Interview mit Prof. Dr. Elmar Hellwig zu seinem Abschied

„Die Wissenschaft hat in mir das Feuer entfacht!"

Er verfügt über gut vier Jahrzehnte Erfahrung in Wissenschaft und Lehre, seit 1993 ist er Ärztlicher Direktor der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie am Universitätsklinikum Freiburg – und seit mehr als zehn Jahren wissenschaftlicher Beirat der zm: Prof. Dr. Elmar Hellwig. Wir haben ihn zu seinen persönlichen Erfahrungen und zu den Entwicklungen in der Zahnmedizin befragt, denn: Ende des Jahres geht er in den Ruhestand.

Herr Prof. Hellwig, haben Sie den Schlusspunkt Ende 2023 bewusst gesetzt?

Prof. Dr. Elmar Hellwig: Ja, das Landeshochschulgesetz hilft etwas nach beim Abschied. Ich werde im nächsten Jahr 70 Jahre alt und mit diesem Lebensalter ist in Baden-Württemberg definitiv Schluss.

Hätten Sie gern weitergemacht?

Irgendwann muss man den Schlussstrich ziehen. Es hätte sicher noch viele tolle Projekte gegeben, aber ich denke auch, dass es Zeit ist, den Staffelstab nun weiterzugeben. Ich werde ja von der Zahnmedizin trotzdem nicht lassen können: Wie Sie wissen, stehe ich der zm noch weiterhin sehr gern als Berater zur Seite und auch standespolitisch werde ich mich als Vorstandsmitglied der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg weiter engagieren.

Was werden Sie am meisten vermissen?

Das kann ich Ihnen sehr genau sagen: Es ist dieses wunderbare Team, mit dem ich all die Jahre lang arbeiten durfte. Es sind die Menschen und deren Begeisterung, mit der sie gelehrt, geforscht und miteinander gearbeitet haben. Die Begeisterung, immer neugierig zu bleiben, all das wirklich zu wollen, was sie tun. Das immer wieder zu spüren, war einfach klasse.

Ich hatte eine tolle Mannschaft mit starken Persönlichkeiten und ich werde bis zum letzten Tag voller Freude in die Klinik gehen.

Prof. Dr. Elmar Hellwig

Das klingt so ideal, dass ich nachfragen muss: Sie sind 30 Jahre lang Chef – in dieser Funktion kann doch nicht alles konfliktfrei gelaufen sein.

Vielleicht ist der Teambegriff da etwas unscharf. Es geht nicht um ein diffuses Netiquette-Wohlfühlarbeiten. Ich will mal eine Parallele zum Sport ziehen. Ich habe eine Zeit lang Fußball gespielt – bei diesem Sport gibt es eine Mannschaft und einen Trainer. Beide sind aufeinander angewiesen: Der Trainer braucht gute Spieler, die im Spiel selbstständig die richtigen Entscheidungen treffen können. Und die Spieler brauchen einen Trainer, der ihre Stärken erkennt, fördert und sie dort aufstellt, wo sie erfolgreich spielen können. Wenn das gut funktioniert, haben wir einen echten Mannschaftsgeist, eine Atmosphäre, in der man gern arbeitet und die resilient gegen Probleme ist. Ich hatte eine tolle Mannschaft mit starken Persönlichkeiten und ich werde bis zum letzten Tag voller Freude in die Klinik gehen.

Dass da der Abschied Ihnen schwerfällt, war in Ihrer Rede auf dem Symposium zu spüren …

Ich bin normalerweise nicht gerade derjenige, der in solchen Situationen Tränen vergießt, aber bei der Rede war es schon sehr knapp.

Der Abschied ist natürlich ein Anlass, auch auf die Anfänge zurückzublicken. Wie sind Sie damals zur Zahnmedizin gekommen? Hatten Sie einen familiären Hintergrund?

Nein, Mediziner oder Zahnmediziner gab es in meiner Familie nicht. Ich bin in einem sehr kleinen nordhessischen Dorf aufgewachsen und wir hatten dort vieles nicht, was es im nahegelegenen Eschwege an Infrastruktur gab. Aber wir hatten einen Zahnarzt im Ort, bei dem ich in Behandlung war. Als meine Mutter ihm eines Tages erzählte, wie geschickt ich darin sei, kaputte Geräte im Haushalt zu reparieren, begann er, sich für mich zu interessieren: „Wenn Du Dinge gut reparieren kannst, dann wäre doch die Zahnmedizin etwas für Dich.“ Ich hatte zwar ziemliche Angst vor dem Mann als Zahnarzt, fand es aber sehr spannend, was er tat. Er ließ mich dann bei seinen Patientenbehandlungen zuschauen und später, als ich bereits auf das Gymnasium ging, durfte ich abends auch mal ein Bierchen mit ihm trinken.

Vielleicht wollte er Sie als Praxisnachfolger aufbauen?

Ja, der Gedanke kam mir auch, aber aufgeklärt hat sich das nie.

Und das Argument mit der Geschicklichkeit beim Reparieren hat gezogen?

Es hat zwar noch kein Feuer entfacht, aber es hat gereicht, mich in die zahnmedizinische Ausbildung zu locken. Die Zahnmedizin war ja damals ein Fach des Reparierens – das war nicht von der Hand zu weisen.

Wann fingen Sie denn an, für das Fach zu brennen?

Das begann schon bald nach dem Beginn des Studiums. Ich wurde zwar von meinen Eltern finanziell unterstützt, musste aber Geld dazuverdienen. Ich habe dann in Münster angefangen, in der Anatomie bei Prof. Pablo Santamaria zu arbeiten. Das hatte überhaupt nichts mit Zahnmedizin zu tun, hat mich aber nachhaltig geprägt. Zunächst kam mir natürlich das handwerkliche Geschick zugute, aber in unserer Arbeitsgruppe wurde gar nichts repariert, sondern es wurde geforscht. Zum ersten Mal kam ich hier mit lebendiger Wissenschaft in Berührung. Ich lernte, wie man Präparate herstellt, Experimente durchführt, Daten auswertet, kurz: Mit wissenschaftlicher Arbeit Neuland zu betreten und neues Wissen zu generieren. Das hat dann das Feuer in mir entfacht.

Die 70er-Jahre gelten aus heutiger Perspektive als dunkle Zeit der professoralen Eminenzen und die Idee der evidenzbasierten Medizin war noch zwei Dekaden entfernt. Wie haben Sie das Studium damals wahrgenommen?

Es war rückblickend gesehen eine harte Schule, was aber nicht uneingeschränkt schlecht war. Der Vorteil dabei ist: Wenn Professoren, Lehrende, Aufsichtsführende ein klares Prozedere vertreten, dann kann man sich daran orientieren und – gerade wenn es um praktische Dinge geht – auch besser lernen. Der Nachteil ist natürlich, dass das nur gilt, wenn es gut und richtig läuft. Wenn etwas falsch läuft und man dann keine Kritik äußern kann – und so war es tatsächlich –, dann verkehrt sich die positive Mentorenrolle des Lehrers in die des gefürchteten Willkürherrschers.

Hört man einigen Studierenden heute zu, sind die Diktatoren keineswegs aus dem akademischen Umfeld verschwunden. Wie viel hat sich da verändert?

Es mag Fälle von ungerechtfertigter Härte geben, aber die ganze Kultur an den Universitäten hat sich seit den 70ern sehr stark verändert. Hochschullehrer werden heute von den Studierenden „evaluiert“ und auch ordentlich kritisiert. Manchmal geht mir das offen gesagt auch etwas zu weit und die Wahrnehmungen verkehren sich ins Gegenteil: Nicht ich lerne und die Studierenden sagen mir, was ich zu tun habe, sondern sie lernen und meine Mitarbeiterinnen und ich geben ihnen klare Vorgaben. Diese grundlegenden Leitplanken des Lehrens und Lernens dürfen nicht in Beliebigkeit zerbröseln.

Sind wir im Überschwang des gut gemeinten Partizipierens und Mitbestimmens von einem Extrem ins andere gefallen?

Ich denke, in vielerlei Hinsicht ist das tatsächlich so. Es gibt bei vielen Studierenden, ob das eine Mehrheit ist, kann ich nicht sagen, einen gewissen Zeitgeist, etwa so: „Ich komme jetzt an die Uni. Ihr habt mir was beizubringen und wehe ihr macht das in einer Form, die mir nicht passt!" Ich bin immer verblüfft, mit welcher Selbstverständlichkeit und mit welchem Selbstbewusstsein solche Forderungen vorgetragen werden.

Was meinen Sie, woher kommt diese Anspruchshaltung?

Die ist natürlich auch politisch befördert worden. Wenn die Politik und die Hochschulgremien Gelder nach einem Beliebtheitsscoring anonymer Evaluationsbögen verteilen, dann geht das in die falsche Richtung.

Sie haben nach dem Studium wissenschaftlich gearbeitet, viel publiziert und 1993 dann den Ruf nach Freiburg angenommen. Mit 39 Jahren waren Sie plötzlich Chef. Wie verlief der Start?

Freiburg war damals sehr modern orientiert: Da gab es erlösorientierte Ergebnisrechnungen, Qualitätssicherungsmechanismen, leistungsbezogene Mittelzuweisungen. Alles Dinge, die ein modernes Unternehmen ausgemacht haben. Und diese Orientierung zog natürlich auch Menschen an, die etwas leisten wollten und hier ihre Chance gesucht haben, beispielsweise Prof. Thomas Attin, der aus Köln mit mir nach Freiburg wechselte, und Prof. Andrej Kielbassa, den ich noch aus Marburger Zeiten kannte. Mit ihnen und Prof. Hans-Günther Schaller, der später als Chef nach Halle ging, und einigen Mitarbeitern vor Ort ist es dann gelungen, eine moderne Führung zu etablieren und die Klinik zu entwickeln. Wir waren eine tolle Mannschaft, hatten super Personal und das ist bis heute so geblieben.

Wie passen Wissenschaft und Handwerk in der Zahnmedizin zusammen?

Es ärgert mich immer, wenn manuelle Fähigkeiten und wissenschaftliche Medizin so in einen Gegensatz gebracht werden. Auch der Arzt benötigt vielfach manuelle Kompetenzen – die Palpation gehört zu den Basistechniken der ärztlichen Diagnostik. Ganz zu schweigen von der Chirurgie, die ohne manuelle Fähigkeiten gar nicht denkbar wäre. Der Zahnarzt als Handwerker ist ein sich hartnäckig haltendes Narrativ, das durch die moderne Wissenschaft heute längst überholt ist. Dass es von Medizinern an Hochschulen bisweilen liebevoll gepflegt wird, hat auch etwas mit der Konkurrenz um knappe Mittel zu tun: Dentisten muss man keine Forschungsgelder geben.

Die grundlegenden Leitplanken des Lehrens und Lernens dürfen nicht in Beliebigkeit zerbröseln.

Prof. Dr. Elmar Hellwig

Es geht also gar nicht um das Verhältnis von Handwerk und Medizin?

Das Narrativ wird oft nur vorgeschoben. Wir waren schon immer Mediziner und die Wissenschaft hat in den letzten Dekaden eindrucksvoll bestätigen können, welchen immensen Anteil die Prozesse in der Mundhöhle an der Entstehung und Progression vieler schwerer Allgemeinerkrankungen haben. Heute wird vielfach darüber diskutiert, ob Zahnärzte nicht aktiver in die Früherkennung systemischer Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes einbezogen werden sollen, eben weil sich in der Mundhöhle frühe Hinweise erkennen lassen. Auch das schafft neue Konkurrenzen, aber die Zahnmedizin ist hier in der Offensive.

Welche Innovationen werden für die Zahnarztpraxis wichtig werden?

Da sehe ich als einen ganz wichtigen Meilenstein die Künstliche Intelligenz (KI). Bereits heute schon ist sie in vielen digitalen Geräten und Anwendungen integriert, angefangen beim Intraoralscanner über Planungssoftware bis hin zur KI-gestützten Kariesdiagnostik bei Röntgenbildern. In dieser Technologie steckt mit Sicherheit noch viel Potenzial, um zahnärztliche Prozesse zu verbessern und zu beschleunigen.

Ein weiteres wichtiges Feld ist die Zellbiologie, da wird es um das Wachstum von Geweben gehen, beispielsweise Pulpa, Knochen, aber auch Weichgewebe. Die gesteuerte Geweberegeneration ist ein Anfang, möglicherweise werden wir aber alsbald auch Gewebe im 3-D-Drucker drucken oder auch Zähne nachwachsen lassen. Das klingt heute zwar noch arg nach Zukunftsmusik, wird aber eines Tages in der Praxis ankommen.

Nun noch zu einem anderen Thema: die heute immer stärker beklagte Bürokratie. Sie sind ja auch standespolitisch engagiert im Vorstand der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg. Was hat sich hier in den vergangenen 30 Jahren verändert?

Wenn Sie mich nach dem Vergleich von heute und vor 30 Jahren fragen, dann sieht das Ganze wahrlich furchterregend aus: Im Prinzip ist die Bürokratie in dieser Zeit zu einem echten Monster herangewachsen. Das sehen Sie in allen Bereichen und die aufgeblähten Verwaltungen sind ein klarer Hinweis darauf. Man kann ja heute keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, ohne ein ganzes Konvolut von Regeln zu beachten und das sorgfältigst zu dokumentieren. Ich glaube mittlerweile, dass allen Beteiligten inzwischen teilweise der Überblick verloren gegangen ist. Dadurch wird zwar einerseits der Eindruck erzeugt, auf einer eher pragmatischen Ebene könne man mit Bürokratie noch friedlich koexistieren; andererseits bleibt bei vielen Praxisinhabern das mulmige Gefühl übrig, trotzdem in der Verantwortung zu stehen für all das, was zwar selten kontrolliert, aber doch irgendwann einmal „hochkochen“ und justiziabel werden kann.

Dabei sollte doch die Digitalisierung alles leichter machen …

… das klingt gut, ist aber ganz und gar nicht im Interesse der im Zuge der Zeit aufgeblähten – ich nenne das mal so – Bürokratie-Industrie. Es gibt ein ganzes Geflecht aufgeblähter Verwaltungen, IT-Firmen, Zertifizierern, Beauftragten, Kontrolleuren, Dienstleistern für die Einhaltung aller möglichen Vorschriften. Diese Akteure leben von der Wertschöpfung der Gesundheitsberufe und werden alles dafür tun, dass es so bleibt. Bürokratieabbau wird ein ganz schwieriges politisches Geschäft werden.

Wie soll das enden?

Im schlimmsten Fall wie im alten Rom: Das Ganze wird früher oder später implodieren und man wird anschließend von vorn anfangen müssen.

Das alte Rom wurde zur leichten Beute der Barbaren aus dem Osten.

Um das Land so weit zu schwächen, braucht es dann doch mehr als einen Lauterbach und die Bürokratie im Gesundheitswesen (lacht). Aber der Schaden im Gesundheitswesen wäre auch schon schmerzhaft genug.

Woran erkennen wir, dass der Zeitpunkt der Implosion naht?

Wenn der Praxisinhaber oder die Praxisinhaberin sagt: „Ich habe keine Lust mehr. Mir reicht’s, ich mache jetzt Schluss!"

Genau das passiert ja schon heute.

Richtig, ich höre das inzwischen oft von Kolleginnen und Kollegen – nicht nur von den Alten, die sagen sowieso „Schluss“, sondern auch von den Jüngeren, die sagen: „Das tue ich mir nicht mehr an!".

Was kann die Standespolitik hier tun?

Wir müssen Vorschläge zum Bürokratieabbau erarbeiten und mit der Politik sprechen. Wir müssen deutlich machen, dass es hier nicht um Interessenpolitik geht, sondern dass die Lage sehr ernst ist. Aber ich bin optimistisch, dass wir da erfolgreich sein können. Bis vor Kurzem hat man in Berlin alle Warnungen der Wirtschaft vor einer Deindustrialisierung als Lobbypolitik abgetan – nun schwant den Verantwortlichen, dass das ein Fehler gewesen sein könnte, und es beginnt ein Umdenken. So könnte es auch im Gesundheitswesen laufen. Ich denke, dass wir im Angesicht der Krise politisch mehr Gehör finden werden. Das mag zwar noch einige Zeit dauern, aber wenn es soweit ist, sollten wir gute Vorschläge in der Tasche haben.

Das Gespräch führte Benn Roolf.

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