Eine DrSmile-Patientin berichtet

„Plötzlich wollte ich nur noch raus“

Als Celine S. am 29. November 2019 in der DrSmile-Filiale am Hamburger Jungfernstieg zum 3-D-Scan Platz nimmt, ist die junge Frau voller Vorfreude – ein strahlendes Lächeln mit geraden Zähnen ist ihr Traum. In der Folge gibt es Merkwürdigkeiten, doch sie vertraut ihren wechselnden Behandlerinnen. Ende 2020 ist der Vertrauensvorschuss verpufft. Beim Abschlusstermin entschuldigt sich eine sichtlich nervöse Zahnärztin für das Ergebnis, verschwindet minutenlang, um einen Kollegen zu konsultieren und konfrontiert S. dann mit dem Schlimmsten.

Die Zahnärztin ist an diesem 20. November 2020 die dritte Behandlerin und eine von vielen Ansprechpartnern, die bei DrSmile für S. bis dahin zuständig waren. S. kennt sie wie alle übrigen nur beim Vornamen, aber immerhin schon von einem freiwilligen Zwischentermin vier Monate zuvor. Damals hatte die Zahnärztin sie noch bestärkt, die Aligner trotz Schwierigkeiten mit der Okklusionsproblemen bis zum Ende des Behandlungsplans zu tragen. Doch anders als noch im Sommer 2020 ist die Behandlerin nun gar nicht entspannt, sondern „entsetzt von dem offenen Biss“, erinnert sich S. „Meine hinteren Backenzähne berührten sich nur teilweise auf den Ecken und ich hatte sonst keine Kontaktpunkte.“

Ein offener Biss ist das Ergebnis

Was folgt, entspricht dem Worst-Case-Szenario aus Patientenperspektive: Die Ärztin wirkte plötzlich „total nervös und war dann sehr lange weg, um mit einem Kollegen Rücksprache zu halten“, dieser „wollte aber wohl nicht das Behandlungszimmer betreten“, beichtet S.

SmileDirectClub zieht aus Deutschland ab

Am 24. Januar gab der US-Aligner-Anbieter SmileDirectClub bekannt, den Betrieb in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Spanien sowie Hongkong, Singapur, Neuseeland und Mexiko einzustellen. Laufende Behandlungen sollen ohne Unterbrechung zu Ende geführt werden. Das Unternehmen wolle sich auf das Geschäft in den USA, Kanada und Australien konzentrieren. Ganz verschwunden ist der Anbieter aus Europa damit womöglich jedoch nicht: Laut Website offeriert SmileDirectClub weiterhin Kunden in Großbritannien, Irland und Frankreich eine Aligner-Fernbehandlung.

Ergebnis der „bestimmt 20-minütigen“ Konsultation: Es gebe drei Handlungsoptionen, wie die durch die Aligner von DrSmile entstandene Fehlstellung behoben werden könnte. „Entweder ich höre sofort auf mit den Alignern und hoffe, dass sich meine Zähne wieder so verschieben, dass ich am Ende wieder einen normalen Biss habe. Dann könnte ich auch noch einmal mit neuen Alignern beginnen“, berichtet S., „oder Ich lasse mir einen Retainerdraht einsetzen und hoffe, dass sich mein Biss wieder normalisiert.“ Die letzte Möglichkeit: Die Zahnärztin „schleift mir meine hinteren Backenzähne so weit ab, bis ich wieder einen normalen Biss habe.“ S. war total schockiert. „Plötzlich wollte ich nur noch raus“, sagt sie.

Inkompetenz auf ganzer Linie

Aus Sicht der niedergelassenen Kieferorthopädin Dr. Luzie Braun-Durlak, bei der sich die junge Frau direkt im Anschluss in Behandlung begab, offenbaren diese Handlungsoptionen das ganze Ausmaß der fachlichen Inkompetenz der DrSmile-Angestellten. Option eins sei „völlig absurd, denn die unkontrollierte, unerwünschte Zahn- bewegung, die das Desaster verursacht hat, wird ja dadurch nicht rückgängig gemacht“, sagt sie. „Die Leute haben also nicht einmal am Ende der Behandlung verstanden, was da passiert ist.“ Der Vorschlag, die Aligner abzusetzen in der Hoffnung, dass sich die Zähne irgendwie wieder zurechtruckeln, zeige „die komplette Hilflosigkeit“, lautet ihr Urteil. „Elongierte, verlängerte Zähne gehen nicht von allein wieder in den Knochen zurück.“ 

Das sagt DrSmile

Auf die Anfrage der zm,

  • warum der hervorgerufene offene Biss bei Patientin S. erst beim Abschlusstermin aufgefallen ist;

  • ob es richtig ist, dass der Patientin beim Abschlusstermin ohne weitere Beratung die von ihr dargestellten Handlungsoptionen aufgezeigt wurden;

  • ob es richtig ist, dass ein von der Patientin vor dem Behandlungsbeginn beigebrachtes Röntgenbild nicht gesichtet wurde;

  • ob DrSmile das Vorgehen, Aligner so zu kürzen, dass die hintersten Molaren nicht mehr bedeckt sind, für lege artis hält;

  • wie es kommt, dass die verantwortliche Zahnärztin die Möglichkeit außer Acht ließ, dass sich diese Zähne im Lauf der Zeit verlängern, wenn sie auf der Kaufläche nicht mehr abgestützt sind;

  • ob es richtig ist, dass dies – wie von der behandelnden Ärztin gegenüber S. erklärt – bei DrSmile-Behandlungen regelhaft vorgenommen wird;

  • ob es richtig ist, dass S. innerhalb eines Jahres drei verschiedene Behandlerinnen hatte und

  • wieso der Patientin nach Behandlungsende die Einsichtnahme in Ihre Patientenakte verwehrt wurde

verweist das Unternehmen auf die Schweigepflicht.

„Wie Ihnen als zahnmedizinisches Medium sicherlich bekannt sein dürfte, sind Zahnärzt*innen und Kieferorthopäd*innen verpflichtet, Verschwiegenheit über Informationen zu wahren, die ihnen im Rahmen der (zahn-)ärztlichen Funktion anvertraut wurden oder sonst bekannt geworden sind.” Da DrSmile in vorliegender Sache keine Entbindung der Schweigepflicht gegenüber der zm übermittelt wurde, „dürfen wir zu diesem konkreten Fall schon aus rechtlichen Gründen keine Auskunft erteilen und schon gar keine öffentliche Diskussion anregen. Wir bitten zu respektieren, dass wir uns zu Fragestellungen, die die Behandlung unserer Patient*innen betreffen, grundsätzlich immer persönlich und auf vertraulicher Ebene mit unseren Patient*innen verständigen.” Grundsätzlich stehe DrSmile den Patient*innen „rund um die Uhr auf diversen Kanälen als Ansprechpartner zur Verfügung.”

Der Vorschlag ist schlicht Körperverletzung

Auch das Angebot, einen Retainer zu setzen, geschehe „nach dem Prinzip Hoffnung, weil man Mangels Verständnis und Fachkompetenz die Kontrolle verloren hat.“ Die dritte Behandlungsoption toppe das Vorgehen noch, schreibt sie auf Anfrage: „Da wird auf den einen Arztfehler zu dessen Korrektur der zweite draufgesetzt.“

Die iatrogen verlängerten Zähne durch Beschleifen so einzukürzen, dass sie wieder ihre ursprüngliche Länge haben, aber dann auch irreversibel geschädigt sind, sei schlicht Körperverletzung, so Braun-Durlak.

Geschädigte Patienten in ganz Europa

Bei der European Federation of Orthodontic Specialists Associations (EFOSA)  gibt es noch keine zentrale Erfassung von Beschwerden über potenzielle Behandlungsfehler bei Alignern. Ende 2021 haben jedoch 31 zahnärztliche und kieferorthopädische Fachgesellschaften, Verbände und Institutionen aus 25 Ländern erstmals eine paneuropäische Erklärung verfasst, die einer Warnung vor den Fernbehandlungen durch Start-ups gleichkommt. Fazit: Behandlungen ohne gründliche klinische Untersuchung des Patienten vor Ort, Röntgenaufnahmen und regelmäßige klinische Überwachung sind potenziell gesundheitsgefährdend. Auch in den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich, Spanien, der Schweiz, Österreich und Italien gibt es erste Fälle von potenziell geschädigten Patienten.

Auf Nachfrage der zm berichtet die Präsidentin des Verbands Österreichischer Kieferorthopäden, DDr. Silvia Silli, dass sie in ihrer Praxis zwei ehemalige Kunden von DrSmile behandelt. Sie erhalte des Öfteren auch Berichte von Kolleginnen und Kollegen. Bei dem österreichischen Verein für Konsumenteninformation (VKI) sind ihres Wissens nach bislang etwa 50 Beschwerden eingegangen. Im März will der VKI einen Artikel dazu bringen.

Die Schweizerische Gesellschaft für Kieferorthopädie SGK/SSO berichtet, dass sich in letzter Zeit Meldungen von Mitgliedern häufen, die „teilweise schiefgegangene Behandlungen aus solchen Shops korrigieren müssen“. Darum wurde in der Schweiz Ende 2021 eine Ombudsstelle gebildet, über die Patienten eine kostengünstige fachliche Bewertung einholen können, wenn sie Behandlungsfehler vermuten. In Kürze wollen die Organisatoren die ersten drei Fälle beurteilen.

Auch die British Orthodontic Society (BOC) berichtet auf Nachfrage von Kontakten mit Start-ups-Patienten, die „auf erhebliche Probleme mit der Do-it-yourself-Kieferorthopädie gestoßen sind.” Sie bewertet das Thema als eine „ernste Angelegenheit”, vor allem, weil viele Patienten darin eine günstige Alternative zur Behandlung bei Niedergelassenen sehen. Doch ohne eine persönliche Beurteilung durch einen Zahnarzt oder Kieferorthopäden und/oder gegebenenfalls eine Röntgenaufnahme besteht die Möglichkeit, dass die Patentien erheblich geschädigt werden, lautet das Fazit des Verbands. Immerhin: Nach Auskunft der BOC können Patienten im Vereinigten Königreich Schadenersatz wegen klinischer Fahrlässigkeit oder Vertragsbruch geltend machen, wenn die Behandlung nicht dem Standard entspricht oder eine Verletzung verursacht wurde. Vorausgesetzt, die Patienten haben keine Verschwiegenheitsvereinbarung unterzeichnet.

Ziemlich geschockt fragt S. die DrSmile-Zahnärztin noch während des Abschlussgesprächs danach, welche Option sie empfehlen würde. Antwort: Sie wisse es nicht, weil sie „keine Referenzwerte habe“, S. solle das lieber allein entscheiden.

Ursächlich für das medizinische Problem war nach Ansicht von Braun-Durlak die neun Monate zuvor getroffene Entscheidung einer anderen DrSmile-Zahnärztin, die Aligner der jungen Frau rigoros um die hintersten Backenzähne zu kürzen. S. erinnert sich: „Am 17. Februar 2020 sollte ich mit meinen ersten Schienen zum IPR-Termin erscheinen. Zuhause habe ich bereits versucht, die Schienen einzusetzen – aber leider haben diese nicht gepasst.“ Die DrSmile-Zahnärztin meinte, dass so etwas öfter mal vorkommt und bot an, das Problem sofort zu beheben. Daraufhin verließ sie den Raum „und schliff von meinen beiden Spangen jeweils die Hälfte des letzten Backenzahns ab“. Da das die Situation nur minimal verbesserte, kürzte sie die Aligner um die kompletten letzten Backenzähne.“ S. atmete auf, endlich konnte sie mit eingesetzten Aligner den Mund wieder schließen.

Als die Zahnärztin sie aber bat, auch die übrigen 16 Alignersätze vorbeizubringen, um diese zu kürzen, war S. beunruhigt. Die Verunsicherung wuchs, als zwei ZFA, mit denen S. infolge der Übergabe der Aligner in Kontakt hatte, ihre Irritation zum Ausdruck brachten. Am Ende vertraute S. aber dem Vorgehen ihrer Behandlerin. So wie schon jener Zahnärztin, die seinerzeit die Befundung übernommen hatte.

Heute weiß S., dass sie besser schon vor oder während der Behandlung hätte skeptisch werden sollen. Anlässe gab es reichlich: Ein beim Ersttermin angefordertes Röntgenbild wollte plötzlich niemand mehr sehen. Gleichzeitig schwärmten alle ZFA wie auch die Erstbehandlerin von DrSmile, gaben sogar an, selbst Kundinnen zu sein, ein DrSmile-Kundenbetreuer wiederum drängte die junge Frau telefonisch zum fast 3 .000 Euro teuren Vertragsabschluss. Und die einzige Reaktion auf ihre dokumentierten Beschwerden war das Kürzen der Aligner.

Einsicht in ihre Patientenakte hat S. nach eigener Aussage von DrSmile bis zum heutigen Tag nicht erhalten. Jetzt lässt sie sich von Rechtsanwalt Stephan Gierthmühlen juristisch vertreten.

5 Fragen an die Verbraucherzentrale NRW (vzbv)

1. Wie viele Beschwerden sind beim vzbv zu Aligner-Start-ups bisher eingegangen?

Tanja Wolf (vzbv): Beim Projekt Faktencheck-Gesundheitswerbung der Verbraucherzentrale NRW (in Kooperation mit der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz) gehen immer wieder Beschwerden über Aligner-Anbieter ein, häufig auch über unser Portal Kostenfalle-Zahn.de oder in den Beratungsstellen vor Ort. Über Kostenfalle-Zahn sind seit Anfang 2021 etwa 20 Fälle gemeldet worden. Wir sehen somit, dass regelmäßig Probleme mit diesen Anbietern auftauchen. Das deckt sich auch mit den Fällen auf Bewertungswebseiten und den Schilderungen in einer Facebook-Gruppe für betroffene Patient:innen.

2. Worum geht es dabei?

Sehr häufig geht es um die Frage, ob und wie man den Behandlungsvertrag widerrufen kann. Alle in unserem Marktcheck überprüften Unternehmen versuchen, das Widerrufsrecht auszuschließen, indem sie sich auf Zahnschienen als individuell gefertigte Produkte berufen. Die Verbraucherzentrale NRW sieht das anders, da der Schwerpunkt des Aligner-Vertrags auf der Herstellung funktionstauglicher Zahnschienen zur Behandlung von Zahnfehlstellungen liegt. Somit handelt es sich hier nicht um einen Kaufvertrag, sondern um einen Werkvertrag. Und für diese kann das Widerrufsrecht nicht unter Berufung auf § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB ausgeschlossen werden. Das Widerrufsrecht für im Internet geschlossene Verbraucherverträge besteht daher nach Auffassung der Verbraucherzentralen und gibt Verbraucher:innen das Recht, den Vertrag – zum Beispiel durch eine Erklärung per E-Mail – wieder aufzulösen. Diese Rechtsauffassung wurde auch im Nachgang zum Marktcheck durch das Landgericht Frankfurt am Main zugunsten der Verbraucherzentrale NRW so bestätigt.

3. Wie viele Betroffene haben sich beim vzbv bisher gemeldet?

Behandlungsfehler spielen in den bei uns vorliegenden Aligner-Beschwerden eine untergeordnete Rolle. Siehe Frage 1.

4. Von welchen Anbietern wurden sie behandelt?

In der Regel geht es um die Anbieter, die wir auch im Marktcheck untersucht haben. Der Markt ist allerdings im Fluss, manche Anbieter stellen das Geschäft in Deutschland ein, andere sind insolvent. Der untersuchte Anbieter SmileDirectClub hat beispielsweise seine Tätigkeit in Deutschland eingestellt.

5. Welche juristischen Möglichkeiten haben potenziell geschädigte Patienten?

Hier kommt es auf das Problem an. Medizinrechtlich gesehen folgt aus einem Behandlungsvertrag keine „Erfolgsgarantie“. Man kann also in der Zahnarztpraxis nicht sein Geld zurück verlangen, wenn der Behandlungserfolg nicht erreicht wird. Anders sieht es aus, wenn sich die Behandelnden nicht an die „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ (§ 630a Abs. 2 BGB) gehalten haben. Dann läge ein Behandlungsfehler vor. Ob das tatsächlich so ist, muss ein:e Zahnmediziner:in bewerten.

Unser Tipp: Betroffene sollten gegenüber dem Aligner-Anbieter ihren Anspruch auf Einsichtnahme in die Behandlungsdokumentation (§ 630g BGB) geltend machen und anschließend einen Zahnarzt oder eine Zahnärztin ihres Vertrauens einen Blick darauf werfen lassen. Die Erfolgsaussichten einer Klage hängen vor allem davon ab, ob die Behandelnden die „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ missachtet haben. Falls ja, liegt ein Behandlungsfehler vor, der Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche begründen kann. Wurde die Behandlung von den mit dem Anbieter kooperierenden Zahnärzt:innen nicht richtig dokumentiert, können sich hieraus für Patient:innen Beweiserleichterungen ergeben.

Wenn es um das Widerrufsrecht geht, werden den Betroffenen häufig finanzielle Nachlässe im Rahmen von „Kulanzvereinbarungen“ inklusive Verschwiegenheitspflicht gewährt. Dann muss leider derzeit jede:r selbst entscheiden, ob es besser ist, das Angebot anzunehmen oder sich auf einen Rechtsstreit einzulassen.

Die Fragen stellte Marius Giessmann.

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