Aus der Wissenschaft

Mythen im Bereich Dentin-Bonding – eine evidenzbasierte Perspektive

Heftarchiv Zahnmedizin
Elmar Hellwig
In allen Bereichen der menschlichen Erkenntnis gibt es scheinbar zeitlose Wahrheiten, die ganz selbstverständlich als Basiswissen kommuniziert werden, so dass niemand mehr auf die Idee kommt, diese zu hinterfragen. Dabei wäre kritisches Denken durchaus hilfreich, weil es nicht selten kaum belastbare Evidenz für diese „Wahrheiten“ gibt. Dass die Suche nach mehr Evidenz mitunter zu provokanten und nicht immer konsensfähigen Aussagen führt, zeigt ein Review zu Mythen über das Dentin-Bonding im renommierten Fachblatt „Journal of Dental Research“.

Die Entwicklung der modernen Adhäsivsysteme machte erst die Anwendung minimalinvasiver und gleichzeitig ästhetischer, restaurativer Maßnahmen möglich. Allerdings wurden auch signifikante Veränderungen der Haftfestigkeit von Kompositrestaurationen nach kurzer und langer Lagerungszeit festgestellt. Klinisch wurde über ein Debonding, über postoperative Sensitivität und über Randverfärbungen berichtet. Diese Probleme führten dazu, dass Wissenschaftler sich in erster Linie in Laborversuchen künstlichen Alterungsprozessen zuwandten, um die Degradation der Hybridschicht zu evaluieren und zu verringern. Ohne Frage sind Laborversuche essenziell, um neue Materialien und Prozesse zu entwickeln – Laborstudien können aber nur der erste Schritt bei der Entwicklung von Materialien und deren klinischer Anwendung sein.

Die Ergebnisse aus In-vitro-Studien sollten grundsätzlich in klinischen Untersuchungen verifiziert werden, da hier verschiedene bekannte und unbekannte Faktoren die Langlebigkeit von Restaurationen beeinflussen können. Leider werden aber nicht selten klinische Empfehlungen ausgesprochen, die ausschließlich auf Laborversuchen beruhen. Dabei werden unbewusst klinische Protokolle empfohlen, die klinisch nicht erprobt sind und letztlich auf Mythen beruhen. Laboruntersuchungen sind rasch durchgeführt, während klinische Studien sich teilweise über Jahre erstrecken. Bei der Beurteilung von Forschungsergebnissen geht es letztlich aber immer darum, ob Statements tatsächlich auf Evidenz aus klinischen Studien basieren und den Prinzipien der Evidence Based Practice (EBP) folgen. Dabei sollten möglichst randomisierte, kontrollierte Studien durchgeführt werden. So können zum Beispiel auch die Risiken, Kosten und Nutzen für den Patienten beurteilt werden.

Während Mythen in der Literatur üblicherweise mit Märchen oder Parabeln in Verbindung gebracht werden, erscheinen sie im Bereich der Medizin eher als „Fakten“, die unhinterfragt einer scheinbar schlüssigen Logik folgen, üblicherweise keinen klaren Ursprung erkennen lassen und nicht auf klinischer Evidenz beruhen. Diese Mythen können über längere Zeit bestehen, insbesondere wenn sie von Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet propagiert beziehungsweise unterstützt werden. Irrtümlicherweise werden sie als „beweiskräftig“ hingenommen, wenn sie routinemäßig verbreitet werden. Hier sind insbesondere Lehrbücher und Social Media beteiligt. Drei Autoren um Prof. Alessandra Reis von der Staatlichen Universität Ponta Grossa, Brasilien, haben sich in einem aktuellen Review im Journal of Dental Research mit einigen dieser Mythen beschäftigt und sie auf Evidenz geprüft.

Mythos 1:
Etch-and-rinse-Adhäsive sollten mit einem Wet-Bonding-Protokoll angewendet werden.

Auf der Basis von Laboruntersuchungen und rasterelektronenmikroskopischen Ergebnissen wurde dieses Protokoll eingeführt und von Herstellern übernommen. Klinisch spielen allerdings zahlreiche Variablen – zum Beispiel Art der Adhäsiv­applikation, Art des verwendeten Komposits, Lichthärtungsprocedere, Kontamination, Okklusionsverhältnisse – eine erhebliche Rolle im Hinblick auf die Haltbarkeit der Restauration. Die wenigen randomisierten, kontrollierten Studien zu Dentinfeuchtigkeit und Langlebigkeit der Restaurationen kamen im Bereich von zervikalen Restaurationen und Seitenzahnrestaurationen nicht zu dem Ergebnis, dass das Wet-Bonding-Protokoll gegenüber einem Dry-Bonding-Protokoll überlegen war.

Mythos 2:
Chlorhexidin sollte appliziert werden, um die Langlebigkeit von Restaurationen zu verbessern.

Zahlreiche Laborstudien und eine Ex-vivo-Studie konnten zeigen, dass die Applikation von Chlorhexidin die Degradation der Hybridschicht verringert. In RCTs, in denen das Debonding von Restaurationen untersucht wurde, bei denen entweder CHX oder kein CHX verwendet wurde, konnte kein Unterschied in der Überlebensrate von Kompositrestaurationen festgestellt werden.

Mythos 3:
Die Verwendung von Kofferdam ist essenziell für die Anfertigung von langlebigen Restaurationen.

Die Kontamination von Kavitätenrändern durch Feuchtigkeit, Speichel und Blut während der Durchführung der Adhäsivtechnik kann das Bonding-Ergebnis beeinträchtigen. In einem systematischen Review wurde berichtet, dass es nach sechs Monaten zu einer geringeren Versagensrate von Restaurationen, die unter Kofferdam gelegt worden waren, im Vergleich zur Verwendung von Watterollen kam. Diese Aussage beruht allerdings auf einem geringen Evidenzgrad.

Noch geringer ist die Evidenz für Studien mit einer längeren Beobachtungszeit. Die Autoren sprechen sich zwar nicht gegen die Verwendung von Kofferdam aus, weisen allerdings darauf hin, dass es keine klinischen Studien mit hoher Evidenz gibt, die eine Verbesserung der Überlebensrate von Restaurationen zeigen, die unter absoluter Trockenlegung im Vergleich zu relativer Trockenlegung gelegt wurden. Zudem weisen sie auf mögliche Vorteile der relativen Trockenlegung hin.

Mythos 4:
Optibond FL und Clearfil SE sind der Goldstandard in der Adhäsivtechnik.

Seit mehr als 20 Jahren wird behauptet, dass diese beiden Adhäsivsysteme der Goldstandard sind. Dies wird zum Beispiel durch eine Metaanalyse unterstützt, die sich mit Laboruntersuchungen zur Haftfestigkeit von Adhäsiven beschäftigt. Ein systematisches Literaturreview von RCTs, das die Retentionsraten von Restaurationen, die mit dem sogenannten Goldstandard gelegt worden waren, mit Restaurationen verglichen, bei denen andere Adhäsive verwendet wurden, zeigten keine besseren Ergebnisse für die beiden Adhäsivsysteme. Auch wenn die beiden Materialien eine exzellente klinische Leistungsfähigkeit besitzen, sollten sie deshalb aufgrund der vorhandenen Evidenz nicht als Goldstandard bezeichnet werden.

Mythos 5:
Eine Anrauung von sklerotischem Dentin kann die Überlebensrate von Restaurationen verbessern.

Dentintubuli sind im Bereich des sklerotischen Dentins teilweise oder komplett obliteriert. Sie haben also eine säureresistente, hypermineralisierte Oberflächenschicht, die ein Problem für die Penetration von Adhäsionssystemen darstellt. Es scheint also plausibel, diese Schicht zu entfernen, bevor man Dentinadhäsive aufträgt. In Laboruntersuchungen und nicht randomisierten klinischen Studien wurde diese Behauptung bestärkt. Allerdings kam kein RCT zu dem Ergebnis, dass es einen Unterschied zur Retentionsrate von Restaurationen gibt, bei denen das sklerotische Dentin entfernt wurde.

Mythos 6:
Das klinische Verhalten von Adhäsiven kann aufgrund der Bondingstrategie (Anzahl der Arbeitsschritte) vorhergesagt werden.

In einer Metaanalyse, die 66 RCTs einschloss, konnte keine Überlegenheit einer speziellen Bonding-Strategie gegenüber anderen in Bezug auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von Restaurationen gezeigt werden.

(Für weitere Beispiele von Mythen sei auf die Originalpublikation, insbesondere auf den Appendix (Tabl. 1), verwiesen.)

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Ergebnisse von Laboruntersuchungen und individuelle klinische Erfahrungen nicht als Beweis für die Effektivität von medizinischen Maßnahmen propagiert werden sollten. Sie mahnen auch im Fall scheinbar zeitloser Wahrheiten kritisches Denken an, das evidenzbasierte Analysen aus klinischen Studien in die Urteilsfindung einbezieht.

Originalpublikation:
Reis A, Loguercio AD, Favoreto M, Chibinski AC: Some Myths in Dentin Bonding: An Evidence-Based Perspective. J Dent Res. 2023 Apr;102(4):376-382. doi: 10.1177/00220345221146714. Epub 2023 Jan 27. PMID: 36707968.

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