Hohe Burn-out-Raten im US-Gesundheitswesen

Mehr Wertschätzung und weniger Bürokratie sind der Schlüssel

Bereits vor der COVID-Pandemie hatten die Burn-out-Raten im US-Gesundheitswesen ein Krisenniveau erreicht. Damals berichteten bis zu 60 Prozent der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte und bis zu 54 Prozent der Pflegekräfte über entsprechende Symptome. Jetzt soll ein neues Programm die dramatische Situation entschärfen.

In seinen 76-seitigen Bericht führt der Sanitätsinspekteur der Vereinigten Staaten, das ist der Chef aller Behörden unter dem Gesundheitsministerium, dass Burn-out bei Gesundheitspersonal nicht nur schädliche Folgen für die Patientenversorgung hat, sondern auch zunehmend zu einem riesigen Kostenfaktor wird. Studien schätzen, dass dem US-Gesundheitswesen dadurch Kosten von 2,6 bis 6,3 Milliarden US-Dollar jährlich entstehen. Hinzu kommen noch hochgerechnete Kosten für Burn-Out von Pflegepersonal in Höhe von 9 Milliarden US-Dollar jährlich [Han et al. 2019].

Bereits chronischer arbeitsbedingter Stress, eine Ursache und Vorstufe von Burn-out, wird demnach in zahlreichen Studien mit körperlichen und psychischen Gesundheitsproblemen für Beschäftigte des Gesundheitswesens in Verbindung gebracht. Dazu gehören negative Einflüsse auf kognitive Funktionen, ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Fruchtbarkeitsprobleme, Schlafstörungen und Schlaflosigkeit, Familien- und Beziehungskonflikte, Angst, Depression sowie ein erhöhtes Risiko für Drogenkonsum und -missbrauch.

US-Ärzten haben ein extremes Suizidrisiko

Obwohl ein Zusammenhang zwischen Burn-out und Suizid nicht ausreichend belegt ist, zeigte Ende 2019 eine Untersuchung, dass das Suizidrisiko von US-Ärzten 34 Prozent höher ist als bei ihren Kolleginnen und Kollegen aus Europa [Dutheil et al., 2019]. Und diese Situation hat sich durch die Pandemie offenbar noch einmal verschlimmert: In einer zwischen Juni und September 2020 durchgeführten Umfrage unter 1.100 Beschäftigten des US-Gesundheitswesens berichten 93 Prozent von Stress, 86 Prozent von Angstzuständen, 76 Prozent von Erschöpfung oder anderen Burn-out-Symptomen und 41 Prozent von Einsamkeit [Mental Health America, 2021].

Den Gesundheitsberufen systemimmanent sei das Phänomen der Moral-Not („moral distress“), die eintritt, wenn die beste Therapieoption zwar bekannt, aufgrund begrenzter Ressourcen oder anderer Umstände aber nicht umzusetzen sei. Eine anhaltende moralische Belastung könne sogar zum Gefühl tiefgreifender Schuld, Scham, Wut und anderen psychologischen Auswirkungen führen, schreiben die Autorinnen und Autoren [Williamson et al, 2021]. So ergab eine Umfrage von 2022 unter mehr als 1.500 US-Ärzten, dass 61 Prozent der Meinung sind, dass sie wenig bis gar keine Zeit und Möglichkeit haben, die sozialen Determinanten ihrer Patienten effektiv anzugehen – und 83 Prozent glauben, dass das zur hohen Burn-out-Rate unter Medizinerinnen und Medizinern beträgt [The Physicians Foundation, 2022].

Jeder fünfte Arzt überlegt, aufzugeben

Als Reaktion auf die anhaltend hohe Arbeitsbelastung, der Personal- und Ressourcenknappheit sowie der zunehmenden Zahl von verbalen und körperlichen Übergriffen gegenüber Angehörigen der Gesundheitsberufe zogen 2021 rund 23,8 Prozent der Ärzteschaft und 40 Prozent des Pflegepersonals in Erwägung, ihre Profession zu verlassen [Sinsky et al. 2021]. Das dies womöglich mehr als nur Gedankenspiele sind, legten Zahlen aus dem Bereich der Altenpflege nahe, so der Bericht. Hier nahm die Zahl der Beschäftigten nach Angaben des US-Arbeitsministeriums in den zwei Pandemiejahren um 15 Prozent ab.

Dem Bericht zufolge sind nicht-weiße Beschäftigte, solche mit Migrationshintergrund oder einer Tätigkeit in ländlichen Regionen oder in den Reservaten der Native Americans von Repressalien besonders betroffen.

Ein Zertifikat für Kliniken mit niedrigem Burn-out-Risiko

Seit 2021 läuft die von der EU geförderte Studie „Magnet4Europe“. Ihr Ziel ist, die Arbeitsumgebung von ärztlichem und pflegerischem Personal so umzugestalten, das sich die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden verbessern. Gemessen werden Fehlzeiten, Fluktuation, Arbeitszufriedenheit und Burn-out-Fälle. Insgesamt nehmen 60 Kliniken (20 aus Deutschland) an der Studie teil. Aktuell läuft die dritte und letzte Befragungswelle. Die Ergebnisse sollen Ende dieses Jahres vorliegen.

​Das Magnet-Programm ist eine freiwillige Zertifizierung von Krankenhäusern zur Verbesserung der Pflegebedingungen durch das American Nurses Credentialing Center (ANCC), teilt das an der Studie teilnehmende Universitätsklinikum Heidelberg mit. Evidenz aus 40 Jahren Forschung zeige, dass Magnet-zertifizierte Krankenhäuser bessere Arbeitsumgebungen und -bedingungen und höhere Personalzufriedenheit gewährleisten und somit geringere Burn-out-Raten beim Gesundheitspersonal und eine höhere Patientensicherheit aufweisen.

Zu oft konzentrierten sich Interventionen zur Reduktion von Burnout auf einzelne Faktoren auf individueller Ebene anstelle systemischer und vielschichtiger Anstrengungen, beklagen die Autoren. Diese hätten daher nur begrenzt langfristige Auswirkungen auf die Verhinderung von Burnout und die Verbesserung des Wohlbefindens. Vielmehr brauche es einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der die Organisationskultur, Richtlinien, Vorschriften, Informationstechnologie, finanziellen Anreize und gesundheitlichen Ungleichheiten mitberücksichtigt. Zu folgende Aspekten schlägt das Programm Maßnahmen vor:

  • Sicherheit: Nie wieder soll vom Gesundheitspersonal erwartet werden, unter so unsicheren Bedingungen wie zum Beginn der Pandemie zu arbeiten. Gleichzeitig müsse der Schutz vor Gewalt am Arbeitsplatz von allen Institutionen und Gemeinden priorisiert werden und durch die Gesetzgebung unterstützt werden. Gesundheitssysteme müssten zudem sicherstellen, dass sein Personal für alle etwaigen Szenarien ausreichend geschult ist und über ausreichend persönliche Schutzausrüstung verfügt. Die Gesundheitssysteme sollten Maßnahmen zur Bewältigung des Fachkräftemangels ergreifen sowie die Ursachen für Krankheiten und Verletzungen am Arbeitsplatz weiter erforschen.

  • Betreuung: Es müsse sichergestellt sein, dass Gesundheitspersonal Zugang zu einer erschwinglichen, vertraulichen und bequemen psychischen Betreuung bekommt. Gleichzeitig müssten Übertragungseffekte von Burnout in den Blick genommen werden, die prominentesten seien psychische Gesundheitsprobleme wie Angstzustände und Depressionen. Bei der Betreuung sollte auf Telemedizin und virtuelle Versorgung zurückgegriffen werden, um einen niedrigschwelligen Zugang sicherzustellen. Diese sollte evidenzbasierte Schulungen und Praktiken zur Prävention oder frühzeitigen Intervention und Behandlung einer Reihe von Erkrankungen wie Burnout und psychischen Gesundheitsproblemen umfassen.

  • Bürokratielast: Administrative Belastungen am Arbeitsplatz sollten reduziert werden, um Gesundheitsangestellten mehr Zeit für die Behandlung und Pflege zu geben. Dazu gehöre sowohl die Reduzierung von Verwaltungs- und Dokumentationsbelastungen sowie die Reduktion der kognitiven Belastung für Gesundheitspersonal, eine flexibilisierte Arbeitsplanung, der Einsatz einer am Menschen ausgerichteter und interoperabler Informationstechnologie. Außerdem sollte die sprechende Medizin ihrem Wert für die Patienten entsprechend besser honoriert werden.

  • Wertschätzung: Arbeitgeber, Politik und Verbände müssten dafür sorgen, dass alle Faktoren identifiziert und evaluiert werden, die zu Burnout beitragen und Lösungen zusammenstellen, um darauf zu reagieren. Die monetären Rahmenbedingungen von Gesundheitspersonal gehörten ebenfalls auf den Prüfstand. Dies beinhalte neben Löhnen und bezahlten Kranken- und Urlaubstagen auch Regelungen zu Ruhepausen, Arbeitszeiterfassung und Familienfreundlichkeit – etwa Angebote zur Kinderbetreuung, Unterstützungsangebote zum Abbau von Studienkrediten oder bei der Pflege älterer Angehöriger. Das Gesundheitspersonal sei eine Säulen der kollektiven Gesundheit, heißt es und sollte daher von ihren Organisationen und Gesellschaft „geschätzt und respektiert werden“.

  • Teambasierung: Gemeinschaft sei ein „Kernwert des Gesundheitssystems“, schreiben die Autoren und leiten daraus vage Handlungsanweisungen ab. Die Stärkung der sozialen Verbindung und der Gemeinschaft verbessert die Arbeitszufriedenheit, schützt vor Einsamkeit und Isolation und verbessert die Qualität der Patientenversorgung, heißt es. Die Arbeit im Team biete zudem soziale Unterstützung und Gemeinschaft und wirke sich deshalb ebenfalls positiv auf das Burn-out-Risiko aus.


Bereits 2019 hatte eine Untersuchung der National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine die Dringlichkeit und Dimension des Problems ausführlich beschrieben. Im Fazit der Autorinnen und Autoren hieß es seinerzeit, dass Maßnahmen zur Minderung von Burnout „eine mutige Vision für die Neugestaltung klinischer Systeme erfordert“, die sich auf die menschlichen Aspekte der Versorgung konzentriert und Patienten, Familien, Betreuer, Kliniker und Mitarbeiter in den Mittelpunkt des Fokus rückt. Fazit der Autorinnen und Autoren damals: Burn-out von Medizinern ist ein komplexes und facettenreiches Problem ist, für das folglich keinen einzelnen Lösungsansatz gibt.

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