Mein Silvester im Geflüchtetenlager Vial auf Chios
Von hier scheint die türkische Küste zum Greifen nah. Blaues Meer, Berge in der Ferne, Urlaubsfeeling pur. Wäre da nicht die letzte Nacht gewesen, plötzliche Gewitter, starker Wind und heftiger Regen. In dieser Nacht haben Menschen versucht, von der türkischen Cesme-Halbinsel das rettende griechische Ufer zu erreichen.
Später erfahre ich im Aegean Boat Report einer norwegischen NGO, dass es nicht alle geschafft haben. Einige sind bei dem Seegang über Bord gegangen, auch Kinder sind ertrunken. Kaum jemand kann schwimmen. Und versagt der Außenbordmotor des Schlauchboots, was oft passiert, gibt die Meeresströmung die Richtung vor.
Die Handys werden in der Quarantäne abgenommen
Im Kafeion klingelt mein Handy. Vicki ist dran. Sie ist Ärztin aus Barcelona und arbeitet ehrenamtlich auf der Insel für die Salvamento Marítimo Humanitario (SMH), eine spanisch-baskische Organisation, die auch mit einem Rettungsschiff, der Aita Mari, hilft. Sie bittet mich zur Unterstützung nach Lefkonia zu kommen, ins Quarantäne-Camp, ein ehemaliges Schulgebäude am Meer. Dort wurden die Geflüchteten der letzten Nacht von der griechischen Polizei hingebracht. Sie werden von uns medizinisch erstversorgt, auf COVID-19 getestet und namentlich registriert. Sie müssen 14 Tage bleiben, in sehr beengten Verhältnissen. Das Lager ist überfüllt, fast jeden Tag kommen jetzt Boote. In dem größten Raum, 15 mal 15 Meter groß, flache Decke, leben 55 Menschen. Sie haben keinen Kontakt zur Außenwelt, die Handys werden von den Polizeiwachen für die Zeit der Quarantäne abgenommen. Die nicht-staatlichen Hilfsorganisationen werden vom griechischen Staat geduldet. Nur sie haben Zugang.
Spendenaufruf
Dental Emergency Team apoBank
IBAN: DE35 3006 0601 0007 6168 41
BIC: DAAEDEDDXXX
Ich bin als Volontär und Zahnarzt nach Chios gekommen und arbeite seit Weihnachten für Dental EMT in der Zahnstation im Camp Vial im Inselinnern. Hierher kommen die Geflüchteten nach der Quarantäne. In einer alten Fabrikhalle stehen die zur Zahn- und medizinischen Station eingerichteten Container. Um die Halle herum gibt es unzählige Wohncontainer und Zelte des UNHCR. Zurzeit leben circa 400 Menschen hier. Das Gelände ist umzäunt und bewacht. Nachmittags sind dort zahnärztliche Schmerz- und Notfallbehandlungen möglich. Der Bedarf ist enorm. Ich habe bis zu 15 Patienten am Tag. Viele junge Menschen, mit den gleichen Problemen wie in Deutschland: schmerzende Weisheitszähne, viel Karies. Die Versorgung ist nur durch die Hilfe von NGOs gewährleistet. Ärzte, Zahnärzte und Pflegepersonal werden immer dringend benötigt.
Um 21 Uhr wird der Strom abgeschaltet
Unterstützt werde ich auch von Sapry. Er ist Übersetzer und war selbst Flüchtling. Sapry stammt aus Somalia und spricht fließend Arabisch und Englisch. An diesem Abend, nach den Zahnbehandlungen, machen wir noch einen Spaziergang durch das Lager. Wir laufen an fensterlosen Containern vorbei in einen extra abgezäunten Bereich. Unbegleitete Minderjährige wohnen hier. Wir besuchen seine Schwester Tahani, 16 Jahre alt. Sie hat Heimweh und möchte doch ein neues, sicheres Leben in Europa anfangen. Ihr Berufswunsch ist Krankenschwester. Es ist sehr dunkel. Der Strom wurde heute schon um 21 Uhr abgeschaltet. Ab 22 Uhr ist Ausgangssperre im Camp.
Trotz der elenden Lebensumstände haben die Menschen ihre Würde nicht verloren und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgegeben. Kurz vor Mitternacht kehren wir Richtung Küste zurück ins SHM-House. Dort wohnen und essen die Freiwilligen der internationalen Organisationen. Diese Nacht ist sternenklar und mild. Und wir feiern zusammen Silvester. Am nächsten Morgen geht es für mich vom kleinen Inselflughafen zurück nach Athen, dann weiter nach Berlin.
Ich werde nach Chios zurückkehren. Vor allem um den Menschen in Vial einen Teil ihrer Schmerzen zu nehmen. Sie sind sehr dankbar für jede Hilfe.