Der besondere Fall aus „CIRS dent – Jeder Zahn zählt!“

Antibiotische Abschirmung bei Patienten mit Endoprothese

"CIRSdent – jeder Zahn zählt!"–Team
Jede Zahnärztin und jeder Zahnarzt kennt das Dilemma: Ein Patient mit Endoprothese kommt zur Kontrolle und Zahnreinigung, dabei fällt eine Gingivitis auf. Wann ist eine antibiotische Abschirmung sinnvoll, wann eher nicht?

Was ist passiert?

Ein Zahnarzt behandelt häufig Patienten mit Endoprothesen, deren Zahl ist in den vergangenen Jahren in seiner Praxis kontinuierlich angestiegen. Doch insbesondere bei der Gefahr von leicht blutenden Behandlungen sind diese Patienten oftmals schwer davon zu überzeugen, dass eine antibiotische Prophylaxe sinnvoll ist, um eine Infektion des das Kunstgelenk umgebenden Gewebes zu vermeiden.

Bislang ist noch kein unerwünschtes Ereignis eingetreten. Dennoch ist der Zahnarzt verunsichert – auch weil es keine eindeutigen Leitlinien gibt. Die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik (AE) empfiehlt lediglich eine antibiotische Prophylaxe in Zusammenhang mit „blutigen Zahneingriffen“ als Off-Label-Use-Verordnung. Aus Sicht des Behandlers ist die Grenze dahingehend jedoch fließend. Schließlich kann schon eine Zahnsteinentfernung in Verbindung mit einer bestehenden Gingivitis blutigen Schleim mit entsprechender Bakteriämie verursachen. Aufgrund seiner Patientenklientel befürchtet der Zahnarzt im Fall einer Infektion der Endoprothese nach einer zahnmedizinischen Behandlung rechtliche Auseinandersetzungen.

„CIRSdent – Jeder Zahn zählt!“

Überall dort, wo Menschen arbeiten, entstehen Fehler – da sind auch Zahnärzte keine Ausnahme: Abläufe funktionieren nicht immer so, wie es sein sollte, Diagnosen sind manchmal nicht einfach zu stellen, Therapien versagen aus unerwarteten Gründen, Geräte und Hilfsmittel zeigen Schwächen. Die Liste möglicher „unerwünschter Ereignisse“, in der Praxis eintreten können, ist lang. Aus „unerwünschten Ereignissen“ kann man jedoch lernen, es künftig besser zu machen. Hilfreich ist dabei der Erfahrungsaustausch mit Kollegen. Die Bundeszahnärztekammer und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung haben Anfang 2016 das internetbasierte Berichts- und Lernsystem „CIRSdent – Jeder Zahn zählt!“ gestartet (CIRS = Critical Incident Reporting System). Dort können Zahnärzte Fallberichte aus der Praxis von Kollegen lesen und auch selbst vollkommen anonym eigene Berichte einstellen. Die eingesandten Berichte werden von einer Fachredaktion geprüft, gegebenenfalls bearbeitet.

Weitere Fälle finden Sie unter www.cirsdent-jzz.de.

Daten, die eine Rückverfolgung auf die Praxis oder den Patienten ermöglichen würden, werden entfernt, die Berichte erst danach veröffentlicht. In der Rubrik „Der besondere Fall aus CIRS dent“ veröffentlichen wir Fallschilderungen, die allgemein von Interesse sind.

Was war das Ergebnis?

Der Zahnarzt hat zwei Sorgen: Gefährdet er seine Patienten und riskiert er in der Konsequenz rechtliche Auseinandersetzungen, wenn er Antibiotika nur zurückhaltend verordnet? Umgekehrt befürchtet er bei unsachgemäßem Umgang mit der Verordnung die Förderung von Resistenzen.

Kommentierung

Die jährliche Operationshäufigkeit in Deutschland für Hüft-Ersteingriffe beträgt in der Altersgruppe der über 70-Jährigen 1,1 Prozent und für Knie-Ersteingriffe 0,6 Prozent [Bleß und Kip, 2016]. Ob eine antibiotische Prophylaxe vor einer Zahnextraktion indiziert ist, wird seit einiger Zeit kontrovers diskutiert, während es in anderen Ländern eine Vielzahl von Empfehlungen gibt (siehe Anhang). Hintergrund ist eine mögliche Infektion an der Gelenkprothese durch eine Bakteriämie nach dem Eingriff, die im ungünstigsten Fall einen Wechsel des implantierten Materials zur Folge haben kann.

Die Inzidenz für eine Endoprothesen-Infektion liegt bei etwa ein Prozent [Schrama et al., 2010], der Anteil an Prothesen-Infektionen durch Erreger der oralen Flora beträgt je nach Studienlage vier bis acht Prozent [Gomez et al., 2011]. Für den Großteil der Infektionen sind andere Bakterien wie Staphylokokken als typische Besiedler der Haut (zum Beispiel Staphylokokkus aureus) oder Darmbakterien (zum Beispiel Escherichia coli) ursächlich [Schrama et al., 2012].

Eine aktuelle britische Studie hat knapp 9.500 Patienten mit Spätinfektionen ihrer Gelenkprothesen untersucht, die zuvor eine Zahnbehandlung ohne antibiotische Abschirmung erhalten hatten. Ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen einem zahnärztlichen Eingriff und der Prothesen-Infektion wurde nicht gefunden, allerdings war das Studiendesign für die Untersuchung dieses Zusammenhangs nicht geeignet [Thornhill et al., 2022].

Aus Sicht der Forschenden besteht bei einer mangelhaften Zahn- und Mundhygiene ein viel größeres Risiko für eine Verschleppung von Bakterien aus der Mundhöhle. Daher müssten solche Patienten und deren Behandler ein besonderes Augenmerk auf eine ausreichende und lebenslange Zahnpflege legen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik in einer Stellungnahme „nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Analyse nach wie vor den Einsatz der antibiotischen Prophylaxe vor blutigen Zahneingriffen, auch wenn bisherige Studien dies nicht untermauern können“ [AE, 2022]. Auch spiele der Zeitpunkt der Primärimplantation keine Rolle mehr.

Das gilt für die gesamte Standzeit der Endoprothese. So wird geraten, Amoxicillin als Mittel der ersten Wahl mit einer Dosis von 2 g (analog zur Endokarditisprophylaxe) als einmalige Gabe eine Stunde vor einem invasiven („blutigen“) zahnmedizinischen Eingriff zu verabreichen. Bei bekannter Penicillin-Allergie könne zwar eine einmalige Gabe von Clindamycin 600 mg erfolgen, allerdings gebe es zur Wirksamkeit dieses bakteriostatischen Antibiotikums wenig Evidenz.

Als Grund für diese Empfehlung werden insbesondere der Kostensachverhalt und der Aufwand – für einen im Fall einer Infektion – notwendigen korrektiven Eingriff angeführt. Je nach Packungsgröße betragen die Kosten für ein Antibiotikum 0,65 bis 1,30 Euro pro Gramm, während die direkten Kosten bei einer Infektion einschließlich dem dann wieder zu erfolgenden Einbau eines neuen Implantats zwischen 20.000 und 30.000 Euro liegen, sonstige Belastungen für den Patienten nicht einbezogen.

Die Expertengruppe Infektionen der Swiss Orthopaedics rät vor der Implantation eines Gelenkersatzes grundsätzlich zu einer Sanierung des Gebisses. Die Notwendigkeit einer antibiotischen Prophylaxe wird allerdings explizit verneint, da schon das „täglich mehrfache Zähneputzen […] eine höhere kumulative Bakteriämieinzidenz als eine einzelne Zahnextraktion“ [Sendi et al., 2016b] aufweise. Vielmehr wird das vorgängige Anwenden einer 0,2-Prozent-Chlorhexidin-Mundspülung empfohlen, das die Bakteriämie ähnlich reduzieren könne wie eine systemische antibiotische Prophylaxe. Genannt wird dort ausdrücklich eine begleitende systemische antibiotische Therapie einer apikalen Parodontitis oder eines Abszesses bei Patienten mit Endoprothesen. (Amoxicillin/Clavulansäure 3 × 1 g pro Tag oder bei Penicillin-Allergie Clindamycin 3 × 600 mg pro Tag für drei bis fünf Tage; danach klinische Reevaluation bezüglich Fortführung oder Sistierung der Therapie).

Zusammengefasst liegt trotz Bezugnahme auf Leitlinien und Handlungsempfehlungen die Verantwortung für die Verabreichung des Medikaments beim behandelnden Zahnarzt.

Mittel der ersten Wahl ist Amoxicillin

Amoxicillin gilt im odontogenen Bereich sowohl bei prophylaktischen als auch bei therapeutischen Maßnahmen aufgrund seines Wirkungsspektrums als Mittel der ersten Wahl [Al-Nawas et al., 2021]. In deutschen Zahnarztpraxen besteht jedoch nach wie vor eine Besonderheit in Bezug auf die überproportionale Verschreibung von Clindamycin. Im internationalen Vergleich spielt dieses Antibiotikum weder in der zahnärztlichen Praxis noch in der allgemeinen Medizin eine herausragende Rolle [Halling et al., 2017]. Auch wenn die Verschreibungen von Clindamycin in den vergangenen Jahren in den Zahnarztpraxen zurückgegangen sind, lag der Anteil an zahnärztlichen Verschreibungen 2021 immer noch bei 56 Prozent aller Clindamycin-Verordnungen in der Primärversorgung [Gradl et al., 2022]. Dies ist bemerkenswert, da bei der Einnahme von Clindamycin nicht nur wesentlich mehr Nebenwirkungen auftreten können [Halling, 2014], sondern auch eine erhöhte Rate von Resistenzen im Vergleich zu Amoxicillin festgestellt wurde [SDJ, 2017]. Daneben weist Clindamycin im Unterschied zu Amoxicillin keine bessere Knochengängigkeit auf, was bisher häufig als Argument für die Verschreibung von Clindamycin galt [ZMK online, 2021]. In der zahnärztlichen Praxis ist die Bestimmung der Notwendigkeit einer Antibiotikatherapie somit ebenso wie die Auswahl des geeigneten Antibiotikums von essenzieller Relevanz. Aufgrund seines Wirkspektrums wird primär die Verabreichung von 2 g Amoxicillin als einmalige Gabe eine Stunde vor dem „blutigen“ Eingriff empfohlen, alternativ kann bei entsprechender Allergie oder Unverträglichkeit 600 mg Clindamycin eingesetzt werden.

Die Zunahme multiresistenter Keime durch den Einsatz von Antibiotika ist zwar ein Grund, die Verordnungsweise grundsätzlich zu hinterfragen, allerdings ist die einmalige Einnahme eines Antibiotikums eher weniger mit einem erhöhten Risiko für die Entstehung multiresistenter Erreger verbunden [Hassan et al., 2022]. Die Entscheidung für eine prophylaktische Antibiose bei zahnärztlichen Eingriffen sollte den Zustand des Patienten (Anamnese, Risikoprofil) und seine allgemeine und spezielle Morbidität (Immunerkrankungen, Immunsuppression, Mangelernährung, Nikotinabusus, Diabetes mellitus, rheumatische Erkrankungen) und die zahnärztliche Therapie (Schweregrad und Länge des Eingriffs, kritische Keimmasse und mögliche auslösende Bakteriämie) einbeziehen.
CIRSdent-Team
Unterstützt wurde das CIRSdent-Team von PD Dr. Nora Renz, Fachärztin für Innere Medizin und Infektiologie an der Charité Berlin (nora.renz@charite.de).

Literaturliste

  • AE – Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik e.V. (AE), Karl-Dieter Heller, Carsten Perka & Nora Renz. (2022, 23. Januar). Antibiotikaprophylaxe bei zahnmedizinischen Eingriffen – ein Update – www.ae-germany.com/images/ae/oeffentlich/pdf-handlungsanweisungen/Handlungsempfehlung_AB_Prophylaxe_Update_Januar_2022.pdf.

  • Al-Nawas B, Eickholz P, Hülsmann M: Antibiotika in der Zahnmedizin 2021.

  • Bleß, H. & Kip, M. (2016). Weißbuch Gelenkersatz: Versorgungssituation endoprothetischer Hüft- und Knieoperationen in Deutschland. Springer-Verlag.

  • Empfehlungen der Expertengruppe Infektionen der Swiss Orthopaedics: www.orthopaedie-zuerisee.ch/fileadmin/Dateien/PDF/Aerzte/D-AntibiotikaprophylaxevorzahnrztlichenEingriffen.pdf

  • Gomez, E. J., Osmon, D. R. & Berbari, E. F. (2011). Do patients with prosthetic joints require dental antimicrobial prophylaxis? Cleveland Clinic Journal of Medicine, 78(1), 36–38. doi.org/10.3949/ccjm.77a.10062.

  • Gradl G, Kieble M, Nagaba J, Schulz M. Assessment of the Prescriptions of Systemic Antibiotics in Primary Dental Care in Germany from 2017 to 2021: A Longitudinal Drug Utilization Study. Antibiotics. 2022; 11(12):1723. doi.org/10.3390/antibiotics11121723.

  • Halling F: Antibiotika in der Zahnmedizin. Zahnmedizin up2date 1:67–82 (2014).

  • Halling F, Neff A, Heymann P, Ziebart T. Trends in antibiotic prescribing by dental practitioners in Germany. J Craniomaxillofac Surg. 2017; 45 (11): 1854–1859.

  • Hassan M, Malik M, Saleem R, et al. (May 09, 2022) Efficacy of Single Dose of Fosfomycin Versus a Five-Day Course of Ciprofloxacin in Patients With Uncomplicated Urinary Tract Infection. Cureus 14(5): e24843. doi:10.7759/cureus.24843.

  • Schrama, J. C., Espehaug, B., Hallan, G., Engesæter, L. B., Furnes, O., Havelin, L. I. & Fevang, B. S. (2010). Risk of revision for infection in primary total hip and knee arthroplasty in patients with rheumatoid arthritis compared with osteoarthritis: A prospective, population-based study on 108,786 hip and knee joint arthroplasties from the Norwegian Arthroplasty Register. Arthritis Care and Research, 62(4), 473–479. doi.org/10.1002/acr.20036.

  • Schrama, J. C., Lutro, O., Langvatn, H., Hallan, G., Espehaug, B., Sjursen, H., Engesæter, L. B. & Fevang, B. S. (2012). Bacterial Findings in Infected Hip Joint Replacements in Patients with Rheumatoid Arthritis and Osteoarthritis: A Study of 318 Revisions for Infection Reported to the Norwegian Arthroplasty Register. ISRN Orthopedics (Print), 2012, 1–6. doi.org/10.5402/2012/437675.

  • Sendi, P., Uçkay, I., Suvà, D., Vogt, M., Borens, O. & Clauss, M. (2016b). Patienten mit Gelenkprothesen: Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen Eingriffen. Swiss Medical Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum, 16(37). doi.org/10.4414/smf.2016.02748

  • SDJ: Amoxicillin mit Clavulansäure Standardantibiotikum im allgemeinzahnärztlichen Alltag January 2017 Swiss Dental Journal 127(7).

  • Thornhill, M. H., Crum, A., Rex, S., Stone, T., Campbell, R., Bradburn, M., Fibisan, V., Lockhart, P. B., Springer, B., Baddour, L. M. & Nicholl, J. (2022). Analysis of Prosthetic Joint Infections Following Invasive Dental Procedures in England. JAMA Network Open, 5(1), e2142987. doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2021.42987.

  • ZMK Online 2021 Update der wichtigsten zahnärztlichen Arzneimittelgruppen.

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