärztlichen Fähigkeiten ausbaut, eine absolut patientenzentrierte Praxiskultur schafft, ja, das ist in der Tat Arbeit, der hat alle Möglichkeiten in der Hand, jenseits von Versorgungszentren eine Patientenklientel zu behandeln, der diese gesundheitspolitischen Entwicklungen ebenso wenig gefällt und die Wert auf persönliche Betreuung und hochwertige Zahnmedizin legt.
Viele, die heute hauptsächlich über eine Work-Life-Balance schwadronieren, werden in wenigen Jahren im Hamsterrad aufwachen und sich darüber wundern, wie wenig ihre noch vorhandenen ethischen Gedanken mit dem zu tun haben, was sie aufgefordert werden, umzusetzen, um für die Rendite zu sorgen, die man als Investor von seinem zahnärztlichen Versorgungszentrum erwartet.
Sven Thiele ist Zahnarzt, Autor und Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er über die Zahnheilkunde im Vereinigten Königreich, u.a. in dem Blog www.foreigndentist.wordpress.com (deutsch).
Literaturhinweis:
www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/deutschland-grossinvestoren-kaufen-zahnarztpraxen-a-1209882.html