Die differenzialdiagnostische Betrachtung zervikaler Raumforderungen
Die Symptomatik und die Befundkonstellation einer lateralen Halszyste mit deutlich verändertem Aussehen sind für die betroffene Patienten meist beängstigend und belastend. Häufig manifestiert sich diese Erkrankung in der zweiten oder in der dritten Lebensdekade – wir stellen einen Patientenfall aus dieser Altersgruppe vor [Glosser et al., 2003].
Für die Entstehung einer lateralen Halszyste existieren mehrere Theorien, die sich seit der Ersterwähnung im Jahr 1832 durch Ascherson entwickelt haben [Golledge und Ellis, 1994]. Die gängige Theorie beschreibt eine Fehlentwicklung in der Embryonalphase, und zwar die Persistenz des Sinus cervicalis. Die anatomische Struktur des Sinus cervicalis entsteht aus dem zweiten, dritten und vierten Schlundbogen. Physiologisch bildet sich dieser Hohlraum selbstständig zurück. Wird diese Rückbildung nicht initiiert, verbleibt ein Residuum, das in der Regel nicht unmittelbar klinisch apparent wird. Als Auslöser für eine symptomatische Vergrößerung wird eine Infektion der Atemwege vermutet. Auch eine odontogene Infektion als möglicher Stimulus wurde durch Jänicke et al. im Jahr 1994 postuliert [Jänicke et al., 1994]. Folglich sehen sich auch Zahnärzte mit Patienten konfrontiert, die initial eine dentale Problematik bemerkt haben und die anschließend entstandene Schwellungszunahme im zahnärztlichen Zusammenhang sehen.
Als Goldstandard wird die frühzeitige operative Entfernung gesehen, wobei auf eine präzise Mitnahme aller assoziierten Strukturen zu achten ist, um keine Residuen zu hinterlassen. Zuwartendes Verhalten und eine Operation erst bei Symptomatik sind nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht empfohlen. Grund dafür ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zysteninfektion steigt und die In-toto-Exstirpation aufgrund von Verwachsungen erschwert oder gar unmöglich gemacht würde [Muller et al., 2015]. Ausnahmen hiervon könnten sehr junge Patienten sein, da in diesem Fall das Größenverhältnis von Zyste zu Hals nachteilig verändert wäre. Weitere Verfahren wie Inzision mit Drainage sowie Sklerotherapie haben sich nicht durchsetzen können.
Dem Credo „Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten“ folgend sind bei einer zervikalen Schwellung differenzialdiagnostische Betrachtungen anzustellen. Die aufgeführten Differenzialdiagnosen haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie orientieren sich vielmehr an der klinischen Relevanz.
Grundsätzlich ist zwischen benignen und malignen Raumforderungen zu unterscheiden. Bei vorliegender oder zumindest vermuteter Benignität stellt sich im chirurgischen Alltag zudem die Frage, welche Dringlichkeit eine operative Therapie hat. Häufig ist dies abhängig von der Genese. Handelt es sich um ein akut-inflammatives Geschehen, ist nicht selten eine unmittelbare Therapie vonnöten. Dies lässt an eine wichtige Differenzialdiagnose denken: odontogene Abszesse wie der Perimandibular- oder der Submandibularabszess. Eine Schwellung, die sich zervikal manifestiert, ist auch hier das Leitsymptom. Schluckbeschwerden und eine Atmungsproblematik können bei einem größeren Befund auftreten. In diesen Fällen ist eine zeitnahe Inzision von extraoral mit Drainage indiziert. Im Unterschied zur lateralen Halszyste kommen bei Abszessen jedoch häufig eine Verschlechterung des Allgemeinzustands und die klassischen Inflammationszeichen nach Galen hinzu. Die Mundöffnung kann bei muskulärer Beteiligung reduziert sein. Bei lateralen Halszysten ist dies in der Regel nicht der Fall, da diese kaudaler liegen. Ist die Raumforderung median oder medial lokalisiert, könnte es sich um eine Zyste des Ductus thyreoglossus oder eine mediane Halszyste handeln. Auch in diesen Fällen handelt es sich um embryonale Fehlentwicklungen.
Bei enger Lagebeziehung zum mandibulären Unterrand müssen Pathologien der Glandula submandibularis bedacht werden. Die Symptomatik lässt nicht selten Rückschlüsse auf die entsprechende Genese zu. Eine sich akut oder subakut demaskierende Symptomatik fußt meist auf inflammativem Geschehen im Sinne einer akuten eitrigen Sialadenitis oder einer Sialolithiasis. Bei rezidivierenden Schwellungszuständen ist auch eine Sialadenose möglich, die nicht entzündlicher, sondern in der Regel endokriner, dystropher oder medikamentöser Genese ist. Bei Schmerzlosigkeit und zögerlichem Wachstum kann es sich um tumoröse Erkrankungen der Glandula submandibularis handeln. Als benigne Tumoren wären beispielhaft mono- oder pleomorphe Adenome zu nennen, die als Goldstandard mittels Exstirpation unter Schonung der benachbarten Strukturen therapiert werden. Karzinome der Submandibulardrüse sind grundsätzlich selten, benötigen jedoch teils eine invasivere Therapie, gegebenenfalls mit Neck Dissection und Resektion infiltrierter Nachbarstrukturen [Kaszuba et al., 2007].
Fazit für die Praxis
Die Erfahrungen zeigen, dass Patienten mit odontogenen Beschwerden und simultaner zervikaler Schwellung oft initial eine Zahnarztpraxis aufsuchen. Aufgrund des zeitlichen Zusammenfalls besteht die Vorstellung, dentale Zustände wie Zahnschmerzen oder Entzündungen seien der Auslöser für eine reaktive Schwellung. Aus MKG-chirurgischer Sicht ist es erfreulich, dass Patienten mit unklarer oder persistierender zervikaler Schwellung zumeist zeitnah zur weiteren Abklärung überwiesen werden. Diese Zusammenarbeit ist für eine suffiziente Therapie der Betroffenen unabdingbar.
Im folgenden Fallbeispiel wurde initial die Verdachtsdiagnose der Lymphadenopathie geäußert, was insbesondere bei Kindern ein häufiger Grund für eine ärztliche Konsultation ist. Ursächlich sind bei unilateraler Manifestation grampositive Kokken, bei bilateraler Ausprägung handelt es sich eher um eine selbstlimitierende Reaktion auf zum Beispiel eine Infektion der oberen Atemwege [Leung und Robson, 2004]. Bei entsprechender Therapie sollten betroffene Patienten circa zwei bis vier Wochen nachversorgt werden. Da sich mehr als ein Viertel der malignen Erkrankungen bei Kindern im Kopf- und Halsbereich manifestieren, ist auch dies bei persistierendem Befund in Betracht zu ziehen [Leung und Davies, 2009]. Es handelt sich häufig um Lymphome, daher ist eine umgehende Weiterbetreuung durch einen Kinderonkologen zu initiieren.
Bei erwachsenen Patienten sind andere Entitäten des malignen Erkrankungskreises als Ursache einer suspekten, zervikalen Schwellung wahrscheinlicher. Neben malignen Melanomen könnte es sich um Plattenepithelkarzinome handeln. Teils lässt sich trotz intensiver Diagnostik kein Primarius identifizieren. So kann sich ein CUP-Syndrom (Cancer of unknown primary) auch zervikal manifestieren. Dabei ist sowohl eine primäre als auch eine sekundäre Tumorgenese im Sinne von Metastasen möglich.
Patientenfall
Ein 28-jähriger Patient stellte sich mit einer zervikal linksseitigen Schwellung in der Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn vor. Er berichtete, die Schwellung sei seit etwa einem halben Jahr vorhanden. Eine Initialvorstellung beim Hausarzt habe die Verdachtsdiagnose einer unspezifischen Lymphadenopathie ergeben und zur anfänglichen Strategie der „Active Surveillance“ geführt. Bei ausbleibender Besserung und sogar deutlicher Größenzunahme wurde der Patient an unsere Klinik überwiesen.
Bei der Erstvorstellung zeigte sich ein in gutem Allgemeinzustand befindlicher Patient, dessen Allgemeinanamnese bis auf die zervikale Raumforderung und eine Appendektomie im Kindesalter unauffällig war. In letzter Zeit durchlebte Infekte und eventuell auslösende Faktoren waren nicht erinnerlich. Die Schwellung habe er als lediglich ästhetisch störend empfunden, weitere Symptome seien initial nicht vorhanden gewesen. In den vergangenen vier Wochen seien jedoch aufgrund der Größe der Schwellung die Halsbeweglichkeit und der Schluckakt eingeschränkt. Zudem führe die Zunahme des Halsumfangs dazu, dass die vorher passende Kleidung ihn am Hals einenge. Diese Symptome würden ihn im Alltag zunehmend behindern.
In der extraoralen Untersuchung zeigte sich im Bereich der linkslateralen Halspartie bereits bei Inspektion eine Schwellung mit konsekutiver Asymmetrie. In der Palpation stellte sich die Raumforderung weich, verschieblich gegen das umgebende Gewebe und ohne Druckdolenz dar. Die Maße betrugen circa 5 cm x 7 cm (vertikal x horizontal). Die Kopfdrehung nach rechts zeigte sich frei, nach links im Vergleich eingeschränkt. Vor allem bei Halsüberstreckung kam die Schwellung eindrucksvoll zur Geltung. Die Hirnnerven und deren Äste, insbesondere der linksseitige Ramus mandibularis mandibulae, waren in orientierender Untersuchung nicht beeinträchtigt (Abbildung 1).
Die intraorale Untersuchung ergab ein gepflegtes, konservierend versorgtes Erwachsenengebiss mit reizlosen Mundschleimhautverhältnissen. Eine odontogene Ursache für die Raumforderung war nicht eruierbar.
Zur weiteren Abklärung wurde eine Magnetresonanz-Untersuchung initiiert. Es zeigte sich eine glatt berandete, T2-hyperintense Raumforderung zervikal links auf Höhe der Epiglottis. Eine Infiltration der benachbarten Strukturen war nicht ersichtlich (Abbildungen 2 bis 4).
Mit der Verdachtsdiagnose „laterale Halszyste“ entschieden wir uns nach ausführlicher Patientenaufklärung zur Exstirpation der letztlich dignitätsunklaren Raumforderung. In der präoperativ durchgeführten laborchemischen Blutuntersuchung ergab sich ein in Gänze unauffälliger Befund ohne Hinweis auf Inflammation.
Die Operation wurde in störungsfreier Intubationsnarkose durchgeführt. Als Zugang wurde ein lateraler Halsschnitt gewählt, der zur Vermeidung deutlich sichtbarer Narben in eine Hautfalte gelegt wurde (Abbildung 5). Nach scharfer Haut- und Platysmadurchtrennung kam bereits eine zystisch imponierende Veränderung zum Vorschein (Abbildung 6). Sie ließ sich komplikationslos aus dem umgebenden Gewebe exstirpieren (Abbildung 7).
Die in toto entfernte Raumforderung wurde zur histopathologischen Aufarbeitung an die Kollegen der Pathologie versandt (Abbildung 8). Zur Vermeidung eines postoperativen Hämatoms wurde eine Redondrainage im Bereich des linken Wundpols eingelegt (Abbildung 9).
Der postoperative Verlauf gestaltete sich unter regelmäßigen Wundvisiten und Nachblutungskontrollen stadiengerecht. Die inserierte Drainage konnte am ersten postoperativen Tag entfernt werden. Der Patient konnte nach drei Tagen in gutem Allgemeinzustand und mit reizlosen Wundverhältnissen in die ambulante Nachsorge entlassen werden.
Im Rahmen der ambulanten Nachkontrolle wurden das Nahtmaterial entfernt und das derweil befundete histopathologische Gutachten besprochen. Es zeigte sich Fett- und Bindegewebe mit einer vollständig entfernten zystischen lymphoepithelialen Struktur. Dieser Befund untermauerte die Verdachtsdiagnose der lateralen Halszyste.
Benedict Jürgensen
Universitätsklinikum Bonn,
Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Venusberg – Campus 1,Haus 11, 2. OG
53127 Bonn
benedict.juergensen@ukbonn.de
Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Kramer
Universitätsklinikum Bonn,
Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Venusberg – Campus 1,
Haus 11, 2. OG
53127 Bonn
Dr. Dr. Valentin Wiedemeyer
Universitätsklinikum Bonn,
Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Venusberg – Campus 1, Haus 11, 2. OG
53127 Bonn
Literaturliste
[1] Glosser J.W., Pires C.A.S., Feinberg S.E. Branchial cleft or cervical lymphoepithelial cysts. The Journal of the American Dental Association. 2003; 134(1):81–86
[2] Golledge J, Ellis H. The aetiology of lateral cervical (branchial) cysts: past and present theories. J Laryngol Otol. 1994; 108(8):653-9
[3] Jänicke S, Kettner R, Kuffner H.-D. A possible inflammatory reaction in a lateral neck cyst (branchial cyst) because of odontogenic injection. Int. J. Oral MaxilloFac. Surg. 1994; 23:369-371
[4] Muller S, Aiken A, Magliocca K, Chen AY. Second Branchial Cleft Cyst. Head Neck Pathol. 2015 ;9(3):379-83
[5] Kaszuba S. M., Zafereo M. E., Rosenthal D. I., El-Naggar A. K., Weber R. S. Effect of Initial Treatment on Disease Outcome for Patients With Submandibular Gland Carcinoma. Archives of Otolaryngology–Head & Neck Surgery. 2007;133(6):546
[6] Leung AK, Robson WL. Childhood cervical lymphadenopathy. J Pediatr Health Care. 2004; 18(1):3-7
[7] Leung AK, Davies HD. Cervical lymphadenitis: etiology, diagnosis, and management. Curr Infect Dis Rep. 2009; 11(3):183-9