Einsatz in Moria 2

Wenn Geflüchtete selbst Helfer werden

Gretel Evers-Lang
Januar 2021, Corona-Zeit, business as usual in der Praxis. Dann eine E-Mail von einem Kollegen, mit dem ich zusammen auf einem Hilfseinsatz für „Zahnärzte ohne Grenzen“ war. Er fragt, ob ich mit ihm ins neue Geflüchteten-Lager auf Lesbos gehe, das Team der „Crisis Management Association“ bräuchte dringend Unterstützung. Natürlich sage ich sofort zu.

Eine kleine NGO aus einer Truppe engagierter Briten, die bereits seit mehreren Jahren auf der Insel sind, hat auch im neuen Geflüchteten-Lager bei Kara Tepe eine Dentalstation errichtet und sucht nach zahnärztlichen Volontären. Hier leben 6.500 umgesiedelte Geflüchtete in Zelten.

Ich bin sofort dabei, als mich Anfang des Jahres die Anfrage erreicht. Die Akkreditierung ist schnell erledigt, ebenso fix sind Flug und Unterkunft gebucht. An einem Sonntag im frühen März lande ich auf Lesbos: Die Sonne scheint und in dem Licht leuchtet auf den ersten Blick alles weiß und bunt. In diesem Moment sehe ich noch nichts von dem Leid und den schlimmen Zuständen in den Lagern. Während der einwöchigen Quarantäne frage ich mich aber: Warum eigentlich bin ich hier? Dann erinnere ich mich an den letzten Hilfseinsatz als Freiwillige. Es hat tatsächlich unheimlich viel Spaß macht. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die einen unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung haben, und ich kann relativ einfach einen Teil meiner Zuwendung an die Hilfsbedürftigen geben.

Nach der Quarantäne lerne ich das Team der Crisis Management Association kennen. Die Organisation unterstützt die medizinische Versorgung durch Projekte in Krisengebieten, so auch hier auf Lesbos. Unter den Helfern und Helferinnen ist auch Yasmin, 21 Jahre jung und selbst vor fünf Monaten aus dem Nordiran geflüchtet. Jetzt ist sie meine Assistenz. In ihrer Heimat konnte sie zwar Abitur machen, aber nicht studieren, weil sie eine Frau ist. Ihre Eltern hatten ihr Geld gegeben, um den Schlepper zu bezahlen und dann mit ihrem jüngeren Bruder die gefährliche und mühsame Flucht nach Lesbos anzutreten. Was für eine Vorstellung, beide Kinder auf einen solchen Weg ziehen zu lassen!

Nur ein Zahn pro Patient darf behandelt werden!

Elyas, auch aus dem Iran, hat Zahnmedizin studiert und unterstützt meine Arbeit vor allem als Übersetzer. Meinen Kollegen, Dr. Dr. Jens Joachim Paarsch, kenne ich von unserem gemeinsamen Einsatz für „Zahnärzte ohne Grenzen“ auf den Kapverden. Er ist der unerschrockene Chirurg von uns beiden, der souverän auch einen matschigen Weisheitszahn aus einem somalischen Stahlkiefer herausoperiert. Und dann ist da noch Hasan, der die zahnärztliche Station leitet und die Dienstpläne und die „Tickets“ für die Zahnbehandlungen organisiert. Die Termine werden im Halb-Stunden-Rhythmus vergeben und wir sind angehalten, immer nur einen Zahn pro Patient zu behandeln. Ich halte mich an die halbe Stunde, nicht aber an die Ein-Zahn-Vorgabe.

Die „Zahnklinik“ ist in einem Container untergebracht, der aus zwei kleinen Räumen besteht. Fließendes Wasser gibt es nicht, dafür ein umfangreiches, wenn auch leider unsortiertes Sortiment an Materialien und Instrumentarien – mit einem deutschen Sterilisationsgerät als echtem Lichtblick. Dazu gibt es zwei Klappstühle und Behandlungsmotoren, die zusammen mit dem Kompressor in einer Art Koffer untergebracht sind und bei der Benutzung einen ohrenbetäubenden Lärm verursachen.

Meine Patienten kommen überwiegend aus Afghanistan, einige aus dem Iran und aus Somalia. Insgesamt können wir relativ gut eine nachhaltige Zahnmedizin umsetzen, da hochwertiges Material und zuverlässig funktionierende Arbeitseinheiten zur Verfügung stehen. Der Zustand der Zähne allerdings ist sehr divers. Die meisten Patienten haben tiefe Karies. So gibt es zum Beispiel den pulpitischen 6er unter einer intakten Vollkeramikbrücke oder einfach nur den Wunsch nach Zahnsteinentfernung. Gelegentlich stellen sich Patienten mit einem im Zwischenraum impaktierten Speiserest vor. Parodontale Auffälligkeiten sehe ich verhältnismäßig wenige, was vermutlich an der Altersstruktur liegt: Viele der Geflüchteten sind sehr jung, die meisten zwischen 17 und 25 Jahren. Mein jüngster Patient ist 4 Jahre alt, meine älteste Patientin 54. 

Die Patienten sehen oft zehn Jahre älter aus

Ich erinnere mich an Cismaan aus Somalia, Mitte 40, sehr groß, gelbe, blutunterlaufene Augen, der Mantra-artig wiederholt: „J‘ai peur, j‘ai tellement peur! (Ich habe Angst, ich habe ziemlich Angst!)“ Trotz Anästhesie ist er nicht für eine Weiterbehandlung – hier hätte ich eine Extraktion durchführen müssen – zu gewinnen.

Oder die süße Ayla aus Afghanistan, 17 Jahre, die mit ihrer Strick-Beanie-Mütze, dem übergroßen Hoodie, einer Löcher-am-Knie-Jeans und weißen Sneakern aussieht wie eine „Street Style New York“-Bloggerin, und mich anstrahlt, als ich ihr das sage. Die Kleiderkammer des UNHCR am Camp-Eingang macht‘s möglich. Oder Marian, auch aus Afghanistan, schwanger und in Begleitung eines etwa zehnjährigen Mädchens. Sie wirkt wie etwa 30 und wie die Mutter des Mädchens, aber in Wahrheit ist sie erst 19 Jahre und hat ihre Schwester an der Seite. Überhaupt sehen die allermeisten meiner Patientinnen und Patienten zehn Jahre älter aus, als sie sind. Und ich – selbst Mutter von vier Kindern in dieser Altersgruppe – denke mir, was für ein Schmerz muss es für die Eltern gewesen sein, diese Söhne und Töchter ziehen zu lassen in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Yasmin, meine Assistentin, erzählt mir, sie wäre nicht gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie auf europäischem Boden erwartet. Damit meint sie das würdelose Bitten um Asyl, das ewige Anstehen für Essen, für Geld, für juristische Beratung, für medizinische Versorgung, für Kleidung oder für einen Coupon für die viel zu wenigen warmen Duschen und für den einmal pro Woche möglichen Ausgang aus dem Lager. 

Zurück? Das geht nicht mehr!

Aber, sagt Yasmin, „zurück, das geht nicht mehr“! Auch, wenn sie zu denen gehört, die ihren Eltern berichten, wie es wirklich ist. Und nicht zu denen, die vor den bunten Häusern von Mytilene Selfies machen und ihren Müttern schreiben, dass sie in diesen Häusern wohnen und es ihnen gut gehe – wie es manche tun. Yasmins Mutter hat ihr gesagt, komm zurück. Aber die junge Frau erklärt mir, sie wisse nun, wie es ist, eine freie, selbstbestimmte Frau zu sein. Sie möchte Hebamme werden und arbeiten. Im Iran winken ihr die Verheiratung und die Herrschaft eines Ehemanns, keine Aussicht auf Reise- und Entscheidungsfreiheit. 

Jeder hier hat seine Geschichte. Keiner ist nur „ein Geflüchteter“. Jeder ist Sohn, Schwester, Bruder oder Mutter oder Vater. Die Jüngeren sind oft allein. Aber alle teilen eine Hoffnung: „Wenn ich erstmal nicht mehr im Camp bin und mein Asylantrag genehmigt ist, wird alles gut.“ Was mich am meisten betrübt vor Ort, ist die Perspektivlosigkeit. Viele von ihnen kommen ohne Dokumente, ohne Ausbildungsnachweise und somit ohne Identität. Die Schlepper, sagen sie, nehmen ihnen die Ausweise ab. Der Weg der Anerkennung ist mühsam. Man muss einen langen Atem haben, um die Zuversicht nicht zu verlieren.

Meine Zeit vergeht rasend schnell und mein temporärer Arbeitsplatz bleibt mir als laut, die Material- und Instrumentenauswahl als ungewohnt, die Arbeitshaltung als nicht ergonomisch in Erinnerung. Schwere Erkrankungen sind häufiger, als ich es aus meiner Praxis kenne. Die Menschen aber sind wie wir – zunächst ängstlich, dann vertrauensvoll und schließlich dankbar.
Ich habe das getan, was ich auch zu Hause mache, nämlich meinen Beruf, der der schönste ist, den ich mir vorstellen kann, ausgeübt. Jetzt schon vermisse ich mein Team dort. Aber wahrscheinlich werden sie, sollte ich wiederkommen, nicht mehr da sein – und das wünsche ich ihnen von Herzen! 

Dr. Gretel Evers-Lang

Zahnärzte Dr. Lang, Dr. Evers-Lang, Gemeinschaftspraxis für Zahnmedizin,
Prohylaxe und Kieferorthopädie
Welzheimer Str. 19D, 63791 Karlstein
und
Wilhelmstr. 12, 63538 Großkrotzenburg
praxis.lang@t-online.de

Dr. Gretel Evers-Lang

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