Die Burn-out-Prophylaxe
Frau Altvater, elf Jahre lang haben Sie eine erfolgreiche Praxis geführt und sich damit den Traum erfüllt, auf den Sie seit Ihrem Studium hingearbeitet haben. Doch dann rutschten Sie mitten in einen Burn-out. Was war passiert?
Kirsten Altvater: Ich war in einer Situation, in der mir alles zu viel war. Ich fühlte mich für alles und jeden in der Praxis verantwortlich und schaffte es gleichzeitig nicht, mein eigenes Arbeitspensum zu reduzieren. Meine Ehe ging auch noch in die Brüche. Verzweifelt wie ich war, habe ich versucht, alle äußeren Umstände zu beeinflussen: Ich erarbeitete eine besseres Zeitmanagement, etablierte ein neues Abrechnungssystem, kaufte jede Menge neue Software, schickte meine Mitarbeiterinnen zu Fortbildungen, und und und. Doch all dies brachte mir unterm Strich keine dauerhafte Arbeitserleichterung, sondern erzeugte eigentlich nur noch mehr Druck.
Was hat Ihnen schließlich geholfen?
Nachdem ich krampfhaft versucht hatte, zunächst nur die äußeren Umstände in meinem Leben zu verändern, habe ich gemerkt, dass ich mich selbst verändern muss. Und ich habe angefangen, mich mit verschiedenen Methoden auseinanderzusetzen: Psychotherapie, Hypnose, SilvaMind, Autosuggestion und vieles mehr. Irgendwann bin ich auf die sogenannte „pragmatische Psychologie“ gestoßen – und das war genau die richtige Methode für mich!
Was kennzeichnet diese Methode?
Bei der pragmatischen Psychologie geht es vor allem darum, pragmatisch anstatt dramatisch zu sein. Das heißt Situationen erst einmal zu betrachten, ohne sie sofort zu bewerten. Und dann Fragen zu stellen, anstatt in Schlussfolgerungen hängenzubleiben. Also, einfach nur eine Ansicht über die Situation zu haben, pragmatisch damit umzugehen, anstatt ins übliche Drama zu springen – und damit sofort eine enorme Erleichterung im Praxisalltag zu schaffen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Nehmen wir eine stressige Situation aus der Praxis: Zu Arbeitsbeginn eröffnet mir eine Mitarbeiterin als erstes, dass sie Magenschmerzen hat und gerne wieder nach Hause gehen möchte. Die „normale“ Reaktion, die vermutlich die meisten Praxisinhaberinnen und Praxisinhaber kennen, ist, dass man sofort aus diesem Problem heraus eine Schlussfolgerung trifft: Wir ärgern uns insgeheim über das Verhalten der Mitarbeiterin, schicken sie umgehend nach Hause und versuchen, den Tag ohne sie entsprechend umzuplanen.
Das Problem ist jedoch: Eine Schlussfolgerung basiert immer auf einer Erfahrung, die man gemacht und in einer bestimmten Art „bearbeitet“ hat. Das heißt, Erfahrungen bringen NIE neue Lösungen, sondern wiederholen alte Muster. In unserem Beispiel: Ich schicke die Mitarbeiterin, die über Magenschmerzen klagt, nach Hause und bleibe mit meinen Problemen alleine zurück.
Die pragmatische Psychologie versucht, nicht in diese „Schlussfolgerungs-Schleife“ zu geraten, sondern die Situation einfach zu betrachten, ohne sie zu bewerten. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Ich schicke nicht sofort die Mitarbeiterin nach Hause und fange dann an zu rotieren, sondern ich bleibe in der Situation. Und frage mich stattdessen „was ist das für eine Situation?“, „was kann ich jetzt damit machen?“, „was kann ich ändern?“. Dann komme ich vielleicht zu dem Ergebnis, dass ich mich mit meiner Mitarbeiterin für drei Minuten zurückziehe, um sie zu fragen, wie ihr Morgen war. Oft höre ich dann: „Es war schon wieder so stressig, und ich habe im Moment solche Kämpfe mit meinen Kindern, wenn sie zur Schule müssen.“ Vielleicht ergibt sich dann ein kurzes Gespräch darüber, ob Arbeitszeiten zukünftig anders strukturiert werden sollten. Kurz gesagt: Es geht in der pragmatischen Psychologie vor allem darum, eine Situation nicht zu bewerten!
Wie hilft mir diese „Nicht-Bewertung“ in stressigen Situationen?
Indem sie eine ganz andere Einstellung zu Stress bekommen (lacht). Denn Stress ist eine Ansichtssache. Wenn ich für mich definiert habe, dass es Stress bedeutet, wenn meine Mitarbeiterin mir morgens erzählt, sie habe Magenschmerzen und sie müsse nach Hause gehen, dann reagiere ich natürlich entsprechend in dieser Situation. Ich bekomme Herzrasen, meine Gedanken überschlagen sich. Wenn ich die Situation aber nicht bewerte, sondern meine Mitarbeiterin einfach ausreden lasse, und sie dann versuche einzubeziehen, dann hole ich sie völlig anders ab, als wenn ich sofort in die Schlussfolgerung und in die Reaktion gehe. Denn ganz oft reicht das schon aus: Zuhören! Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wollen meist gar keine Ratschläge oder Lösungsvorschläge. Sie wollen gehört werden!
Aber genau das versucht der „gute“ Chef doch – die Probleme aller zu lösen, oder?
Ganz genau! Der Chef, der vom Burn-out bedroht ist, denkt immer, er müsse die Probleme aller lösen. Aber Nein! In erster Linie ist es wichtig nur zuzuhören. Und die Probleme eines Anderen, auch bei diesem zu belassen. Erst in dem Moment, in dem die Mitarbeiterin mich fragt „Was soll ich denn jetzt tun?“, bin ich eingeladen mich einzumischen.
Umfragen belegen, dass Ärzte und Zahnärzte überdurchschnittlich oft von Burn-out betroffen sind. Woran könnte das liegen?
Ich bin mir sicher, dass 95 Prozent meiner zahnärztlichen Kolleginnen und Kollegen sich für alles und jeden in ihrer Praxis verantwortlich fühlen – also für ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, für ihre Patienten, für das Labor, für die Krankenkassen. Und genau dieser Druck von allen Seiten führt oft in den Burn-out, quasi eine Einbahnstraße, aus der man nur durch jahrelange Therapie wieder herauskommt. Weil man ständig denkt, man trage die Verantwortung: „Ich muss dem Patienten erklären, warum die Krankenkasse diesen Beschluss gemacht hat!“, „Ich muss erklären, warum das Labor eine 20-prozentige Preiserhöhung hat!“, „Ich muss erklären, warum meine Mitarbeiterin jetzt eine Stunde länger arbeiten muss!“.
Hinzu kommt dann oft eine große Unzufriedenheit. Weil man die Probleme für andere Menschen eben einfach nicht lösen kann. Wenn man es aber immer wieder versucht, bringt es einen schnell an den Rand der Verzweiflung, weil man denkt „Ich schaffe das nicht“, „Ich bekomme das einfach nicht hin“, „Mir wird das alles zu viel“.
Welche Rolle sollte der Chef bei Konflikten im Team einnehmen?
Ich denke, der Dialog mit den Mitarbeitern ist entscheidend. Und man muss die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch dazu ermuntern, ihre Probleme untereinander selbst zu lösen. Es kann nicht sein, dass jeder sofort denkt „Dann gehe ich jetzt halt zur Chefin!“. Das ist keine Konfliktstrategie.
In welcher Situation kommen Hilfesuchende zu Ihnen?
Die meisten nehmen Kontakt mit mir auf, um präventiv mit mir zu arbeiten. Ich denke, diejenigen, die richtig in einem Burn-out stecken, wählen erst einmal einen Klinikaufenthalt. Die müssen aus allem raus – und das ist auch gut so! Zu mir kommen eher Personen, die gar nicht erst in einen Burn-out geraten wollen.
Wie sieht Ihr Programm aus?
Die meisten Fragenden beginnen mit einer Einzelstunde. Ich arbeite online über einen Zoom-Call. Inhaltlich geht es dann um die Thematiken innerhalb der Praxis, die wir im Detail besprechen können. Anschließend erarbeiten wir gemeinsam einen individuellen Fragenkatalog. Viele Hilfesuchenden buchen anschließend eine Beratung für vier oder sechs Wochen. Ich biete aber auch eine langfristige Betreuung an. Pragmatische Psychologie anzuwenden ist kein Sprint, sondern ein Marathon.
Welchen Tipp haben Sie für junge Kolleginnen und Kollegen, die gerade auf dem Weg zur eigenen Praxis sind?
Burn-out-Prävention heißt, dass ich den Leuten eine Perspektive biete, den Spaß an ihrer Arbeit zurückzufinden. Ich möchte vor allem den jungen Kolleginnen und Kollegen den Tipp mitgeben, sich rechtzeitig mit einer „Praxisführung der etwas anderen Art“ auseinanderzusetzen. Ich habe mich neben der Zahnmedizin zum Beispiel auch in anderen Gebieten weitergebildet, um immer wieder für neuen Wind in meinem Leben zu sorgen. Zusätzlich habe ich innerhalb der Zahnmedizin geschaut, was mir Spaß macht: Blut und Eiter, stimmt mich heiter (lacht), also war es klar die Chirurgie in der Zahnmedizin. Und genau das mache ich jetzt! Zwei Tage pro Woche bin ich ausschließlich implantologisch und chirurgisch tätig. Und mit dieser Freude an meiner Arbeit kann ich dann den Patienten durchaus mit den Worten begrüßen „Ich habe heute richtig Bock auf einen Sinuslift bei Ihnen!“ – auch wenn ich dann oft nur einen irritierten Blick bekomme (lacht).
Das Interview führte Navina Bengs.
Burn-out: Erschöpft, zynisch und ineffektiv
Burn-out ist laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Syndrom, das durch chronischen Stress am Arbeitsplatz entsteht, der nicht erfolgreich bewältigt wurde: „Es ist durch drei Dimensionen gekennzeichnet:
- Gefühle von Energiemangel oder Erschöpfung;
- zunehmende mentale Distanz zur eigenen Arbeit oder Gefühle von Negativismus oder Zynismus in Bezug auf die eigene Arbeit; und
- ein Gefühl von Ineffizienz und mangelnder Leistung.
Burn-out bezieht sich speziell auf Phänomene im beruflichen Kontext und sollte nicht zur Beschreibung von Erfahrungen in anderen Lebensbereichen verwendet werden.” [Burn-out-Definition der ICD 11 (QD85)]