Egal, wer versorgt?
Seit Jahren belegen wir der Politik mit detaillierten Analysen und Gutachten die fatalen Folgen der Einflussnahme versorgungsfremder Investoren auf die Patientenversorgung, ohne dass bisher wirklich wirksame gesetzliche Maßnahmen ergriffen wurden. Unsere drängenden Fragen, wie denn die medizinische und zahnmedizinische Versorgung in Deutschland in fünf, zehn und zwanzig Jahren bei weiterhin ungebremstem Zustrom versorgungsfremder Investoren nach den Vorstellungen der Politik ausgestaltet sein soll, blieben bis heute unbeantwortet. Ganz offensichtlich herrschte und herrscht in großen Teilen der Politik gegenüber Investoren im Gesundheitswesen eine überaus freundliche Einstellung, während man den freiberuflichen Heilberufen und ihren Standesvertretungen eher mit Skepsis begegnet. Kann der Wert einer freiberuflich getragenen Gesundheitsversorgung in Deutschland nach unserer Auffassung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wird dies in großen Teilen der Politik offensichtlich gänzlich anders gesehen. Besonders deutlich machte dies der damalige Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel (CDU), im Rahmen einer Debatte im Bundestag über einen Antrag der Linksfraktion am 8. November 2019: „Solange Versorgungssicherheit und Patientenzufriedenheit gegeben sind, sind mir Eigentumsverhältnisse gleichgültig oder eher zweitrangig.“ Und sein Ausschusskollege Alexander Kraus (CDU) bekräftigte: „Mich interessiert nicht, wem ein MVZ gehört.“ Auf gut Deutsch bedeutet dies nichts anderes als: Egal, wer versorgt, Hauptsache, es wird versorgt!
Nach wie vor und in zunehmendem Maße drängen ausländische Private-Equity-Unternehmen und Hedgefonds getrieben von hohen Renditeerwartungen in den zahnärztlichen und ärztlichen Versorgungsbereich. Durch den Kauf eines regelmäßig kleinen und oft maroden Krankenhauses, das in der Regel keinerlei Bezug zur zahnmedizinischen Versorgung aufweist und sich „somewhere in nowhere“ befindet, werden die Investoren in die Lage versetzt, überall in Deutschland investorbetriebene MVZ (i-MVZ) zu gründen oder zu erwerben. Zwar reagierte der damalige Bundesminister Spahn (CDU) auf die unwiderlegbaren Argumente und den erheblichen öffentlichen Druck der KZBV mit der für den zahnärztlichen Versorgungsbereich geltenden Bereichsausnahme im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) von Mai 2019. Danach wurde eine spezielle Regelung zur Gründung zahnärztlicher MVZ (z-MVZ) durch Krankenhäuser geschaffen, deren Gründungsbefugnis von der Wahrung bestimmter Versorgungsanteile abhängig gemacht wurde. War man seinerzeit in der Zahnärzteschaft noch hoffnungsfroh, dass dieses Instrument, das damals offensichtlich den maximal erreichbaren politischen Kompromiss zwischen den Regierungsparteien darstellte, Wirksamkeit entfalten würde, so muss man spätestens heute in aller Deutlichkeit erkennen, dass vom TSVG nicht die erhoffte Wirkung auf die Gründungswelle seitens der Investoren ausgegangen ist.
Vor dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) aus Juli 2015 betrug die Zahl von MVZ im zahnärztlichen Bereich (damals nur fachübergreifende) gerade einmal 28. Mit dem GKV-VSG wurde die gesetzliche Grundlage für fachgruppengleiche MVZ auch in der Zahnmedizin geschaffen. Danach stieg nicht nur die Zahl zahnärztlicher MVZ bis Mitte 2019 auf 709, sondern auch die Zahl der i-MVZ wuchs auf 152 an. Seit dem Inkrafttreten des TSVG Mitte 2019 bis heute hat sich die Zahl der zahnärztlichen MVZ auf 938 (Stand 12/21) erhöht und die Zahl der i-MVZ auf 351 mehr als verdoppelt! Allein im 2. Halbjahr 2021 wuchs die Anzahl der i-MVZ um weitere 30 Prozent. Gleichzeitig hat sich die Kettenbildung in den vergangenen Jahren rasant erhöht.
Noch gravierender sind die Wachstumsraten von investorbetriebenen MVZ im humanmedizinischen Bereich. Marktbeherrschende Stellungen von i-MVZ-Ketten und Oligopole haben sich gebildet. Ganze Bereiche der medizinischen Versorgung werden heute schon als von den Investoren beherrscht bezeichnet. Hierzu zählen neben anderen offensichtlich die Bereiche der augenärztlichen Versorgung, der Labormedizin, der Nephrologie und der Radiologie.
Standen wir freiberuflichen Zahnärztinnen und Zahnärzte anfangs nahezu alleine mit unseren Mahnungen und Forderungen, den Zustrom versorgungsfremder Investoren ins Gesundheitswesen endlich konsequent zu stoppen oder zumindest streng zu regulieren, hat sich dies in der letzten Zeit deutlich verändert.
So wurden auf dem Deutschen Ärztetag 2021 wegweisende Anträge im Hinblick auf i-MVZ, das Fremdbesitzverbot von Arztpraxen und MVZ und den Stopp von nichtärztlichen Investoren verabschiedet. Auch der Spitzenverband der Fachärzte (SpiFa) und der Virchow-Bund haben sich neben anderen ärztlichen und zahnärztlichen Organisationen zuletzt mit dringlichen Mahnungen und Appellen gegenüber der Politik positioniert.
Ein signalgebender Beschluss zu MVZ und i-MVZ wurde im November 2021 von der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) – auf Initiative insbesondere des damaligen Vorsitzlandes Bayern – einstimmig gefasst. Hierfür hatte sich die KZBV im Vorfeld auf Landesebene im Zusammenwirken mit den Landes-KZVen eingesetzt. Dieser zielt auf die Schaffung von mehr Transparenz und die Installation einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ab und bekräftigt den Beschluss der GMK aus September 2020, mit dem die Beschränkung von MVZ sowohl in räumlicher Hinsicht als auch mit Blick auf den Versorgungsanteil der Facharztgruppen gefordert wurde.
Zwischenzeitlich hat sich auch die Datenlage zu MVZ und i-MVZ durch diverse Gutachten erheblich verbessert, womit eine belastbare Entscheidungsgrundlage für die Politik geschaffen ist. Neben den beiden Gutachten des IGES-Instituts und von Prof. Sodan im Auftrag der KZBV aus 2020, dem sogenannten „Ladurner-Gutachten“ des BMG von Anfang 2021 und einem Gutachten des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) existiert neben Gutachten, die von i-MVZ Betreibern beauftragt wurden, inzwischen auch ein aktuelles Gutachten der KV Bayerns.
Erneut in den Fokus der Öffentlichkeit hat das Thema eine Panorama-Sendung des NDR vom 7. April 2022 mit dem Titel: „Spekulanten greifen nach Arztpraxen“ gebracht, in der neben betroffenen Patienten auch eine junge angestellte Zahnärztin zu Wort kam, die eindringlich schilderte, unter welch immensem wirtschaftlichem Druck sie arbeiten musste, und sogar genötigt wurde, gesunde Zähne zu beschleifen.
Dabei verdeutlichen das Gutachten der KV Bayerns und die jüngsten Medienrecherchen die wachsenden enormen Probleme für die Gesundheitsversorgung wie auch den dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf, den wir als KZBV an vorderster Front seit Jahren anmahnen und für die vertragszahnärztliche Versorgung mit unseren Ende 2020 veröffentlichten Gutachten eindrücklich belegen. Angesichts der großen Gefahren für die Patientenversorgung ist es – gelinde ausgedrückt – bemerkenswert, dass sich der Koalitionsvertrag der Ampel bei diesem Thema in Schweigen hüllt: kein Wort zur Kommerzialisierung im Gesundheitswesen, kein Wort zur Ausbreitung von Private Equity in der ambulanten Versorgung. MVZ erwähnen SPD, Grüne und FDP überhaupt nur an einer Stelle, und zwar dort, wo es um die Förderung kommunal getragener MVZ geht, um die Versorgung sicherzustellen.
Umso erfreulicher ist die Ankündigung von Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD) auf einer Veranstaltung der KBV Anfang März, die Fremdinvestorenproblematik „definitiv“ in den Blick nehmen zu wollen. Das darf uns zumindest verhalten optimistisch stimmen, dass die neue Regierung nicht die Augen verschließt und sich ernsthaft um wirkungsvolle Maßnahmen bemüht, um die Ausbreitung investorengetragener MVZ zu stoppen und für mehr Transparenz bei i-MVZ zu sorgen. Der Zustrom versorgungsfremder Investoren ins Gesundheitssystem muss schnellstens gestoppt, zumindest aber streng und wirksam reguliert werden. Unsere Vorschläge hierzu liegen auf dem Tisch. Wenn überhaupt sollten Krankenhäuser zukünftig nur dann innerhalb eines bestimmenden Einzugsbereichs um das Krankenhaus berechtigt sein, zahnärztliche MVZ zu gründen, wenn sie auch schon vorher an der zahnärztlichen Versorgung beteiligt waren.
Das sprichwörtliche Kind darf nicht durch das untätige Zuwarten der Politik in den Brunnen fallen. Der Schaden für die Patientenversorgung wäre immens. Es ist jetzt allerhöchste Zeit, dass die Ampel und allen voran Gesundheitsminister Lauterbach entschlossen handeln.