Im Kampf mit der eigenen Komfortzone
Aktuell trainiert der 58-Jährige 20 Stunden pro Woche und mehr für den Ultraman Canada. Vom 22. bis zum 24. Juli will Jung rund um den Ort Penticton im Süden von British Columbia eine Art Super-Ironman absolvieren – an drei aufeinanderfolgenden Tagen zehn Kilometer im Freiwasser schwimmen, 420 Kilometer Radfahren und zum Abschluss noch einmal einen Doppelmarathon (84,4 Kilometer) laufen. Extrem? Ganz sicher! Die Kombination dieser Distanzen ist auch für den Zahnarzt neu – und deswegen so reizvoll.
Sport als Grenzüberschreitung und Ausweitung der Komfortzone ist für den Gießener Zahnarzt schon lange ein fester Bestandteil seines Leben: 1985 nahm er an ersten Triathlon-Wettbewerben teil, drei Jahre später absolvierte er den Ironman auf Hawaii. Motivation war für den damaligen Zahnmedizinstudenten eine Sportreportage im Fernsehen, erinnert er sich. Bei der damals zehnten Auflage des heute in alle Welt übertragenen Extremsportereignisses war „die Triathlonwelt noch eine andere“, sagt er. „In der Anfangszeit dachte man ja, dass ein Mensch nicht zu dieser Leistung fähig ist, sondern zwangsläufig beim Versuch sterben würde.“ Heute wisse man, dass das Quatsch ist.
„Eigentlich bin ich kein Schwimmer“
In den Folgejahren verschoben sich nicht nur international die Leistungsgrenzen ambitionierter Hobbyathleten, sondern auch die Massentauglichkeit dieses Extremsports. Was 1978 mit zwölf Teilnehmern begann, wurde nach und nach zu einem weltweit vermarkteten Medienereignis mit zahlreichen Nachahmerveranstaltungen auf Lizenzbasis. Und Jung wurde zum festen Bestandteil dieser Szene. 21-mal nahm er bislang an Ironman-Wettbewerben teil, wovon er 19 erfolgreich beendete. Mit der Triathlon-Langdistanz wuchs auch die Liebe zum extremen Radfahren. Und so nahm Jung diverse Male an einwöchigen Alpenrennen für Jedermann teil – Länge: 800 bis 900 Kilometer, bei rund 20.000 Höhenmetern.
Doch immer wenn der Zahnarzt seine Komfortzone erfolgreich ausgeweitet hatte, brauchte er neue Herausforderungen. So kam er schließlich zum Langstrecken-Schwimmen. „Ich dachte es wird Zeit, dass ich mal etwas mache, was ich nicht so gut kann“, erinnert er sich. „Denn ich bin eigentlich kein Schwimmer.“ Mit Willen, Trainingseifer und professioneller Hilfe von einem lokalen Schwimmtrainer änderte sich das.
Slalom zwischen Containerschiffen
In der Folge gelang Jung 2014, 2015 und 2016 jeweils eine erfolgreiche Bodenseequerung von Friedrichshafen nach Romanshorn, die Distanz beträgt 11,2 Kilometer, mindestens – „das wäre halt die Ideallinie“. 2018 steigerte er die Distanz und bewältigte einen Marathon-Schwimmwettbewerb von Rapperswil nach Zürich. Die 26-Kilometer-Strecke durch den Zürichsee ist zwar Jungs längste – er war elfeinhalb Stunden im Wasser –, aber nicht seine spektakulärste Langstreckenerfahrung als Schwimmer. „Das war definitiv die Querung der Straße von Gibraltar 2019“, sagt er, auch wenn der Slalom um die Containerschiffe aus aller Welt „nur“ 18 Kilometer lang war – plus Ausweichmanöver.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Zahnarzt aber bereits eine neue, noch extremere und exotischere Passion für sich entdeckt: das Eisschwimmen. Also Wettkampfschwimmen gegen die Uhr in weniger als 5 Grad kaltem Wasser – nur mit Badehose, -kappe und Schwimmbrille bekleidet. Die Inspiration dazu lieferte Christof Wandratsch, als der mehrfache Europameister im Langstreckenschwimmen und erste Eisschwimmweltmeister Jung bei einem Schwimmseminar vom Reiz der Kälte berichtete.
40 Bahnen bei 0 Grad Wassertemperatur
„Ich wäre früher nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen“, sagt Jung. „Denn wenn es etwas gibt, was Triathleten überhaupt nicht können, dann ist es, ohne Neoprenanzug im kalten Wasser zu schwimmen.“ Um das zu trainieren, müsse man das ganze Jahr draußen schwimmen, erklärt er, auch um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob es einem liegt. „Am Ende ist es eigentlich eine reine Kopfsache. Dann geht es nur um die Antwort auf die Frage: Will man es oder will man es nicht?“ – aus dem Mund eines 19-fachen Ironman und Extremschwimmers klingt das plötzlich plausibel.
Ende der Geschichte: Jung wollte, hatte seinen Kopf im Griff und war auch hier erfolgreich. Am 18. Januar 2019 schwamm er in Volendam, Niederlande, bei fünf Grad Wassertemperatur als damals elfter Deutscher überhaupt eine Eismeile (1.610 Meter). Und im russischen Murmansk wurde er noch einmal zwei Monate später in seiner Altersklasse über 1.000 Meter mit einer Zeit von 18:03 Minuten Vizeweltmeister im Eisschwimmen. Die Bedingungen in jenem Jahr waren, fast 2.000 Kilometer nördlich von Moskau, besonders hart – null Grad Wassertemperatur und selbst tagsüber bis zu minus zehn Grad Lufttemperatur.
Um die Wettbewerbe für die mehr als 400 Sportler aus 32 Nationen zu ermöglichen, hatten Helfer mit Kettensägen dicke Eisblöcke aus dem zugefrorenen Semenovskoe-See geschnitten, die dann mit Radladern herausgezogen wurden. So entstand ein 25 Meter langer Pool, berichtet Jung, dazu gab es ein kleines Stadion und Aufwärmzelte. Trotzdem: 40 Bahnen ohne Neoprenanzug im Eiswasser sind eine beispiellose Herausforderung für Körper und Geist. Jung beschreibt es so: Bei jedem Ironman komme man als Teilnehmer irgendwann im Verlauf des Wettkampfs an eine persönliche Grenze, die es mit purem Willen zu überwinden gilt. „Beim Eisschwimmen erreicht man diese Grenze sofort, nicht erst wenn man ins Wasser steigt“, sagt er, „sondern schon wenn man sich bei Frost und Schneefall bis auf die Badehose auszieht.“
„Ich nehme nichts – außer etwas Schokolade“
So extrem die körperliche und geistige Überwindung ist, im Eiswasser zu schwimmen, so unbeschreiblich toll sei das natürliche Hochgefühl im Anschluss. „Man ist danach extrem geerdet und einfach gut drauf“, erklärt Jung knapp, der seinen Lebenswandel in den vergangenen Jahren stark vereinfachte. Seitdem konzentriert er sich ausschließlich auf seine Praxis, seine Familie und den Sport. Fernsehen oder das Feierabendbier haben da keinen Platz. „Das brauche ich nicht mehr“, sagt er. Auch auf Nahrungsergänzungen oder spezielle Sportlernahrung verzichtet der Zahnarzt. „Ich nehme nichts.“ Ein einziges Laster gönnt er sich aber doch – und das klingt ein wenig kokett: Er esse ganz gern mal Süßigkeiten („Ab und zu etwas Schokolade“).
„Jeder Zahnarzt sollte schwimmen gehen!“
Die gezielte Kälteexposition, vor allem aber das Kraulschwimmen, hält der Zahnmediziner für KollegInnen für absolut nachahmenswert. Seit einer Skiverletzung vor vielen Jahren betreue ihn ein befreundeter Physiotherapeut – und der staune regelmäßig über seine Gesundheit. „Wie viele war ich damals auf dem besten Weg, einen Rundrücken zu bekommen. Aber bis heute habe ich überhaupt keine Beschwerden.“ Der Zahnarzt ist sich sicher, dass das am Schwimmen liegt und will diese Botschaft unbedingt in die Kollegenschaft transportieren. „Jeder Zahnarzt sollte regelmäßig schwimmen gehen“, sagt er und gibt augenzwinkernd Entwarnung: Der Benefit stelle sich schon beim Schwimmen im Hallenbad bei 28 Grad Wassertemperatur ein.
Er wirbt natürlich auch fürs Eisschwimmen, dem er ebenfalls enorme positive gesundheitliche Effekte zumisst. So sei er mittlerweile komplett allergiefrei – nachdem er „30 Jahre lang vergeblich alles Mögliche versucht hat“ gegen seine Birken-, Gräserpollen- und Schimmelpilzallergie, sogar das Training musste er damals einschränken.
Jetzt kommt erst mal der Ultraman
Dafür ist Jung dankbar – genauso wie für die Möglichkeit, als Behandler in einer Gemeinschaftspraxis sein Arbeitszeitmodell und den Sport so gut vereinbaren zu können. „Ich finde es wirklich toll, diesen Beruf zu haben“, sagt er – und dankt natürlich auch seiner Frau. Die habe über die Jahre miterlebt, was ihm der Extremsport bedeutet, „trägt das voll mit“ und übernimmt entsprechend viel Erziehungsarbeit für die beiden minderjährigen der vier Kinder.
Dabei habe er durchaus einen hohen fachlichen Anspruch. „Das ist nix, was ich so nebenbei mache“, sagt der Endodontologe, dessen Tätigkeitsschwerpunkte außerdem Ästhetik und die Behandlung Craniomandibulärer Dysfunktionen sind. Gleichzeitig jagt er weiter nach neuen Extremen: 2022 absolvierte er ein weiteres Mail eine Eismeile und knapp 70 Tage später den Ironman auf Mallorca – womit er den entsprechenden Rekord für die kürzeste Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen (genannt „Iron Iceman“) um 120 Tage unterbot. Sich um die Anerkennung seines Rekords beim zuständigen Dachverband Fédération Internationale de Natation zu kümmern – dafür fehlt ihm aktuell die Zeit. Die benötigt er fürs Training zum Ultraman.