Der aufsteigende Unterkieferast als follikuläre Zyste
Im März 2020 stellte sich eine 57-jährige Patientin nach Überweisung durch einen niedergelassenen Oralchirurgen in der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz mit Bitte um Weiterbehandlung bei einer ausgedehnten zystischen Raumforderung im Bereich des linken Unterkiefers vor.
Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich eine solide, tast- und sichtbare Schwellung der linken Gesichtshälfte (Abbildung 1). Anamnestisch berichtete die Patientin von einer für sie nicht spürbaren, weil damals schmerzlosen Befundprogredienz. Aus der Krankenakte ergaben sich weiter eine drei Monate zuvor als apikale Aufhellung fehlinterpretierte Veränderung des Zahnes 37 sowie eine daraus folgende endodontische Wurzelkanalbehandlung. Diese wiederum trug jedoch aufgrund der begrenzten Abbildungsgröße des Zahnfilmsensors nicht zur Darstellung der Grenzen der Raumforderung und somit zur Diagnosestellung bei. Erst eine Übersichtsaufnahme in Form einer Orthopantomografie (OPG), durchgeführt durch den behandelnden Oralchirurgen, zeigte das Ausmaß des zystischen Geschehens mit dem impaktierten und verlagerten Zahn 38.
Aufgrund der erhöhten Frakturgefahr bei bereits ausgedehnter Knochenresorption wurde mit der Patientin nach Anfertigung der komplettierenden 3-D-Bildgebung (digitale Volumentomografie) ein zeitnaher Termin zur Diagnosesicherung durch Probeentnahme in Allgemeinanästhesie vereinbart (Abbildung 2). Bereits in der darauffolgenden Woche konnte der Eingriff durchgeführt und die intraoperativ gut erreichbare, klinisch als follikulär anmutende Zyste in toto im Sinne einer Zystektomie mit Osteotomie des Zahnes 38 entfernt werden. Hierbei stellten sich das Vestibulum als solide verstrichen und die darunterliegende Kortikalis nach Schleimhautpräparation pergamentartig ausgedünnt dar (Abbildung 3). Auf eine zusätzliche Stabilisierung mittels Osteosyntheseplatte wurde bei ausreichendem Restknochen verzichtet.
Nach unauffälligem stationärem Aufenthalt konnte die Patientin bereits zwei Tage nach der Operation bei regredienter Schwellung und reizlosen Lokalverhältnissen mit der dringenden Empfehlung zur strengen Einhaltung einer flüssig-weichen Diät für vier Wochen in die Häuslichkeit entlassen werden. Der histopathologische Befundbericht bestätigte die intraoperative Verdachtsdiagnose einer follikulären Zyste (Abbildung 4), so dass bei bereits endodontisch vorbehandeltem Zahn 37 auf weitere therapeutische Schritte verzichtet und die Patientin in die regelmäßige klinische Nachsorge durch ihren Hauszahnarzt entlassen werden konnte. Bei einer Nachsorgedauer von nunmehr acht Monaten traten keine Komplikationen auf.
Diskussion
Mit wenigen Ausnahmen treten knöchern lokalisierte Zysten hauptsächlich im Bereich der Kieferknochen auf. Ausgekleidet werden sie hierbei in den meisten Fällen von einem Epithel odontogenen Ursprungs, was die Zuordnung zur Gruppe der odontogenen Zysten erklärt. Entsprechend der 4. Auflage der WHO-Klassifikation der odontogenen und maxillofazialen Knochentumoren von 2017 unterteilt man hiernach weiter in entwicklungsgeschichtlich und entzündlich bedingte odontogene Zysten [Baumhoer, 2017].
Definiert als Zyste, entstanden aus proliferiertem, reduziertem Schmelzepithel im Anschluss an die Schmelzbildung des die Zahnkrone umgebenden Zahnfollikels, stellt die follikuläre Zyste die häufigste Form der entwicklungsgeschichtlich bedingten Zysten sowie die zweithäufigste (20 Prozent) Zyste der maxillofazialen Region dar. Makroskopisch ist der Zystenbalg im Bereich des zementoenamelen Übergangs anheftend und umgibt in aller Regel die Krone des retinierten Unterkiefer-Weisheitszahns (65 Prozent), wobei jeder nicht durchgebrochene oder sich im Durchbruch befindliche Zahn betroffen sein kann. In absteigender Reihenfolge entsprechend ihrer Auftretenshäufigkeit kommt es nachfolgend zur Entstehung im Bereich der Zähne 13/23 ≥ 35/45 ≥ 18/28 ≥ 34/44 ≥ 15/25 sowie der Unterkiefer-Eckzähne (33 und 43) [Shear und Speight, 2008].
Während die Diagnose am häufigsten im Alter von 10 bis 30 Jahren gestellt wird, beobachtete man ein vermehrtes Vorkommen beim männlichen Geschlecht sowie bei der weißen Bevölkerung. Aufgrund der Schmerzlosigkeit handelt es sich bei den meisten kleineren Fällen um einen Zufallsbefund im Rahmen der zahnärztlich radiologischen Routineuntersuchung [Freitas et al., 2006; Neville et al., 2016]. Erst bei einer Größenzunahme mit extraoral spür- und sichtbarer Verdrängung der kortikalen Knochenlamelle oder bei einer Infektion der odontogenen Zyste (meist aufgrund von Teilretention oder bei Kontakt zu einem benachbarten apikalen Herdgeschehen) kommen die Patienten mit dem Wunsch nach Ursachensuche und Abklärung zu ihrem Zahnarzt oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen [Benn und Altini, 1996].
Ausgedehnte follikuläre Zysten sind selten, so dass sich die meisten radiologisch einer follikulären Zyste entsprechenden Befunde intraoperativ und histopathologisch als odontogene Keratozyste oder als Ameloblastom herausstellen [Neville et al., 2016]. Radiologisch stellt sich die follikuläre Zyste häufig als scharf begrenzte, uni- oder multilokuläre, die Krone eines retinierten Zahnes zirkumferentiell umgebende Radioluzenz größer als vier Millimeter dar [Meningaud et al., 2006; Zhang et al., 2010]. Radiotransluzenzen kleiner als vier Millimeter werden eher mit dem physiologischen Zahnfollikel eines nicht durchgebrochenen Zahnes in Verbindung gebracht [Daley und Wysocki, 1995]. Im Fall der infizierten Variante kann sich die Begrenzung jedoch aufgrund der entzündlich bedingten Knochenresorption als unscharf darstellen und somit die klinische Diagnosestellung erschweren.
Radiologisch ebenfalls beschrieben – jedoch deutlich seltener vorkommend – wird eine laterale Variante der Zyste ausgehend von einem mesioangulär impaktierten Seitenzahn mit Zystenausdehnung nach mesial unter halbseitiger Einbeziehung des initiierenden Zahnes inklusive seiner Wurzel sowie einer nach apikal gerichteten Ausdehnung, die die Einbeziehung der Wurzel vortäuscht [Zhang et al., 2010]. Insbesondere bei ausgedehnten Raumforderungen empfiehlt sich die Anwendung einer dreidimensionalen Bildgebung (in der Regel DVT) zur Verbesserung der Übersicht und präoperativen Planung [McCrea, 2009; Ahmad et al., 2012; Deana und Alves, 2017]. Das histopathologische Bild der follikulären Zyste variiert in Abhängigkeit zum Entzündungsstatus und zeigt bei Entzündungsfreiheit einen dünnen, mit unverhorntem Epithel ausgekleideten (2-4 Zelllagen), flüssigkeitsgefüllten Zystenbalg [Neville et al., 2016]. Nebenbefundlich zeigen sich häufig inselartig angeordnete Zellnester odontogener Epithelreste, die durch den unerfahrenen Pathologen als Ameloblastom fehlinterpretiert werden können. Im entzündeten Stadium ist das Vorkommen keratinisierter Zelllagen häufiger beschrieben, wobei hierbei die Differenzierung zur Keratozyste besonders wichtig ist [Neville et al., 2016].
Fazit für die Praxis
Follikuläre Zysten gehören zu den odontogenen, entwicklungsgeschichtlich bedingten Zysten und stellen hierbei die häufigste Form dar.
Follikuläre Zysten sind nach der radikulären Zyste mit 20 Prozent die zweithäufigste Zystenform des kraniofazialen Knochens.
Die am häufigsten betroffenen Regionen sind in absteigender Reihenfolge regio 13/23 ≥ 35/45 ≥ 18/28 ≥ 34/44 ≥ 15/25 sowie die Unterkiefer-Eckzähne (33 und 43).
Differenzialdiagnostisch muss die follikuläre Zyste von der odontogenen Keratozyste sowie vom Ameloblastom abgegrenzt werden.
Follikuläre Zysten erscheinen in der radiologischen Darstellung als glatt begrenzte, uni- oder multilokuläre, die Krone eines retinierten oder teilretinierten Zahns zirkumferentiell umgebende Aufhellung > 4 mm.
Das chirurgische Vorgehen gilt als Goldstandard, das Therapiekonzept sollte aber in Abhängigkeit von Größe und Lokalisation der Zyste gewählt werden (Primäre Enukleation/Zystektomie versus primäre Dekompression und sekundäre Enukleation versus primäre Marsupialisation/Zystostomie).
Aufgrund der stetigen Größenzunahme mit der Affektion von Nachbarstrukturen (Verlagerung von Nachbarzähnen mit Okklusionsstörungen, Druck auf den Kanal des N. alveolaris inferior mit Sensibilitätsstörungen sowie konstante Knochenresorption durch Druckatrophie mit erhöhter Frakturgefahr des Unterkiefers) gilt das chirurgische Vorgehen mit Elimination der Zyste weiterhin als der therapeutische Goldstandard [Motamedi und Talesh, 2005]. Die verschiedenen Therapiekonzepte richten sich hierbei maßgeblich nach der Größe und der Lokalisation der Zyste und reichen von der einfachen Enukleation des Zystenbalgs als Zystektomie über die primäre Dekompression mit sekundärer Enukleation nach Größenreduktion bis hin zur Marsupialisation im Sinne einer Zystostomie. Letztere hat den Nachteil der deutlich erhöhten Behandlungsdauer und setzt die generelle Compliance des Patienten voraus [Martinez-Perez und Varela-Morales, 2001; Motamedi und Talesh, 2005; Neville et al., 2016].
Während kleinere Zysten vornehmlich via Zystektomie und Extraktion des retinierten Zahns (bei im Durchbruch befindlichen Zähnen sollte eine isolierte Zystenbalgentfernung mit kieferorthopädischer Eruptionsunterstützung zum Zahnerhalt in Erwägung gezogen werden) behandelt werden, ist die Zystostomie zur primären Reduktion des knöchernen Zugangstraumas mit sekundärer Zystektomie nach histopathologischer Diagnosesicherung das Therapiekonzept der Wahl [Neville et al., 2016]. Da im vorliegenden Fall die vestibuläre Knochenlamelle bereits pergamentartig ausgedünnt war und sich der Zystenbalg problemlos in toto enukleieren ließ (Abbildungen 3a bis 3d), entschied man sich hier für eine primäre Zystektomie. Eine engmaschige andauernde Nachsorge ist nach histopathologischer Befundsicherung nicht zwingend erforderlich und kann im Rahmen der allgemeinen zahnärztlichen Routineuntersuchungen durchgeführt werden.
Dr. Dr. Daniel G. E. Thiem
Weiterbildungsassistent
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer,
MA, FEBOMFS Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de
Abb. 2: Das präoperative DVT nach multiplanarer Rekonstruktion zeigt die zystische Raumforderung des linken Unterkiefers in koronarer, sagittaler und axialer (a) Richtung sowie als 3-D-Rekonstruktion (b).
Quelle: Daniel Thiem
Abb. 4: Histologisches Bild in H.E.-Färbung mit 10x (a) und 20x (b) Vergrößerungsfaktor
Quelle: Universitätsmedizin Mainz
Literaturliste
Ahmad, M., et al. (2012). „Application of cone beam computed tomography in oral and maxillofacial surgery.“ Aust Dent J 57 Suppl 1: 82-94.
Baumhoer, D. (2017). „Odontogene Tumoren und Knochentumoren der Kieferregion.“ Der Pathologe 39(1): 35-41.
Benn, A. and M. Altini (1996). „Dentigerous cysts of inflammatory origin. A clinicopathologic study.“ Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 81(2): 203-209.
Daley, T. D. and G. P. Wysocki (1995). „The small dentigerous cyst. A diagnostic dilemma.“ Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 79(1): 77-81.
Deana, N. F. and N. Alves (2017). „Cone Beam CT in Diagnosis and Surgical Planning of Dentigerous Cyst.“ Case Rep Dent 2017: 7956041.
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Motamedi, M. H. and K. T. Talesh (2005). „Management of extensive dentigerous cysts.“ Br Dent J 198(4): 203-206.
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