Warum Kaiser Tiberius das Küssen verbot
Die Geschichte des Herpes reicht Millionen von Jahren zurück. Die neuesten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der HSV-1-Virusstamm, der für Herpes-Simplex-Infektionen verantwortlich ist, vor etwa 5.000 Jahren entstand. Ein Team internationaler Wissenschaftler unter der Leitung der Universität Cambridge hat alte Genome des Herpesvirus zum ersten Mal aufgedeckt und sequenziert. Bisher stammten die ältesten genetischen Daten für Herpes aus dem Jahr 1925.
Kussverbot bei offiziellen Anlässen
Die Zunahme der Übertragung vor etwa 5.000 Jahren führen die Forschenden auf das Küssen zurück, das erstmals in einem Manuskript aus der Bronzezeit in Südasien überliefert ist. Sie vermuten, dass der Brauch, der in den menschlichen Kulturen bei Weitem nicht universell ist, mit den Migrationen aus Eurasien Richtung Westen nach Europa gelangt sein könnte.
Weltgesundheitsorganisation
Zwei Drittel der Jüngeren haben Herpes
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) tragen heute zwei Drittel der Weltbevölkerung unter 50 Jahren HSV-1 in sich: Etwa 3,7 Milliarden Menschen sind betroffen. Für die meisten von uns sind die gelegentlich auftretenden Lippenbläschen lediglich unangenehm, aber in Kombination mit anderen Krankheiten, zum Beispiel mit einer Sepsis oder mit COVID-19, kann das Virus lebensbedrohlich sein. 2018 starben in Großbritannien zwei Frauen nach Kaiserschnittgeburten an einer HSV-1-Infektion.
Jahrhunderte später versuchte jedenfalls auch der römische Kaiser Tiberius, der von 14 bis 37 nach Christus regierte, das Küssen bei offiziellen Anlässen zu verbieten, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern – ein Erlass, der möglicherweise mit Herpes zusammenhing.
Während des größten Teils der menschlichen Vorgeschichte war die Übertragung von HSV-1 jedoch „vertikal“: Derselbe Stamm wurde von der infizierten Mutter auf das neugeborene Kind übertragen.
Auf 3.000 Proben kamen nur vier Herpes-treffer
Trotz der heutigen Verbreitung des Virus beim Menschen sind den Wissenschaftlern zufolge überraschend wenige antike Beispiele von HSV-1 zu finden. Die Forschenden haben insgesamt rund 3.000 DNA-Proben archäologischer Funde untersucht, hatten aber nur vier Herpes-Treffer. Dem Team gelang es, die virale DNA aus den Zahnwurzeln zu extrahieren.
Die Forschenden spürten Herpes in den Überresten von vier Individuen auf, die sich über einen Zeitraum von tausend Jahren erstreckten. Herpes tritt häufig in Verbindung mit Mundinfektionen auf: Mindestens zwei der Individuen hatten eine Zahnfleischerkrankung und ein drittes rauchte Tabak. Die älteste Probe stammte von einem erwachsenen Mann, der in der russischen Uralregion ausgegraben wurde und in der späten Eisenzeit vor etwa 1.500 Jahren lebte.
Zwei weitere Proben kamen aus Cambridge in Großbritannien. Es handelt sich um ein weibliches Exemplar aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert nach Christus von einem frühen angelsächsischen Friedhof einige Kilometer südlich der Stadt. Die andere Probe stammt von einem jungen erwachsenen Mann aus dem späten 14. Jahrhundert, der auf dem Gelände des mittelalterlichen Wohltätigkeitsspitals von Cambridge – dem späteren St. John‘s College – begraben wurde und unter entsetzlichen Zahnabszessen litt.
Überreste aus tausend Jahren in der Analyse
Die letzte Probe stammte von einem jungen Mann, der in Holland ausgegraben wurde: ein leidenschaftlicher Tonpfeifenraucher, der höchstwahrscheinlich bei einem französischen Angriff auf sein Dorf am Rheinufer im Jahr 1672 massakriert wurde.
Durch den Vergleich antiker DNA mit Herpesproben aus dem 20. Jahrhundert konnten die Wissenschaftler die Unterschiede analysieren, sowie eine Mutationsrate und damit einen Zeitrahmen für die Evolution des Virus abschätzen.
Guellil M, van Dorp L, Inskip SA, Dittmar JM, Saag L, Tambets K, Hui R, Rose A, D‘Atanasio E, Kriiska A, Varul L, Koekkelkoren AMHC, Goldina RD, Cessford C, Solnik A, Metspalu M, Krause J, Herbig A, Robb JE, Houldcroft CJ, Scheib CL: Ancient herpes simplex 1 genomes reveal recent viral structure in Eurasia. Sci Adv. 2022 Jul 29;8(30):eabo4435. doi: 10.1126/sciadv.abo4435. Epub 2022 Jul 27. PMID: 35895820.