Ein Blick, der Leben retten kann
Nur durch die systematische Inspektion der Mundhöhle in Form eines Algorithmus ist gewährleistet, dass die Veränderung, die bei der vorherigen Untersuchung noch nicht vorhanden war und heute als Präkanzerose eingestuft werden muss, auch erkannt wird und es nicht zum sogenannten doctor‘s delay kommt – der Verzögerung einer notwendigen Weiterbehandlung, verursacht durch eine Zahnärztin oder einen Zahnarzt. Selbst bei jahrelanger Berufserfahrung ist es zuverlässiger, die hier dargestellte Systematik anzuwenden.
Von außen nach innen
Es empfiehlt sich aus praktischen Gründen, den Patienten „von außen“ (äußere Haut, periorale Umgebung) „nach innen“ (Mundschleimhaut) zu untersuchen. Dabei sollte eine Untersuchungsroutine entwickelt werden, deren Ablauf nicht verändert wird.
Die Überlebensraten
Trotz neuer Behandlungsmethoden wie Strahlen- und Chemotherapie ist es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen, die Fünfjahresüberlebensrate bei Mund- und Rachenkrebs deutlich anzuheben. In diesem Zeitraum stirbt nach wie vor durchschnittlich die Hälfte der erkrankten Patienten – 37 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer [RKI, 2021]. Ist ein Tumor kleiner als zwei Zentimeter, überleben durchschnittlich mehr als 60 Prozent in diesen ersten fünf Jahren. Unabhängig von der Tumorgröße sinkt die Fünfjahresüberlebensrate auf unter 20 Prozent, wenn bei der Erstdiagnose lokale Metastasen gefunden werden. Die Hälfte aller Patienten, bei denen ein Karzinom der Mundhöhle diagnostiziert wird, weist bereits befallene lokoregionäre Lymphknoten sowie Fernmetastasen auf [Markopoulos, 2012].
Die Untersuchung wird bei guter Ausleuchtung mit zwei Spiegeln durchgeführt. Bei der Verwendung nur eines Spiegels zum Aufspannen der Wangenmukosa besteht die Gefahr, dass insbesondere Veränderungen im retroangulären Bereich verdeckt werden. Herausnehmbarer Zahnersatz muss vor der Untersuchung entfernt werden, denn nur so können Druckstellen, Ulzerationen oder Stomatitiden auf der normalerweise bedeckten Schleimhaut erkannt werden. Eine Gazelage oder ein Gazetupfer dient als Hilfsmittel zum Fixieren der herausgestreckten Zunge, um eine gute Übersicht auch im Bereich der Radix linguae (Zungenwurzel) zu haben. Neben der Inspektion darf die Palpation von Speicheldrüsen, Mundboden und Zungengrund nicht vergessen werden. Veränderungen sollten ebenfalls palpiert werden, selbst wenn dies im Einzelfall für den Patienten unangenehm ist.
Schritte I-IV (Abb. 1-4)
Untersuchung der Lippen
Als Erstes werden die Lippen bei geschlossenem und leicht geöffnetem Mund (Farbe, Textur, Oberfläche), die dazugehörigen Anteile des Vestibulums und die Frenula untersucht. Hierzu wird die Lippe entweder mit den Fingern oder zwei Spiegeln etwas nach außen gespannt. So kann die Umschlagfalte gut überblickt werden. Die Lippen werden palpiert, um eventuelle Schwellungen oder Verhärtungen (wie zum Beispiel bei der Cheilitis granulomatosa) diagnostizieren zu können.
Abb. 1: Lippenrotgrenze und benachbarte Haut bei geschlossenen Lippen | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 2: Lippenrot und benachbarte Haut bei leicht geöffnetem Mund | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 3: Oberlippenmukosa und Sulkus bei abgehaltener Oberlippe | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 4: Unterlippenmukosa und Sulkus bei abgehaltener Unterlippe | Charité Universitätsmedizin Berlin
Schritt V (Abb. 5):
Untersuchung der Wangen
Kommissuren, Wangenmukosa und Vestibulum des Ober- und des Unterkiefers werden mit zwei Spiegeln, die als Retraktoren dienen, bei weit geöffnetem Mund untersucht. Dabei sollte auf Farbe, Textur, Beweglichkeit und Pigmentierung geachtet werden. Ein häufiger Fehler bei der Untersuchung der Wangenmukosa ist, diese mit nur einem Spiegel durchzuführen, so dass dieser unweigerlich den retroangulären Bereich verdeckt und damit eine weißliche Veränderung, die eine orale, potenziell maligne Veränderung sein könnte, übersehen wird. Bei der Untersuchung der Mundwinkel ist auf Rhagaden (Synonym: Cheilitis angularis), die auf eine mykotische Infektion hindeuten können, zu achten.
Abb. 5: Kommissuren, Wangenschleimhaut und Sulkus des Ober- und des Unterkiefers bei weit geöffnetem Mund, zwei Mundspiegel dienen als Retraktoren | Charité Universitätsmedizin Berlin
Schritt VI-VIII (Abb. 6-8):
Untersuchung der Alveolarfortsätze
Weiter werden die Alveolarkämme von allen Seiten (bukkal, oral, frontal) untersucht. Nachdem bereits zu Beginn der intraoralen Untersuchung alle abnehmbaren Rekonstruktionen entfernt wurden, hat man freie Sicht auf die Mukosa und die noch vorhandenen Zähne. Im Unterkiefer kann die Zunge mit einem Spiegel etwas zur Seite geschoben werden, während ein zweiter die Wange etwas nach außen drückt. Für die Untersuchung des Oberkiefers hilft es, den Patienten zu bitten, den Kopf in den Nacken zu legen. Durch zusätzliches Abhalten der Wange wird ein guter Überblick geschaffen.
Abb. 6: Alveolarfortsatz von bukkal | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 7: Alveolarfortsatz von lingual | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 8: Alveolarfortsatz von frontal | Charité Universitätsmedizin Berlin
Schritt IX-XI (Abb. 9-11):
Untersuchung der Zunge
Die Zunge kann am besten beurteilt werden, wenn sie mit einem Gazetupfer etwas aus der Mundhöhle herausgezogen wird. Dabei werden Beläge, Schwellungen, Ulzerationen, Größenveränderungen und Abweichungen der Farbe und Textur registriert (die vier F: Form, Farbe, Funktion, Festigkeit). Zur Beurteilung der Zungenränder wird die Zunge zu den Mundwinkeln gezogen, so dass die gegenüberliegende Zungenseite ins Blickfeld gelangt. Es kommt vor, dass im dorso-lateralen Anteil des Zungenrückens die dort lokalisierten Papillae foliatae als Tumoren fehlinterpretiert werden. Daher sind grundlegende Kenntnisse der klinisch normalen Mundhöhlenverhältnisse für das Auffinden von Mundhöhlenerkrankungen Voraussetzung. Es folgt die Inspektion der ventralen Seite der Zunge einschließlich Zungenbändchen.
Abb. 9: Zungenrücken, durch Untersucher gehalten | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 10a: Zunge seitlich, durch den Untersucher geführt | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 10b: Die Papillae foliatae im dorso-lateralen Anteil des Zungenrückens werden hin und wieder als Tumoren fehlinterpretiert. | Charité Universitätsmedizin Berlin
Abb. 11: Zunge ventral | Charité Universitätsmedizin Berlin
Schritt XII (Abb. 12):
Untersuchung des Mundbodens
Um den Mundboden zu inspizieren, soll der Patient mit der Zungenspitze den Gaumen berühren. Im Anschluss kann die Zunge mit einem Gazetupfer zur Seite gezogen werden, damit auch der Sulcus glossoalveolaris beurteilbar wird. Zusätzlich empfiehlt sich eine bimanuelle Palpation des Mundbodens, um tiefer liegende Veränderungen zu erkennen. Dabei werden die Weichgewebe gleichzeitig sowohl von außen als auch von innen palpiert.
Abb. 12: Mundboden von oben | Charité Universitätsmedizin Berlin
Schritt XIII (Abb. 13):
Untersuchung des Gaumens
Als letzter Schritt wird das Dach der Mundhöhle inspiziert. Der Patient wird gebeten, den Kopf etwas nach dorsal zu neigen, um den Blick auf den harten Gaumen freizugeben. Zur besseren Beurteilung des weichen Gaumens, des Arcus palatoglossus und des Oropharynx wird bei aufrechter Kopfstellung die Zunge mit dem Spiegel etwas nach unten gedrückt. Den Abschluss der Untersuchung bildet die Beurteilung der Uvula, ohne die eine Mundhöhleninspektion unvollständig ist.
Abb. 13: Harter und weicher Gaumen bei zurückgeneigtem Kopf | Charité Universitätsmedizin Berlin
Aufgrund jahrelanger Erfahrung und aus Gründen der Praktikabilität und der Effizienz empfehlen Reichart et al. diese Reihenfolge, die sich inzwischen in der oralmedizinischen beziehungsweise zahnärztlichen Klinik und Routine durchgesetzt und bewährt hat [Reichart und Philipsen, 1999]:
1. Unterlippe (Lippenrot und angrenzende Haut)
2. Oberlippe (Lippenrot und angrenzende Haut)
3. Mukosa der Unterlippe und Sulkus
4. Mukosa der Oberlippe und Sulkus
5. Kommissuren, Wangenschleimhaut und Sulkus (Ober- und Unterkiefer)
6. Alveolarfortsätze bukkal (zwei Spiegel)
7. Alveolarfortsätze lingual (zwei Spiegel)
8. Alveolarfortsätze frontal, Zunge in Ruhigstellung
9. Zunge herausgestreckt, durch den Untersucher gehalten
10. Zungenränder, durch den Untersucher gehalten
11. Zunge (ventrale Fläche) und Mundboden
12. Mundboden bei weit geöffnetem Mund
13. Harter und weicher Gaumen, Gaumenbögen, Uvula, Mund weit geöffnet, Kopf zurückgeneigt
Nach Abschluss der Untersuchung sollten die Befunde dokumentiert werden, um Veränderungen im Zeitablauf darstellen zu können. Zeitsparend kann das durch Eintragungen in ein Schema (zum Beispiel das Renstrup-Schema [Roed-Petersen und Renstrup, 2009] geschehen (Abbildung 14). Zusätzlich ist eine Fotodokumentation zur Visualisierung auch im Hinblick auf die Patientenführung von Vorteil.
Systematisch Vorgehen
Wer dem oben dargestellten Algorithmus folgt und seine Patienten entsprechend einem immer wieder- kehrenden Schema untersucht, dem bleiben vor allem Zweifel darüber erspart, ob die eine oder andere Läsion bei vorangegangenen Untersuchungen übersehen wurde. Das systematische Vorgehen stärkt die Sicherheit der Diagnostik und ist die Grundlage jeder erfolgreichen Karzinomfrüherkennung. Gerade bei den nicht selten schnell wachsenden Plattenepithelkarzinomen der Mundhöhle gilt: Je früher der Tumor entdeckt wird, desto (teils dramatisch) günstiger sind die Heilungsaussichten. Ein genauer Blick auf die Mundschleimhaut kann Leben retten.
Prof. Dr. Andrea Maria Schmidt-Westhausen
Charité-Universitätsmedizin Berlin
Abteilung für Parodontologie, Oralmedizin und Oralchirurgie, Leitung Oralchirurgie
Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin
Literaturliste
Markopoulos AK. 2012. Current aspects on oral squamous cell carcinoma. Open Dent J. 6:126-130.
Reichart PA, Philipsen HP. 1999. Oralpathologie. Stuttgart New York: Georg Thieme Verlag.
RKI: Zentrum für Krebsregisterdaten beim Robert Koch-Institut, www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Krebsarten/Mundhoehle_Rachenkrebs/mundhoehle_rachen_node.html, Abruf am 23.09.2021.
Roed-Petersen B, Renstrup G. 2009. A topographical classification of the oral mucosa suitable for electronic data processing its application to 560 leukoplakias. Acta Odontologica Scandinavica. 27(6):681-695.