Im Konflikt zwischen Patient und Kunde
Die Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat sich in den vergangenen 30 Jahren enorm positiv entwickelt: So weisen rund 70 Prozent der 12-Jährigen heutzutage ein naturgesundes Gebiss auf, bis zum Jahr 2030 wird ein Wert von 90 Prozent angestrebt [Ziller et al., 2021]. Allerdings stehen der demografische Wandel und die soziale Ungleichheit in scharfem Kontrast zu einer wunscherfüllenden Zahnmedizin [Groß, 2014], die in den Praxen eine immer stärkere Rolle spielt. Hier kann eine Kluft zwischen „Ethik und Monetik“ [Groß, 2011] entstehen, in der Aspekte von (zahn-)ärztlicher Indikation, Patientenwillen, sozialer Gerechtigkeit, Ökonomie und Professionsethik in Konflikt miteinander geraten.
Die fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) belegt, dass der Anteil der kariesfreien Gebisse bei Kindern zwischen 1989/92) und 2014 von 13,3 auf 81,3 Prozent gestiegen ist (Abb. 2). Die durchschnittliche Anzahl der kariösen, fehlenden oder mit Füllungen ausgestatteten Zähne in dieser Altersgruppe ging von 4,9 auf 0,5 deutlich zurück (Abb. 3) [IDZ, 2016]. Auch im Vergleich mit anderen Staaten sind die Zahlen verhältnismäßig gut. So zeigt eine Studie aus dem gleichen Zeitraum, dass in England, Wales und Nordirland zwischen 46 und 63 Prozent der 15-Jährigen Karieserfahrungen hatten. [Vernazza et al., 2013:315]. Das Ergebnis ist insofern erstaunlich, als sich die Dental-Public-Health-Maßnahmen im Vereinigten Königreich und in Deutschland aktuell nur unwesentlich unterscheiden [GOV.UK, 2021].
Ist Karies hierzulande kein Thema mehr?
Als Ursache für den drastischen Kariesrückgang im deutschen Raum können orale Präventionsmaßnahmen angenommen werden, die sich traditionell auf verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen stützen. Hierzu gehören neben einer entsprechenden Mundgesundheitsaufklärung die Vereinheitlichung der Fluorid-Empfehlungen vom Säuglings- bis zum Vorschulalter und insbesondere die Verbesserung der gruppenprophylaktischen Betreuung von Klein- und Kindergartenkindern. Damit wurden nach der deutschen Wiedervereinigung einige Maßnahmen der öffentlichen Zahngesundheit und der (Vor-)Schulzahnpflege umgesetzt, die mit dem durchschnittlich besseren Gesundheitszustand ostdeutscher Kinder vor 1989 in Zusammenhang gebracht wurden [IDZ, 2016:8; nl, 2021; Krischel/Nebe, 2022b].
Bei genauem Hinschauen offenbart die DMS V jedoch, dass soziale Determinanten bei der Mundgesundheit weiterhin eine wichtige Rolle spielen: Karieserfahrungen sind bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus mehr als doppelt so häufig wie bei Kindern aus Familien mit hohem Sozialstatus. Der Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen mit kariesfreiem Gebiss ist bei einem Familienhintergrund mit hohem Sozialstatus 13 Prozent höher als bei einem Hintergrund mit niedrigem Sozialstatus.
Einerseits bemerkt dazu das IDZ: „Die engmaschige Gruppen- und Individualprophylaxe erfasst auch benachteiligte Kinder und andere Risikogruppen. Flächendeckende, früh einsetzende Präventionsmaßnahmen, solidarisch finanziert durch die gesetzlichen Krankenkassen, zahlen sich für alle Menschen aus, unabhängig von sozialen Schichten“ [IDZ, 2016:9]. Andererseits kommen Forscher, die sich mit sozialer Ungleichheit und Mundgesundheit auseinandersetzen, zu einem ernüchternden Ergebnis: Weiterhin prägen Faktoren wie Höhe des Einkommens, Bildungsstand, ungünstige Ernährungsgewohnheiten oder Zahnputzmuster das individuelle Erkrankungsrisiko für eine Zahnkaries [IDZ, 2016:26–27; Ziller, 2007:2–3].
Die Zähne sollen auch gut aussehen
Diese Probleme der öffentlichen Mundgesundheit bilden einen Kontrast zum Trend hin zu einer ästhetischen und wunscherfüllenden Zahnmedizin [Groß, 2014]. Im Unterschied zur prophylaktischen oder kurativen Behandlung, die auf die beiden Säulen der zahnärztlichen Indikation und des Patientenwillens gestützt ist, verschiebt sich das Verhältnis bei der wunscherfüllenden Zahnmedizin weg von einem Behandlungsbedarf mit dem Ziel der Funktionserhaltung oder -wiederherstellung hin zu einer Therapie, die sich an individuellen, ästhetischen, Wünschen des Patienten orientiert [Neitzke/Oppermann, 2016, Neitzke, 2015].
Hinterfragt werden kann die wunscherfüllende Zahnmedizin vor dem Hintergrund einer medizinethischen Debatte um potenzielle Entgrenzungsdimensionen der modernen (Zahn-)Medizin. Ist ein Enhancement – also eine Verbesserung biologischer, psychologischer und sozialer Attribute– deutlich über ein Normalmaß hinaus zulässig? Welche Risiken darf ein Patient dafür eingehen und welche speziellen Anforderungen müssen an eine Aufklärung gestellt werden? Und wie verträgt sich eine solche Behandlung mit den geltenden professionsethischen Standards und den knappen Ressourcen im Gesundheitssystem [Aquino, 2020]?
Ein Beispiel für diese Auseinandersetzung ist die Kritik an der oftmals nur aus ästhetischen Gründen legitimierbaren kieferorthopädischen Anwendung von Zahnspangen. Diese Diskussion weckte bereits 2017 das Interesse des Bundesrechnungshofs: Demnach erhielten über 50 Prozent der Kinder in Deutschland eine Zahnspange. Trotz hoher Zuzahlungen seitens der Elternschaft investieren die Krankenkassen jährlich rund 1,1 Milliarden Euro in kieferorthopädische Maßnahmen. In der Kritik stand dabei der unzureichend erforschte medizinische Nutzen derselben [Hendrich, 2018].
Das Dilemma um ästhetische Zahnmedizin verschärft sich vor dem Hintergrund, dass sich gutes Aussehen in vielen Lebensbereichen positiv auswirken kann. So zeigt eine Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), dass „[g]utes Aussehen [...] den wirtschaftlichen Erfolg [steigert] und [...] sich damit positiv auf die individuelle Lebenszufriedenheit aus[wirkt]“ [Keßler, 2012].
Heiligenschein und Teufelshörner
Lange prägte eine Gleichsetzung von physischer Schönheit mit anderen positiven Charaktereigenschaften das Denken. Aristoteles wies bereits in der Antike auf diesen Zusammenhang hin: „Health and beauty are good because they are (1) excellences of the body and (2) productive of many things” [Aristoteles zitiert nach Heinaman, 1993:39]. Bis heute wird nicht nur im Bereich von Kunst und Kultur ein solcher Zusammenhang hergestellt [Krischel/Nebe, 2022c]. In der Sozialpsychologie firmiert dieses Phänomen unter dem „halo effekt“, zu Deutsch „Heiligenschein-Effekt“.
Der von dem US-amerikanischen Psychologen Edward Lee Thorndike eingeführte Terminus beschreibt einen kognitiven Verzerrungseffekt. Dabei werden faktisch nur teilweise zusammenhängende oder auch völlig unabhängige Eigenschaften einer Person irrtümlich als korrelierend wahrgenommen. Einzelne Attribute einer Person erzeugen einen ersten positiven Eindruck. Dieser Effekt ist so nachhaltig, dass er die weitere Wahrnehmung der Person bestimmt.
Der negative Gegenentwurf ist der sogenannte „(devils) horns effect“ oder „Teufelshörner-Effekt“. Dabei werden unattraktive Merkmale oder Attribute einer Person mit einer negativen Zuschreibung assoziiert, also mit Lastern oder moralischem Fehlverhalten [Aquino, 2020:435; Pflug, 2020:146; Synnott, 1993:74]. Die Professorin für Globale Ethik an der Universität Birmingham, Heather Widdows, warf in ihrer 2018 publizierten Monografie „Perfect Me: Beauty as an Ethical Ideal“ sogar die These auf, dass die zunehmende gesellschaftliche Obsession für das äußere Erscheinungsbild dazu führt, dass eine mangelhafte Attraktivität einer Person als individuelles „Schönheitsversagen“ gewertet und moralisch verurteilt werden könnte.
Die Folge: Die Betroffenen leiden unter ihrer „moralischen Schmach“, wenn sie sich nicht den geltenden ästhetischen Idealen ihrer Kulturgemeinschaft unterwerfen. Das „Schönheitsversagen“ führe in letzter Konsequenz zu einer „Pathologisierung von Hässlichkeit“. Aber ist eine Person wirklich krank, wenn sie nicht dem geltenden Schönheitsideal entspricht [Aquino, 2020:435; Widdows, 2018]?
Ist Hässlichkeit eine Krankheit?
Legt man das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit zugrunde, an dem sich auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert, könnte man durchaus zu dem Schluss kommen, dass keine schönen, geraden Zähne zu haben, nicht nur einen ästhetischen Mangel darstellt, sondern unter Umständen auch als krankhaft einzustufen ist. Bei der WHO heißt es: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen“ [Lippke/Renneberg, 2019]. Für die Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Krankheiten ergibt sich daraus ein ganzheitlicher Ansatz, bei dem nicht nur biologische Faktoren des Patienten zu berücksichtigen sind. Auch soziokulturelle Aspekte – wie Sozialstatus, Möglichkeit zur sozialen Teilhabe – und psychologische Faktoren sind relevant [von Känel et al., 2020, UNIA 2022].
Wenn ein Patient den Zustand seines Gebisses als so prekär empfindet, dass er sich dauerhaft unwohl fühlt, kann dies bei ihm einen Leidensdruck auslösen. Fehlende Frontzähne, deutliche Verfärbungen oder Zahnfehlstellungen können die gesellschaftliche Teilhabe oder den beruflichen Erfolg möglicherweise tatsächlich negativ beeinflussen, ohne dass eine Funktionseinschränkung des Kauapparats vorliegt. Wo jedoch durch einen zahnmedizinischen Eingriff soziales und psychisches Leiden gelindert werden sollten und wo der Patient mehr von einer Stärkung seines Selbstbewusstseins oder seiner psychischen Gesundheit profitieren könnte, muss stets im individuellen Zahnarzt-Patienten-Gespräch eruiert werden.
In diesem Zusammenhang erfolgt die Indikationsstellung nicht wertfrei. Als Grundlage des zahnärztlichen Handelns ist sie nicht nur ein „Instrument empirisch, final und kausal begründeter Therapieentscheidungen, [sondern ebenfalls] handlungsleitendes Werturteil [mit einer] Reihe von normativen Implikationen“ [Neitzke/Oppermann, 2016:41], das heißt, die Indikationsstellung berührt professions- und sozialethische Fragen.
Auch wenn die „Schönheitsphilosophie“ vieler Patienten womöglich neue, ökonomisch attraktive Betätigungsfelder eröffnet, liegt es letztlich im Ermessen der Zahnärzteschaft selbst, abzuwägen, ob sie den Weg einer zunehmenden „Vergewerblichung“ gehen möchte [Groß, 2014]. Möchte sie sich vor allem als medizinischer Dienstleister verstehen, der seinen aufgeklärten Patienten (Kunden) ein breites Angebot an mehr oder weniger zahnmedizinisch indizierten Behandlungsangeboten macht? Oder orientiert sie sich eher an einer ganzheitlichen, sprechenden Zahnmedizin, die sich als „Heilkunst“ [Maio, 2014] versteht und dabei einen weichen Paternalismus in Kauf nimmt, indem sie Patienten nicht jeden technisch möglichen Eingriff anbietet?
Wie ernst ein Zahnarzt die soziale und psychologische Indikationsstellung nimmt, wird sich auch an seinem Umgang mit Patienten ablesen lassen, die für ästhetische Behandlungen nicht bezahlen können und gegebenenfalls nicht krankenversichert sind. Ein Dilemma ist hier die Versorgung der vulnerablen Gruppen der Asylbewerber [Groß et al., 2013]. So sind zahnmedizinische Untersuchungen und Behandlungen dieser Personengruppe in Deutschland durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) abgedeckt, wenn sie im Sinne der §§ 4 und 6 notwendig sind. Der Leistungsanspruch ist jedoch so beschnitten, dass er unter Umständen erst im Schmerzfall greift. Mögliche zahnerhaltende Maßnahmen werden überwiegend nicht erstattet. Wie verhält sich ein Zahnarzt gegenüber einem solchen Patienten, wenn er einerseits dessen Autonomie fördern, ihm durch die Behandlung keinen Schaden zufügen, seine Würde achten und seine Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe steigern will, gleichzeitig aber eine Praxis als wirtschaftliches Unternehmen führen muss? Wie kann in solchen Situationen verhindert werden, dass Mundgesundheit zu einem unerschwinglichen Gut wird [KZBV/BZÄK, 2022]?
Wenn der Zahnarzt zum Dienstleister wird
Die wunscherfüllende Zahnmedizin stellt heute einen wichtigen Teil der zahnärztlichen Praxis dar. Insbesondere ästhetische Maßnahmen werden von vielen Patienten nachgefragt und von vielen Zahnärzten gerne angeboten. In jedem Fall sind hier eine Nutzen-Risiko-Abwägung und umfassende Aufklärung nötig [Gersch, 2011]. Im individuellen Gespräch sollte geklärt werden, ob eine ästhetische Behandlung dem Patienten tatsächlich wohltut, oder ob andere Optionen ebenso geeignet sind, seinen sozialen und psychologischen Leidensdruck zu verringern.
Auch für die Zahnarzt-Patienten-Beziehung und den Zahnarzt selbst birgt eine Ökonomisierung Risiken: Wo er zum Dienstleister wird, können „moral distress“, ein Vertrauensverlust der Patienten und eine sozialethische Schieflage zwischen wunscherfüllender Spitzenzahnmedizin für einige und Unterversorgung für andere drohen. In professionsethischen Debatten muss die Zahnärzteschaft einen Umgang mit diesen Fragestellungen erarbeiten [Stiefelhagen, 2019, Krischel/Nebe, 2022a].
Literaturliste
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