Widerstandskämpfer und „Staatsfeinde“ im „Dritten Reich“

Karl Eisenreich (1893–1958) und Otto Berger (1900–1985) – NS-Gegner mit Makeln?

Dominik Groß
Die beiden Zahnärzte Karl Eisenreich und Otto Berger wurden bereits zu Lebzeiten und dann auch posthum mehrfach öffentlich geehrt. Sie gelten als unerschrockene Gegner des Nationalsozialismus. Doch wie belastbar sind diese Einordnungen und wie sind sie zustande gekommen?

Es gibt nicht viele Zahnärzte, die im öffentlichen Raum als Gegner des Nationalsozialismus gewürdigt worden sind. Karl Eisenreich (Abbildung 1) gehört zu den wenigen Ausnahmen: Der Landshuter Zahnarzt und Kommunalpolitiker wurde 1988 posthum Namensgeber des „Karl-Eisenreich-Platzes“ seiner Heimatstadt [Stadtler, 1998; 100-Bäume-Programm, 2022]. 2022 – rund 64 Jahre nach seinem Tod – wurde ihm eine neuerliche Ehrung zuteil, die explizit auf seine Rolle im „Dritten Reich“ abhob. Dabei handelte es sich um einen am Karl-Eisenreich-Platz gepflanzten „Spenderbaum“. Dazu hieß es in einer Mitteilung der Stadt: „Bei idealen leicht regnerischen Pflanzbedingungen fanden sich am Karl-Eisenreich-Platz der neue technische Leiter des Stadtgartenamtes Matthias Näther und Vertreter der ‚Landshuter Bauminitiative‘ ein […]. Der Träger der goldenen Bürgermedaille Karl Eisenreich (1893–1958) war ein bekannter Landshuter Zahnarzt, Konzertsänger und neben seiner Stadtratstätigkeit auch Kulturbeauftragter in den 50er-Jahren. Als NS-Mitglied trat er bereits 1934 wieder aus der Partei aus, versteckte und schützte zahlreiche Juden. Gemeinsam mit Mesner Ott war er beim Hissen der weissen Fahne am Martinsturm zum Kriegsende beteiligt. Dem 1958 früh verstorbenen ‚singenden Zahnarzt‘ ist der neue Spitzahorn gewidmet“ [100-Bäume-Programm, 2022].

Während Eisenreich in dieser öffentlichen Notiz in die Nähe eines politischen Oppositionellen gerückt wird, führten konkrete Rückfragen im Stadtarchiv Landshut zu einem deutlich differenzierteren Bild. Dort liegt zu Eisenreich eine Spruchkammerakte aus den Jahren 1946/47 vor, deren Original sich im Staatsarchiv Landshut befindet. Der zuständige Archivar Mario Tamme bewertet die Sachlage wie folgt: „Im [zweiten] Urteil der Spruchkammer steht: ‚Der Betroffene hat auch nachweislich jüdischen Familien und politisch Verfolgten Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen‘. In welcher Form das geschah, wissen wir aber nicht. Ich beschäftige mich immer wieder mit den Landshuter Juden während der NS-Zeit […]. Dass Karl Eisenreich irgendwie Juden unterstützt oder sogar versteckt hätte, ist für mich nicht belegbar“ [Tamme, 2023].

Karl Eisenreich – ein komplexer Fall

Warum existieren im Fall Karl Eisenreich überhaupt Spruchkammer- oder Entnazifizierungsakten? Schließlich waren es doch mutmaßliche Täter, die sich einer Entnazifizierung unterziehen mussten. Tatsächlich ist der Fall Eisenreich recht komplex, wie der Blick auf dessen Vita zeigt:

Er wurde am 1. November 1893 als Sohn des „Hofdentisten“ Theobald Eisenreich sen. in Landshut geboren, studierte nach dem Abitur das Fach Zahnheilkunde, erlangte 1920 die Approbation und ließ sich nachfolgend in eigener Praxis in der Landshuter Altstadt in Rathausnähe nieder [AZD; DZAa; DZB; Groß, 2024; StA La Spruchkammerakte]. Lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat er – am 8. August 1925 – in die NSDAP ein (Nr. 14491) und hielt die Mitgliedschaft bis 1928 aufrecht. Fünf Jahre nach dem Austritt schloss er sich der Partei erneut an (Aufnahme 1. Mai 1933) und erhielt eine neue Parteinummer (Nr. 2542849) (Abbildung 2). Von August bis Dezember 1933 war er zudem Mitglied eines SS-Reitersturms [BArch R 9361-VIII/7940898; BArch R 9361-VIII/7940899; StA La Spruchkammerakte, Fol. 1].

1934 forderten ihn Parteiverantwortliche dann auf, aus dem von den Nationalsozialisten mit Argwohn betrachteten logenartigen Männerbund „Schlaraffia“ auszutreten. Dieser archivalisch dokumentierten Aufforderung kam Eisenreich nicht nach; stattdessen schied er abermals aus der Partei aus – wohl auch, um einem Parteiausschluss zuvorzukommen. Er selbst beschrieb den Vorgang nach dem Krieg wie folgt: „Im März 1934 erklärte ich Herrn Ortsgruppenleiter Ranft schriftlich meinen Austritt.“ Den überlieferten Dokumenten zufolge wurde Eisenreich dagegen mit Wirkung vom 12. November 1934 aus der Partei ausgeschlossen [StA La Spruchkammerakte, Fol. 13].

Zunächst wurde er als „Minderbelasteter“ eingestuft

Aufgrund seiner Parteivergangenheit musste sich Eisenreich nach Kriegsende einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Diese Verfahren hatten das Ziel, die Betreffenden in unterschiedliche Belastungskategorien einzuordnen (Gruppe I = Hauptschuldige, Gruppe II = Aktivisten, Gruppe III = Minderbelastete, Gruppe IV = Mitläufer, Gruppe V = Entlastete). Schlussendlich wurden die meisten Betroffenen – darunter auch viele offensichtliche Aktivisten – in die günstigen Gruppen IV und V der „Mitläufer“ oder „Entlasteten“ eingeordnet, was den Entnazifizierungsinstanzen den Ruf einbrachte, „Mitläuferfabriken“ zu sein [Niethammer, 1982].

Die Spruchkammer ordnete Eisenreich im Herbst 1946 allerdings zunächst in Gruppe III ein. Daraufhin erhob er Einspruch und forderte am 31. Dezember 1946 in einem Schreiben an die Spruchkammer Landshut-Stadt eine günstigere Eingruppierung: „Unterzeichneter erhebt Einspruch gegen die Einreihung als Minderbelasteter laut Anklageschrift. Neben der Entlastung, die die Anklageschrift ja selbst schon darstellt, muß ich diese Einstufung ablehnen, solange Ratsherren und Goldeneparteiabzeichenträger als Mitläufer und Minderbelastet gelten. Nicht daß ich dagegen wäre. Es können selbe ruhig sogar freigesprochen werden, ich verlange aber […] mit demselben Maße gemessen zu werden“ [StA La Spruchkammerakte, Fol. 19]. Auch habe er, so Eisenreich weiter, 1945 unter schwierigen Umständen zur sicheren Übergabe der Stadt Landshut beigetragen [StA La Spruchkammerakte, Fol. 21].

Derartige Revisionsanträge in Entnazifizierungsverfahren verliefen häufig erfolgreich [Niethammer, 1982] – so auch bei Eisenreich, der durch einen zweiten Spruch der Kammer Landshut vom 10. Januar 1947 schließlich als Entlasteter eingestuft wurde [StA La Spruchkammerakte, Fol. 22]. Im neuen Entscheid folgte die Kammer Eisenreichs Darstellung, wonach er „zu der eigentlichen kampflosen Übergabe der Stadt Landshut wesentlich beitrug“ [StA La Spruchkammerakte, Fol. 22].

Wie aber kam es zu der eingangs zitierten, anlässlich der „Spenderbauminitiative“ veröffentlichten positivistischen Aussage, dass Eisenreich im „Dritten Reich“ Juden versteckt habe? Bezugspunkt war vermutlich das besagte Spruchkammerverfahren und das dort von Eisenreich etablierte Narrativ. Tatsächlich hatte sich Eisenreich dort als NS-Kritiker dargestellt und entsprechende Leumundszeugnisse beigebracht. Dieses Vorgehen war allerdings absolut üblich – schließlich ging es in den Verfahren für die Beklagten darum, die eigene politische „Unschuld“ glaubhaft zu machen. Die Leumundszeugnisse sollten hierbei zur politischen „Reinwaschung“ beitragen, weshalb sie auch als „Persilscheine“ bezeichnet wurden [Klee, 1992].

War Eisenreich wirklich ein NS-Oppositioneller?

Eisenreich selbst gab im Verfahren an, dass er „trotz Behandlungsverbot die jüdischen Familien Ansbacher, Hirsch, Schönmann in Landshut und Becker in Ergoldsbach zum Teil bis Februar 1942 behandelt habe“ [StA La Spruchkammerakte, Fol. 13]. Womöglich wurde diese Selbstaussage bei der Abfassung der vorgenannten öffentlichen Mitteilung von 2022 als historisches Faktum gewertet und bei der Texterstellung weiter „ausgeschmückt“ („… versteckte und schützte zahlreiche Juden“), um der „Bauminitiative“ mehr Begründungstiefe zu verschaffen. Dabei könnte auch die Beliebtheit Eisenreichs in seiner Geburtsstadt eine Rolle gespielt haben: Er war in der Nachkriegszeit ein geschätzter Kommunalpolitiker und überdies ein stadtbekannter Konzertsänger. Der Landshuter Chronistin Erika Stadler zufolge galt Eisenreich vielen Landshutern als „Helfer, einfühlsamer Mitmensch, Kamerad und Freund“ [Stadler, 1998]. Er wurde noch zu Lebzeiten mit der Goldenen Bürgermedaille der Stadt ausgezeichnet. Eisenreich verstarb bereits am 2. August 1958 plötzlich und unerwartet an den Folgen einer Operation und wurde auf dem Waldfriedhof der Stadt Landshut bestattet (Grab Sektion 26/F 02/37) [Stadler, 1998].

Legt man die zeitgenössischen Archivquellen zugrunde, fällt es schwer, Eisenreich als NS-Oppositionellen einzuordnen oder ihn gar in eine Reihe mit hier behandelten Widerstandskämpfern wie Ulrich Boelsen [Groß/Wellens, 2023], Helmut Himpel [Wellens/Groß, 2024] oder Paul Rentsch [Wellens/Groß, 2023] zu stellen – auch wenn das öffentliche Bild eine solche Nähe suggeriert. Immerhin fällt auf, dass Eisenreich in der eigenen Familie eine politische Sonderstellung einnahm: Die Eisenreichs galten im „Dritten Reich“ als ausgesprochene Nazi-Sympathisanten [Groß, 2014]. Gleich zwei seiner Brüder, Theobald jun. und Hubert Eisenreich, waren sogar Träger des „Blutordens“ – des Ehrenzeichens für besonders frühe und verdiente „Parteigenossen“. Hubert Eisenreich war zudem SS-Obersturmbannführer und wohl erster Zahnarzt im KZ Dachau. Auch ein dritter Bruder, Ludwig Eisenreich, zählte zu den frühen NSDAP-Mitgliedern (Eintrittsjahr 1925). Es ist leicht vorstellbar, dass der 1934 vollzogene Parteiausschluss Karl Eisenreich in eine familiäre Außenseiterposition rückte, die durchaus eine gewisse Standfestigkeit erforderte.

Otto Berger – ein „Gerechter unter den Völkern“

Otto Berger (Abbildung 3) gehört ebenfalls zu den wenigen Zahnärzten, die öffentlich dafür geehrt wurden, das NS-System unterlaufen zu haben. Er bietet eine nicht minder interessante Biografie [Dolata, 1988; Lutze, 2006; Kornfeld, 2008; Bruckfamilyblog.com/Post 41, 2023]:

Otto Emil Wilhelm Berger wurde am 15. April 1900 in Oppeln (Schlesien, heute Polen) als Sohn des Malermeisters Robert Emil Wilhelm Berger und dessen Ehefrau Elisabeth Margaretha Berger, geb. Haas, geboren. Er durchlief nach dem Ersten Weltkrieg eine Ausbildung zum Dentisten und ließ sich anschließend in eigener Praxis in Berlin-Lichterfelde nieder [ADDD, 1931 und 1933/34]. Zu Beginn der 1930er-Jahre engagierte er sich in der Standespolitik, so als Mitglied des „Ausschusses für Dentistenfragen“ des „Reichsverbands Deutscher Dentisten“. Nach 1939 musste er aufgrund von kriegsbedingten Zerstörungen mehrfach innerhalb von Berlin den Praxis- und Wohnstandort wechseln (Zehlendorf, Lichterfelde, Steglitz). 1953 wurde er im Zuge der Aufhebung des Dentistenberufs in den „zahnärztlichen Einheitsstand“ aufgenommen. Fortan war er als Zahnarzt am Kurfürstendamm tätig [DZAb, 1953 und 1957]. 1974 trat er in den Ruhestand ein und verzog nach Ober-Ramstadt bei Darmstadt. Berger verstarb am 22. Mai 1985 in Darmstadt [Meldeamt/ Magistrat Ober-Ramstadt, 2023].

Berger setzte sich in den letzten Jahren des „Dritten Reiches“ für jüdische Mitbürger ein – dies ist, anders als für Eisenreich, historisch verbürgt. Gut dokumentiert ist sein Engagement für den verfolgten jüdischenKollegen Fedor Bruck (1895–1982), der wie Berger in Berlin lebte. Dazu notierte Kay Lutze, Historiker und Enkel von Bruck: „Bei seiner Odyssee im Untergrund von Berlin war ihm vor allem der Dentist Otto Berger behilflich, der für ihn auch falsche Papiere unter dem Namen Dr. Friedrich Burkhardt beschaffte […]. Im März 1944 überlebte Fedor Bruck mit Otto Berger den Einsturz des Hauses in Berlin-Lichterfelde nur knapp. Von 44 Personen kamen nur neun mit dem Leben davon. Für eine kurze Zeit fand Bruck wieder Zuflucht bei seiner Cou­sine, bis sein Freund Berger ein Haus mit Garten in Berlin-Zehlendorf mietete. Hier lebte er den Sommer 1944. Er besaß nur noch ein paar Kleidungsstücke und eine Aktenmappe mit den wichtigsten Papieren. Im Dezember 1944 zog Bruck dann in eine Wohnung in Berlin-Steglitz, die Berger zugewiesen worden war. Am 25. April ging auch der letzte Zufluchtsort durch Angriffe in Flammen auf“ [Lutze, 2006; Bruckfamilyblog.com/Post 17 2023].

Bergers Hilfsmaßnahmen fanden in der Nachkriegszeit zunächst kaum Beachtung. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde sein Einsatz zugunsten jüdischer Mitbürger im „Dritten Reich“ gewürdigt – so zunächst 1964 von Willy Brandt (1913–1992), damals Regierender Bürgermeister von Berlin [Kornfeld, 2008]. 1974 folgte dann eine ehrenvolle Einladung durch den damaligen Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue. Posthum kam es zu weiteren Ehrungen, die Berger auch in der jetzigen Zahnärztegeneration bekannt machten: Am 8. Februar 2008 verlieh die Zahnärztekammer Berlin Berger posthum die „Ewald-Harndt-Medaille“ [Kornfeld, 2008]. Die Auszeichnung wurde stellvertretend von Bergers Enkel Oliver Speyer entgegengenommen, der ebenfalls den Beruf des Zahnarztes ergriffen hat. Zur Begründung hieß es, Berger habe sich „durch sein mutiges und selbstloses Eintreten […]  zum Wohle verfolgter Kollegen“ im „Dritten Reich“ um den zahnärztlichen Berufsstand verdient gemacht (Bruckfamilyblog.com/Post 41 2023). 2009 wurde Berger zudem von Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ („The Righteous among the Nations“) anerkannt – eine Auszeichnung, die der Staat Israel Personen und Organisationen zuerkennt, die sich dem NS-Regime mit ihren Taten entgegenstellten [Liste der Gerechten unter den Völkern, 2023].

Aber gleichzeitig auch ein „Alter Kämpfer“

Es besteht kein Zweifel, dass Berger mit seinem Einsatz für Bruck und mögliche weitere jüdische Mitbürger Mut und Zivilcourage bewies. Doch macht ihn dies zu einem NS-Gegner? Während Zahnärzte wie Hermann Ley, Paul Rentsch oder Ewald Fabian das NS-Regime (auch) politisch bekämpften und sich Parteien oder Widerstandsgruppen anschlossen, die der NS-Ideologie und der NSDAP diametral entgegenstanden und auf Hitlers Entmachtung abzielten, lässt sich dies für Berger nicht behaupten. Berger trat vielmehr bereits am 1. März 1930 in die NSDAP ein (Nr. 219024), wie Akten aus dem Bundesarchiv Berlin zeigen, und er blieb bis zum Ende des „Dritten Reiches“ in der Partei (Abbildung 4). Er gehörte damit zu den frühen Mitgliedern mit einer Parteinummer unter 300.000, die auch als „Alte Kämpfer“ bezeichnet wurden [BArch R 9361-VIII/1980003; BArch R 9361-IX/2521607].

Bergers NSDAP-Zugehörigkeit wurde bislang nie thematisiert – offenbar unterließ man eine entsprechende Prüfung in der im Bundesarchiv verfügbaren Mitgliederkartei. Die Mitgliedschaft bietet Anlass für Spekulationen: So ließe sich argumentieren, dass Berger die Parteimitgliedschaft gegebenenfalls als eine Art „Tarnung“ nutzte, um so besser – das heißt ohne Argwohn auf sich zu ziehen – für jüdische Mitbürger eintreten zu können. Allerdings berücksichtigt diese Argumentation nicht das Faktum, dass Berger der NSDAP bereits im Jahr 1930 beitrat – mithin zu einem Zeitpunkt, als die Nationalsozialisten noch gar nicht an der Macht waren, so dass strategische Gründe für einen Parteieintritt sehr unwahrscheinlich sind. In der historischen Forschung wird weithin davon ausgegangen, dass sich vor der Machtübernahme im Januar 1933 hauptsächlich überzeugte Nationalsozialisten der Partei anschlossen, während bei den Eintritten nach diesem Zeitpunkt opportunistische Motive eine größere Rolle spielten.

Allemal zeigen die Fälle Eisenreich und Berger, dass die öffentliche Wahrnehmung einer Person nicht immer vollständig den historischen Fakten folgt. Eisenreich und Berger sind zum Beispiel aufgrund ihrer diversen Ehrungen zu vergleichsweise bekannten Zahnärzten mit moralischem Nimbus avanciert. Widerstandskämpfer wie Boelsen und Himpel haben demgegenüber nie eine öffentliche Ehrung erfahren. An Himpel wird bislang lediglich mit einem Stolperstein gedacht – dieser hat allerdings vornehmlich die Funktion, an das Schicksal von NS-Verfolgten zu erinnern und stellt nicht etwa eine Würdigung für den geleisteten politischen Widerstand dar.

Warum trügt manchmal die öffentliche Wahrnehmung?

Doch warum gibt es derartige Ungleichheiten und „Schieflagen“ in der öffentlichen Wahrnehmung und der historischen Bewertung von Personen? Die Antwort ist nicht zuletzt im sozialen Umfeld dieser Personen zu suchen: Nicht hinter jeder verdienten Persönlichkeit stehen Menschen, die über den sozialen Einfluss und die Entschlossenheit verfügen, um die Lebensleistung der betreffenden Person öffentlich zu machen und im kollektiven Bewusstsein zu verankern.

Bei Eisenreich und Berger war genau dies der Fall: Eisenreich gehörte in Landshut zu den Honoratioren. Er war in der Stadt bestens vernetzt, als Zahnarzt beliebt, als Kommunalpolitiker verdient und als Konzertsänger bewundert – kurzum, eine Persönlichkeit, die in vielfacher Hinsicht herausragte. Für Verantwortliche der Stadt Landshut lag und liegt es nahe, eine solche Person mit offensichtlichen Alleinstellungsmerkmalen zu würdigen – auch wenn hier nicht alle eruierbaren Fakten gleichermaßen bedacht und gewichtet wurden.

Bei Berger liegt der Fall ähnlich: Hier war es Werner Dolata (1927–2015), ein ehemaliger Mitarbeiter Bergers, späterer Zahnarzt und Bundestagsabgeordneter, der sich seit den 1960er-Jahren wiederholt für Ehrungen Bergers eingesetzt hatte [Privatarchiv K. Lutze]. Zudem lenkten Nachfahren von Fedor Bruck das Augenmerk auf Otto Berger: Der Historiker Kay Lutze ist, wie erwähnt, ein Enkel von Bruck. Er brachte ein berechtigtes Interesse und zudem die professionellen Voraussetzungen mit, um den Helfer seines Großvaters zu würdigen und in der (Fach-)Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ebendies tat er zum Beispiel 2006 in einem instruktiven Artikel über Bruck und Berger in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ [Lutze, 2006]. Lutzes Initiativen führten ihrerseits 2008 zur Ehrung Bergers durch die Zahnärztekammer Berlin [Kornfeld, 2008]. Ähnliches unternahm Richard Brook auf internationaler Ebene: Brook ist ein – historisch und archivalisch interessierter und kundiger – Großneffe von Fedor Bruck, der im Internet umfangreiche und faktenreiche Blogs unterhält, die an verschiedenen Stellen würdigend auf Otto Berger verweisen [Bruckfamilyblog.com/Post 17 2023; Bruckfamilyblog.com/Post 41 2023].

Es ist ein Glück, dass die Biografien und Aktivitäten von Eisenreich und Berger dank der Initiative aufmerksamer Einzelpersonen lebendig gehalten werden. Gleichzeitig ist es die Aufgabe von Historikern, verbliebene Wissenslücken zu schließen, Relationen zurechtzurücken und diejenigen Personen ins Licht zu stellen, die zu Unrecht weniger oder keine Beachtung finden. Ebendies war das Ziel unserer Reihe, die hiermit zum Abschluss kommt.

Literaturliste

  • ADDD (Adressbuch der deutschen Dentisten) (1931), 7; (1933/34), 6

  • AZD (Adreßkalender der Zahnärzte im Deutschen Reiche) (1925/26), Teil C, 312; (1929), Teil C, 364

  • Bruckfamilyblog.com/Post 17 [2023]: Bruckfamilyblog.com/Post 17,  bruckfamilyblog.com/post-17-surviving-berlin-time-hitler-uncle-fedors-story/ [24.03.2023]

  • Bruckfamilyblog.com/Post 41 (2023): Bruckfamilyblog.com/Post 41,  bruckfamilyblog.com/category/dr-otto-berger/ [24.03.2023]

  • Dolata (1988): Werner Dolata, Chronik einer Jugend. Katholische Jugend im Bistum Berlin. 1936-1949, Berlin 1988

  • DZAa (Deutsches Zahnärztliches Adressbuch) (1951), 51; (1953), 104; (1957), 182 (K. Eisenreich)

  • DZAb (Deutsches Zahnärztliches Adressbuch) (1953), 180; (1957), 245; (1959), 244 (O. Berger)

  • DZB (Deutsches Zahnärzte-Buch) (1932/33), Teil C, 278; (1935), Teil C, 313; (1938), Teil C, 331; (1941), Teil C, 330

  • Groß (2024): Dominik Groß, Lexikon der Zahnärzte und Kieferchirurgen im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Täter, Mitläufer, Oppositionelle, Verfolgte, Unbeteiligte, Bd. 3, Berlin, Leipzig 2024, im Druck

  • Groß/Wellens (2023): Dominik Groß, Sarah Wellens, Ulrich Boelsen (1900-1990) – zahnärztlicher Widerstandskämpfer und Mitglied des „Leuschner-Netzes“, ZM 113/17 (2023), 56-59

  • 100-Bäume-Programm [2022]: 100-Bäume-Programm – Herbstpflanzung 2022, nikolaviertel.de [08.03.2023]

  • Klee (1992): Ernst Klee, Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen (= Fischer, 10956), Frankfurt a. M. 1992

  • Kornfeld (2008): Kerstin Kornfeld, Späte Ehre für einen Retter. Großvater des Lübbecker Zahnarztes Oliver Speyer erhält posthum Medaille, Zeitung für den Altkreis Lübbecke/ Neue Westfälische, 07.02.2008, www.hiergeblieben.de/pages/textanzeige.php [24.08.2203]

  • Liste der Gerechten unter den Völkern (2023): dewiki.de/Lexikon/Liste_der_Gerechten_unter_den_Völkern_aus_Deutschland (O. Berger) [24.08.2023]

  • Lutze (2006): Kay Lutze, Die Lebensgeschichte des jüdischen Zahnarztes Fedor Bruck (1895-1982). Von Liegnitz nach New York, ZM 96 (2006), 124-127, hier 126f.

  • Niethammer (1982): Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik: Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin, Bonn 1982

  • Meldeamt/ Magistrat Ober-Ramstadt (2023): Meldeamt/ Magistrat Ober-Ramstadt (Lebensdaten O. Berger)

  • Privatarchiv K. Lutze: Privatarchiv Kay Lutze (Dokumentensammlung zu Otto Berger und Fedor Bruck)

  • StA Landshut Spruchkammer (1946/47): Landshut Stadt Nr. 547 (Spruchkammerakte K. Eisenreich)

  • Stadler (1998): Erika Stadler, Der singende Zahnarzt in Landshuts Altstadt. Vor 40 Jahren starb Stadtrat und Kulturreferent Karl Eisenreich an den Folgen einer Operation, Landshut heute(Landshuter Zeitung), 8. August 1998, 43

  • Tamme [2023]: Mario Tamme, E-Mails vom 20. Juli und 17. August 2023

  • Wellens/Groß (2023): Sarah Wellens, Dominik Groß, Paul Rentsch (1898–1944) – Dentist und Mitglied der Gruppe „Europäische Union“, Zahnärztliche Mitteilungen 113/21 (2023), 1906-1909

  • Wellens/Groß (2024): Sarah Wellens, Dominik Groß, Helmut Himpel (1907–1943) – Zahnarzt im Widerstandsnetzwerk „Rote Kapelle“, ZM 114/5 (2024), 54-57

269810-flexible-1900

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University MTI 2
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

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