Spektakuläre Forschungsergebnisse

Was die Zähne über das Leben dieser Frau verraten

Heftarchiv Gesellschaft
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1988 wurden die Überreste der 1619 verstorbenen Adeligen Anne d'Alègre entdeckt. Jetzt haben Forscher mithilfe von 3-D-Technologie ihre Zahngeschichte und ihr Leben rekonstruiert.

Die Leiche der vor 400 Jahren verstorbenen Adeligen Anne d'Alègre wurde 1988 bei einer archäologischen Ausgrabung im Chateau de Laval im Nordwesten Frankreichs gefunden. Ihr in einem Bleisarg einbalsamiertes Skelett - und ihre Zähne - waren bemerkenswert gut erhalten. Damals stellten die Archäologen fest, dass sie eine Zahnprothese trug, viel mehr konnten sie anhand der damals verfügbaren Methoden leider nicht herausfinden.

Eine Ligatur hielt die Prämolaren zusammen

Jetzt haben Forscher vom Institut National de Recherches Archéologiques Préventives (INRAP) in Cesson-Sévigné in Frankreich die Tote erneut untersucht - und anhand neuester Methoden ihren Zahnstatus, ihre orale Mundgesundheit und die daraus resultierenden Behandlungen rekonstruiert.

Die Röntgenaufnahmen mit der 3-D-Technik "Cone Beam" enthüllen, dass die Adelige an einer Parodontalerkrankung litt und eine Zahnprothese aus Elfenbein trug, die einen Schneidezahn ersetzte und mit Golddrähten an den Nachbarzähnen befestigt war, sowie eine Ligatur, die die Prämolaren zusammenhielt.

Die Folgen der Apparatur waren verheerend

Obgleich das Ziel dieser Versorgung den Wissenschaftlern zufolge darin bestand, die funktionellen und ästhetischen Folgen des Zahnverlusts zu begrenzen, waren die Folgen verheerend, denn die langfristige Verwendung und die mehrfach erforderlichen Nachspannungen führten zu einer Instabilität der tragenden Nachbarzähne.

Die auf der linken Seite des Kiefers beobachtete Zahnlosigkeit in Verbindung mit Zahnabnutzungen deutet den Archäologen zufolge auf eine solche therapeutische Behandlung und den endgültigen Verlust der Nachbarzähne, darunter ein Molar, hin.

Sie wollte und musste gepflegt aussehen

Die Forscher vermuten, dass das Ziel der Behandlung therapeutischer, ästhetischer und vor allem sozialer Natur war. So zeigt die Studie, wie wichtig es für aristokratische Frauen war, ein gepflegtes Äußeres zu bewahren. Diese waren damals in einer patriarchalischen Gesellschaft starken Zwängen unterworfen und waren auf Ehe und Mutterschaft. Sie wurden hauptsächlich wegen ihrer guten Sitten, ihres Vermögens und ihrer Schönheit nach dem Kanon der Epoche geschätzt. Das Aussehen der Person ist somit ein wesentliches gesellschaftliches Element.

D'Alègre ertrug die Schmerzen also nicht nur aus medizinischen Gründen, mutmaßt Rozenn Colleter, Archäologin am INRAP und Hauptautorin der Studie. Ein schönes Lächeln sei für die Adelige wahrscheinlich besonders wichtig gewesen, schließlich war sie eine "umstrittene" zweimal verwitwete Gesellschaftsdame, "die keinen guten Ruf hatte".

Schon Ambroise Paré, Arzt des Königs und Zeitgenosse von Anne d'Alègre, stellte laut Colleter fest, dass "ein zahnloser und entstellter Kranker auch in seiner Rede verderbt wird". Es sei daher verständlich, warum es für Anne d'Alègre so wichtig war, ihr Aussehen trotz der fürchterlichen Folgen durch das Einsetzen einer Prothese wiederherzustellen. Das Studium des Gebisses ermögliche somit einen Einblick in die intimsten Parameter des Lebens einer Person.

"Über die rein therapeutische Behandlung hinaus und weit entfernt von der reinen Koketterie zeigt diese Studie auch die Bedeutung des Aussehens für aristokratische Frauen, die starken sozialen Zwängen unterworfen waren (wie Stress oder Witwenschaft), wobei die Sprache der entstellten Frauen als verdorben angesehen werden konnte", schreiben die Autoren. Die parodontalen Schäden zeigen demnach die funktionellen Folgen des großen Stresses, dem Anne d'Alègre im Laufe ihres Lebens ausgesetzt war, wie lange Witwenschaften, ihr Leben im Krieg inmitten gefährlicher politischer Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken und der frühe Verlust ihres einzigen Sohnes.

Wer war Anne d'Alègre?

Anne d'Alègre wurde um 1565 
geboren und verlebte ihre Jugend in der Provinz, zwischen der Auvergne und der Normandie. Nach einer kurzen ersten Ehe mit Paul de Coligny, dem letzten Grafen von Laval, wurde sie im Alter von 21 Jahren Witwe, mit einem noch sehr kleinen Kind. Frankreich befand sich im achten Religionskrieg (1585—1598) und die ultra-katholischen Kräfte gingen brutal gegen die Hugenotten vor. Ihren Sohn François de Coligny, genannt Guy XX. de Laval, musste Anne verstecken, ihr Besitz wurde vom König beschlagnahmt.

13 Jahre später heiratete sie erneut: Wilhelm IV. d'Hautemer, Gouverneur der Normandie und über 30 Jahre älter. Ihr Sohn, zum Katholizismus konvertiert, fiel auf einem Kreuzzug 1605 im Alter von 20 Jahren in Ungarn. Als Anne mit 43 Jahren erneut Witwe wurde, amüsierten Gerüchte über eine dritte Ehe die Pariser Gesellschaft. Sie organisierte gesellschaftliche Feste und kleidete sich luxuriös — und war eine der ersten Frauen, die „mit einer Kutsche" zur Sonntagspredigt fuhr. Im Winter 1618/1619 wurde sie krank und starb mit 54 Jahren.

Die Skelette von Anne d'Alègre und ihrem Sohn werden im Musée des Sciences in Laval aufbewahrt.

Rozenn Colleter, Antoine Galibourg, Jérôme Tréguier, Mikaël Guiavarc’h, Éric Mare, Pierre-Jean Rigaud, Florent Destruhaut, Norbert Telmon, Delphine Maret (2023) Dental Care of Anne d’Alègre (1565-1619, Laval, France). Between Therapeutic Reason and Aesthetic Evidence, the Place of the Social and the Medical in the Care in Modern Period. JAS: Reports.

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