Ein Protokoll der Vergangenheit – was Zähne verraten
Ob sie häufiger zum Zahnarzt gehe, seitdem sie wisse, wieviel Zähne selbst nach Tausenden von Jahren noch über einen Menschen verraten? „Um ganz ehrlich zu sein: Ja!“, sagt Dr. Tanya M. Smith im Interview mit den zm. „Ich gehe seitdem jedes Jahr mindestens ein-, möglichst zweimal zur Kontrolle – und habe ein sehr schlechtes Gewissen, wenn ich meinen Kaffee mit Zucker trinke“, fügt sie lachend hinzu. Am Anfang ihrer akademischen Karriere hätte es sich die ehemalige Harvard-Dozentin nicht träumen lassen, dass sie so viel Zeit in dunklen Laboren verbringen würde, um dort hauchdünne Scheiben uralter Zähne unter die Lupe zu nehmen.
„Ich wollte eigentlich Primaten in freier Wildbahn beobachten, um die Evolution besser zu verstehen“, erzählt die US-Amerikanerin, die zurzeit am Australian Research Center for Human Evolution an der Griffith University in Brisbane lehrt und forscht. „Ich hätte nicht erwartet, dass man aus Zähnen solche präzisen und auch intimen Informationen herausholen kann.“ Das habe sie als Studentin auf der Stelle fasziniert und motiviere sie bis heute.
Zähne sind eine raffinierte Zeitmaschine
„Nahezu jeder, mit dem ich über meine Forschung spreche, weiß, dass Bäume Jahresringe bilden. Aber nur wenige wissen, dass auch ihre eigenen Zähne ein Protokoll der Vergangenheit sind. Sie ermöglichen Rückschlüsse auf Wachstum, Gesundheit, Ernährung und unsere Evolution“, schreibt Tanya M. Smith in ihrem Buch. Selbst vielen Zahnärzten sei nicht bewusst, dass Zähne eine raffinierte Zeitmaschine seien.
Sie sagen viel aus über Kinderzähne
Smith setzt sich in ihrer Forschung unter anderem intensiv mit der Analyse fossiler Kinderzähne auseinander. Diese seien besonders interessant, weil Zellen dem Zahn jeden Tag eine neue Linie hinzufügen, die von der Zahnkrone bis zur -wurzel reicht. Dieser Prozess beginnt vor der Geburt und endet erst, wenn die Gebissentwicklung im Alter von circa 20 Jahren abgeschlossen ist.
Die Anthropologin geht in ihrem 277 Seiten umfassenden „The Tales Teeth Tell“ besonders auf die neonatale Linie ein, die den Tag der Geburt markiert. Diese hebt sich von den anderen ab, weil sie deutlich dunkler ist. Grund für die Verfärbung könne eine Veränderung des Kalziumlevels während oder kurz nach der Geburt sein – da sei sich die Forschung nicht einig. In jedem Fall verdeutliche die Verfärbung aber, dass die Geburt Stress für das Neugeborene bedeute, so Smith.
Stirbt ein Kind oder ein Jugendlicher, bevor das Zahnwachstum abgeschlossen ist, kann man die täglichen Linien ab der neonatalen Linie zählen und so das Alter bestimmen – fast auf den Tag genau und egal, vor wie vielen Tausend oder gar Millionen Jahren der- oder diejenige lebte. Keine andere forensische Methode der Altersbestimmung sei genauer, betont die Forscherin. Wie die Tageslinien im Zahnmaterial aussehen und wie sie interpretiert werden können, veranschaulicht „The Tales Teeth Tell“ mit zahlreichen schwarz-weißen und bunten Illustrationen. Smiths Buch gewährt einen umfassenden Einblick in die Forschungsfelder Anthropologie, Paläoanthropologie und Evolutionsbiologie. Es ist aber nicht nur für Wissenschaftler interessant. Denn: Es soll in erster Linie nicht die Forschergemeinde ansprechen, sondern die breite Öffentlichkeit. „Das Buch richtet sich an Menschen, die sich ganz allgemein für Wissenschaft und Evolution interessieren“, erklärt die Autorin im zm-Interview.
Einen großen Teil ihres Buches widmet Smith der Darstellung, wie sich die Zähne im Laufe der Evolution entwickelt haben – begonnen mit den ersten Wirbeltieren in den Meeren vor 500 Millionen Jahren. Die Forscherin beschreibt ausführlich, welche Rolle die Entwicklung von Zähnen und Gebissen dabei gespielt hat, wann und warum Wirbeltiere die Ozeane verließen und wie nach und nach erst Säugetiere, dann Primaten ins Spiel kamen und schließlich der Mensch.
Sie helfen, zivilisatorische Umbrüche zu erklären
In diesem Zusammenhang geht Smith darauf ein, welche Rückschlüsse auf Umwelteinflüsse, Stress und Krankheiten man aus fossilen Zähnen ziehen kann. Oder wie diese zivilisatorische Umbrüche dokumentieren. „Vergleicht man zum Beispiel Verschleißbilder von menschlichen Zähnen aus der Zeit der Jäger und Sammler mit solchen, die 10.000 bis 15.000 Jahre alt sind und aus der Zeit stammen, als die Landwirtschaft aufkam, zeigt sich: Die Zähne der Jäger und Sammler sind deutlich stärker abgenutzt“, berichtet Smith. „Das lässt vermuten, dass die Menschen mit Aufkommen der Landwirtschaft weichere, weniger faserige Nahrung zu sich nahmen.“
„The Tales Teeth Tell“, das bisher nur auf Englisch erschienen ist, enthält viele spannende Exkurse, zum Beispiel in die steinzeitliche Zahnheilkunde. „Schon seit mindestens 14.000 Jahren gibt es Eingriffe in den Kiefer, zum Beispiel die Extraktion von Zähnen“, heißt es im Kapitel „Tooth Manipulation through the Ages“. Darin beantwortet Smith auch kuriose Fragen, zum Beispiel, wie lange Zahnstocher schon in Gebrauch sind. Das könne seit fast zwei Millionen Jahren der Fall sein, verrät sie und verweist auf Spuren, die an den Gebissen von in Afrika gefundenen Homo habilis und Homo erectus entdeckt wurden.
Einen weiteren Exkurs widmet die Anthropologin ihrem ursprünglichen Lieblingsthema: den Affen. „Menschen, die in der Zahnmedizin arbeiten, finden es besonders interessant, über die Zahnpflegerituale der Schimpansen zu lesen“, sagt Smith im Interview und verweist auf die entsprechende Passage in „The Tales Teeth Tell“. Dort sind Bilder einer Gruppe von Schimpansen bei der Zahnpflege zu sehen: Ein Weibchen beugt sich über ein Männchen, das den Mund weit geöffnet hat, um dessen Zähne zu reinigen. „Das erinnert viele an die Situation am Zahnarztstuhl“, erzählt Smith.
Und sie dokumentieren Krankheiten
Egal, ob kurioses Wissen oder harte Fakten: Mit „The Tales Teeth Tell“ will Tanya M. Smith vor allen Dingen eines erreichen: „Ich würde mich freuen, wenn ich bei den Lesern dieselbe Anerkennung wecken kann, die ich dafür habe, wieviel man von einem kleinen Gegenstand wie einem Zahn über längst Vergangenes lernen kann.“ Zähne verrieten so vieles: wann ein Mensch gelebt habe, wie seine Kindheit gewesen sei, was er gegessen habe, ob er krank oder gesund gewesen sei. „Abgesehen von der DNA gibt es keinen anderen Bestandteil des Körpers, von dem man auch nach Tausenden und Millionen von Jahren noch so viel lernen kann. Zähne halten die Zeit fest – absolut wirklichkeitsgetreu.“
Susanne Theisen
Freie Journalistin aus Berlin