75 Jahre Entdeckung der Kunststoffhaftung an säuregeätztem Zahnschmelz
Die Geschichte der adhäsiven Zahnmedizin beginnt in der Literatur meist mit dem Jahr 1955, als der amerikanische Chemiker und Zahnarzt Michael G. Buonocore (1918–1981) in einer wegweisenden Arbeit von einer „simplen Methode“ berichtete, die Adhäsion zwischen Zahnschmelz und Kunststoffen auf Acrylatbasis zu steigern. Die Methode bestand darin, den Zahnschmelz vorab einer Säureätzung zu unterziehen (Abb. 1) [Buonocore, 1955]. Über die dadurch entstandene Rauigkeit der Oberfläche ließ sich eine mikromechanische Verzahnung zum Kunststoff herstellen – ein Prinzip, nach dem auch heute noch gängige Restaurationsmaterialien arbeiten.
Buonocore war jedoch nicht der erste, der die Kunststoffhaftung an säuregeätztem Zahnschmelz beobachtete. Sechs Jahre vorher, im Jahr 1949, hatte der Zahnarzt Günter Staehle (1921–2008, Abb. 2) [Groß, 2023] den Effekt bereits zufällig entdeckt und beschrieben [Staehle, 1949]. Über die Vorgehensweisen von 1949 und 1955 berichtet der vorliegende Beitrag, der sich an eine kürzlich erschienene Arbeit von Staehle und Sekundo im Fachjournal „Journal of Adhesive Dentistry“ anlehnt [Staehle und Sekundo, 2024].
1949: Die Kunststoffhaftung als Problem
In seiner 1949 von der Universität Tübingen angenommenen Dissertation führte Staehle Untersuchungen zum Remineralisationsverhalten von Zahnschmelz durch. Dabei demineralisierte er Schmelzoberflächen artifiziell durch Säureätzung und setzte sie dem Mundmilieu aus. Vor und nach der Exposition fertigte er Kunststoff-Replikas an, um damit die Zahnstrukturen analysieren zu können.
Er verwendete menschliche Zähne, die er unmittelbar nach ihrer Extraktion in physiologischer Kochsalzlösung lagerte. Nach Abtrennung der Zahnwurzeln montierte er die verbliebenen Zahnkronen in von Patienten getragene Zahnprothesen. Welche Anzahl und Typen von Zähnen er heranzog, geht aus seiner Dissertationsschrift nicht hervor. Er führte keine Reinigung der Zahnoberflächen durch, sondern nur eine oberflächliche Trocknung. Um eine definierte Schmelzätzung zu erreichen, platzierte er auf den zu untersuchenden Schmelzoberflächen Plastilin, in das er jeweils eine kreisrunde Aussparung von 1 mm² einbrachte. Nach der Einwirkung von 5-prozentiger Salpetersäure für drei Minuten löste er das Plastilin ab und spülte mit Wasser. Nach der Trocknung fand er im geätzten Areal eine weiße, matte Oberfläche.
Zur Replika-Herstellung trug er die Flüssigkeit des Acrylatkunststoffs Paladon der Firma Kulzer auf die Zahnoberfläche auf und wartete, bis sich einige Zeit später durch Erstarren ein dünner Film gebildet hatte. Der Film erwies sich als glasklar, stabil und scharfzeichnend. Anschließend drückte er einen Cellophanstreifen auf den erstarrten Paladon-Film. Den Streifen zog er zusammen mit dem Acrylatfilm von der Zahnoberfläche wieder ab. Er beobachtete ein variables Haftverhalten. In einigen Fällen hatte sich keine Haftung ergeben. In anderen Fällen war eine dermaßen starke Haftung eingetreten, dass ein Ablösen des Acrylatfilms nicht möglich war. Diese Haftung deutete er als Folge der Oberflächenrauigkeit des geätzten Schmelzes. Er schrieb dazu in seiner Dissertationsschrift: „Es ergaben sich später noch verschiedene Schwierigkeiten beim Ablösen des Films, insbesondere bei geätzten Stellen, die durch ihre Rauigkeit ein Haften an der Zahnoberfläche begünstigen.“ Allerdings fand er keine plausiblen Gründe für das unterschiedliche Haftverhalten. Er wies darauf hin, dass einige Tage nach der Exposition der Studienzähne in der Mundhöhle die weißen und matten Schmelzoberflächen verschwunden seien und kein Farbunterschied mehr bestanden habe.
Durch seine Beobachtungen hatte er nicht nur als erster die Haftung von Kunststoff auf Acrylatbasis an geätztem Schmelz entdeckt, sondern die Adhäsionssteigerung auch korrekt als physikalisch (mikromechanisch) und nicht als chemisch begründeten Vorgang interpretiert. Die Bedeutsamkeit seiner Entdeckung, nämlich dass die durch Säureätzung bewirkte Adhäsionsverbesserung zwischen Schmelz und Acrylatkunststoff für vielfache zahnmedizinische Zwecke von Nutzen sein könnte, wurde ihm allerdings nicht bewusst. Die Adhäsionssteigerung zwischen Acrylat und geätztem Schmelz war für ihn vielmehr ein methodisches Problem, das seine Versuche erschwerte. Er sah sie nicht als vielversprechende Chance für andere Anwendungsbereiche [Staehle, 1949].
1955: Die Kunststoffhaftung als Lösung
Gegenüber der Situation von 1949 war die Beschreibung der Kunststoffhaftung an säuregeätztem Schmelz im Jahr 1955 das Ergebnis gezielter Forschungsarbeiten. Der Chemiker und Zahnarzt Michael G. Buonocore suchte nach Möglichkeiten einer Haftung von Kunststoff an der Zahnoberfläche, um damit klinisch relevante Einsatzgebiete wie beispielsweise die Versiegelung von Zähnen zur Kariesvorbeugung zu erschließen.
Buonocore experimentierte mit diversen Materialkombinationen (Phosphomolybdat in Verbindung mit Oxalsäure sowie Phosphorsäure). Dabei erwies sich die Schmelzätzung mit Phosphorsäure und anschließender Applikation von Acrylatkunststoffen als am erfolgreichsten. Nach Vorversuchen an extrahierten Zähnen verwendete er für seine Hauptversuche in situ befindliche Zähne von freiwilligen Probanden (volunteer subjects), hauptsächlich obere und untere Inzisiven, „gelegentlich“ („occasionally“) auch Prämolaren und Molaren. Nähere Angaben zu Zahntypen und -formen finden sich in seiner Publikation nicht.
Vor dem Ätzvorgang reinigte er die Zähne mit Bimsstein und Alkohol. Nach der Trocknung der Zahnoberfläche applizierte er 85-prozentige Phosphorsäure für die Dauer von 30 Sekunden, anschließend erfolgte eine Wasserspülung. Er mischte Acrylat-Füllungskunststoffe nach „Herstellervorschriften“ an – allerdings ohne den Präparatenamen oder den Hersteller zu deklarieren – und trug einen Tropfen Kunststoff mit einem Durchmesser von etwa 5 mm² im Bereich des geätzten Areals auf. Ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen er traf, um die genannte Größe des Areals sicherzustellen, ist der Publikation nicht zu entnehmen.
Er wartete die Härtung des Kunststoffs ab und glättete daraufhin dessen Oberfläche. Anschließend beobachtete er, ob der Kunststoff von selbst abfiel oder mechanisch abzutrennen war. Im letzteren Fall verwendete er „mit erheblicher Kraftanstrengung ein scharfes Instrument“ (considerable force with a sharp instrument“), ohne dieses allerdings näher zu beschreiben. Die Stabilität des Haftverhaltens prüfte er, indem er die Verbleibdauer des auf die Zähne aufgetragenen Kunststoffs beobachtete, wobei er zwischen unbehandelten und geätzten Zähnen (jeweils n = 10) unterschied.
Bei den unbehandelten Zähnen hielt die Adhäsion durchschnittlich elf Stunden an, bis die Proben von selbst abfielen. Bei den geätzten Zähnen betrug die Adhäsion hingegen durchschnittlich 1.070 Stunden (= 45 Tage). Bei der Hälfte der behandelten Zähne (fünf Zähne) erfolgte die Entfernung des Kunststoffs instrumentell (wie oben beschrieben), wobei es zuweilen zu kohäsiven Frakturen im Kunststoff kam. Die andere Hälfte (ebenfalls fünf Zähne) war beim Verfassen seines Manuskripts (90 Tage nach Versuchsbeginn) noch mit den Kunststoffauflagerungen versehen, die selbst bei „erheblichem Daumennageldruck“ („strong thumbnail force“) einer Ablösung widerstanden.
Die Haftung interpretierte er ebenfalls als ein rein physikalisches Phänomen. Im Fall, dass der Kunststoff mechanisch abgetrennt worden war, zeigte sich die Schmelzoberfläche zunächst opak und weiß, um nach einigen Tagen wieder ihre ursprüngliche Erscheinungsform anzunehmen.
Vergleich der beiden Methoden
Die beiden 1949 und 1955 beschriebenen Methoden weisen starke Unterschiede auf. Während die 1949 beobachtete Haftung von Acrylatkunststoff an geätztem Schmelz als unerwünschter Effekt eingestuft wurde, der die Realisierung einer experimentellen Studie behinderte, war die 1955 beschriebene Haftung ein erwünschtes Resultat.
Die Haftungsergebnisse der Studie von 1949 variierten stärker als dies in der Studie von 1955 der Fall war. Ein Grund für die große Variationsbreite wurde damals nicht gefunden. Ein Vergleich der Methoden von 1949 und 1955 gibt mehrere Erklärungsansätze:
1949 waren die Zahnoberflächen im Gegensatz zur späteren Untersuchung vor dem Anätzen nicht gereinigt worden.
Zudem fand die Ätzung mit 5-prozentiger Salpetersäure statt, die offenbar kein so effektives Ätzmuster wie 85-prozentige Phosphorsäure bewirkte.
Die Haftfläche betrug lediglich 1 mm², während sie bei Buonocore circa 5 mm² umfasste.
Der bei der früheren Methode genutzte dünne Kunststofffilm des Prothesenmaterials Paladon hatte nach seinem Erstarren vermutlich keine so starke Polymerisationsrate und Festigkeit wie der später verwendete, selbsthärtende, in wesentlich höherer Schichtdicke aufgetragene Kunststoff.
Gemeinsam war beiden Methoden, dass menschliche Zähne untersucht wurden, die nach dem Ätzen trotz des Einsatzes unterschiedlicher Säuren ein makroskopisch einheitlich erscheinendes Ätzmuster (weiße und opake Oberflächenstruktur nach Trocknen) aufwiesen, das wieder verschwand, wenn es den Bedingungen der Mundhöhle ausgesetzt worden war. Das wichtigste gemeinsame Merkmal war, dass es trotz höchst unterschiedlicher Versuchsbedingungen zu einem Haftungseffekt gekommen war.
Differenzierung der eingesetzten Acrylatkunststoffe
Die frühen Etappen zur Entwicklung und Anwendung von Kunststoffen auf Acrylatbasis für allgemeine und zahnmedizinische Zwecke wurden 2021 und 2022 von Staehle und Sekundo beschrieben [Staehle und Sekundo, 2021, 2022]. Einige Meilensteine finden sich in den Tabellen 1 und 2.
Paladon
Das 1949 verwendete Präparat Paladon war der erste Acrylatkunststoff überhaupt, bei dem eine Adhäsion auf geätztem Schmelz festgestellt wurde. Acrylatkunststoffe wurden 1930 von dem Chemiker Walter Bauer, der bei der in Darmstadt ansässigen Firma Röhm & Haas AG beschäftigt war, in die Zahnmedizin eingeführt. Zunächst wurden sie als bereits ausgehärtete Präparate angeboten, die unter Hitze und Druck verformt werden konnten (ein Vorgang, der als „Trockenverfahren“ bezeichnet wurde). 1936 wurde die „trockene“ Verarbeitungstechnik durch das von dem Zahntechniker Gottfried Roth erfundene „Nassverfahren“ abgelöst. Hierbei wurde das Polymerpulver Polymethylmethacrylat (PMMA) mit der Monomerflüssigkeit Methylmethacrylat (MMA) vermischt. Die dadurch entstandenen, plastisch verformbaren Massen wurden in eine Form gepresst und in kochendem Wasser ausgehärtet („Heißpolymerisation“).
Dieses Verfahren wurde von der Firma Kulzer 1936 patentiert (Roth war einer der vier Eigentümer von Kulzer) und unter dem Markennamen Paladon (für Prothesen) und Palapont (für Kronen und Brücken) in die Zahnheilkunde eingeführt. Es zeigte sich, dass das flüssige MMA schon bei Lichteinwirkung oder schwacher Erwärmung zur Polymerisation neigte, also in gewisser Weise zwar langsam, aber doch „selbst“ härtete, weshalb ihm später Stabilisatoren zugesetzt wurden [Staehle und Sekundo, 2021]. Dies dürfte der Grund gewesen sein, weshalb bei den Versuchen von 1949 das aufgetragene Paladon spontan zu einem dünnen Film erstarrte. Allerdings verlief die Polymerisation nicht gleichmäßig, was neben dem Unterlassen einer Zahnoberflächenreinigung das variable Haftverhalten verständlich macht.
Wenn zahnmedizinische Technologie auf Ideologie trifft
Paladon diente vorwiegend als Prothesenkunststoff, um den bis dahin üblichen Import-Kautschuk auszutauschen. Die Herstellerfirma Kulzer hatte ihren Sitz seinerzeit in Frankfurt am Main. Im Juni 1938 gab Friedrich Schoenbeck, Leiter des chemisch-metallurgischen Laboratoriums und Professor am zahnärztlichen Universitätsinstitut in Berlin auf einer Tagung der Arbeitsgemeinschaften für Prothetik und Werkstoffkunde der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) einen Überblick zu dem Thema „Die Kunstharze als zahnärztliche Werkstoffe“. Dieser Beitrag wurde 1939 publiziert. Schoenbeck schrieb, Kunstharz erfülle insofern die „Forderung Generalfeldmarschall Görings, als wir es hier mit einem Werkstoff zu tun haben, der nicht nur im Wesentlichen die Eigenschaften besitzt, die der auszutauschende Stoff aufweist, sondern der ihn bei weitem übertrifft“ [Schoenbeck, 1939].
Zu dem Präparat Paladon gab er folgende Erklärung ab: „Ueber einen dieser Werkstoffe muß ich hier einige Worte sagen, nämlich über das Paladon. Das Paladon ist ein brauchbarer Stoff, da es aber von Juden hergestellt wird, ist es den Staatsinstituten verboten, dieses Paladon irgendwie klinisch zu verwenden, und mit Recht. Wir haben verschiedene Versuche unternommen, die Juden auszubooten, und die Reichsstelle, mit der wir zusammen arbeiten, ist von uns immer entsprechend unterrichtet worden. Es liegt aber so, daß wir bisher noch nicht mit einer rein arischen Firma rechnen können. Eine solche wird aber jetzt gebildet werden. Bis dies geschehen sein wird*), liegen die Dinge so, daß wir natürlich hier in unserem Kreise über das Paladon reden können, soviel wir wollen, daß wir uns aber in der Öffentlichkeit zurückhalten müssen“. Der Vermerk in der Fußnote *) lautete: „Die Schwierigkeiten sind jetzt behoben, der Verarbeitung des Paladon in der Praxis steht nichts mehr im Wege. (Der Herausgeber)“ [Schoenbeck, 1939]. Zwischenzeitlich waren die vier Kulzer-Inhaber, darunter drei Juden, zu einem Zwangsverkauf an die Firmen Degussa und Heraeus genötigt worden – die Firma war jetzt „arisiert“. Die Begleitumstände werden in der Arbeit von Staehle und Sekundo [Staehle und Sekundo, 2024] im Detail beschrieben.
Selbsthärtende Kunststoffe
Um welchen Kunststoff es sich in der Untersuchung von 1955 handelte, wurde in der Arbeit von Buonocore nicht deklariert. Es ist lediglich von einem Acryl-Füllungskunstoff (acrylic filling resin) die Rede – der Hersteller wurde nicht angegeben. Anzunehmen ist, dass es sich hierbei um einen selbsthärtenden Kunststoff handelte, wie er seit Ende der 1940er-Jahre zur Verfügung stand. Kunststoffe dieser Art wurden in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre von dem handwerklichen Dentisten Ernst Schnebel entwickelt und 1940 patentiert. Dabei arbeitete Schnebel ebenfalls mit der Firma Kulzer zusammen, die die neuen Materialien unter anderem im Tierversuch testen ließ [Staehle und Sekundo, 2021].
So hat Schnebel unter anderem erstmals das Prinzip der Dualhärtung beschrieben – Kunststoffe auf Acrylatbasis können sowohl durch Zugabe chemischer Substanzen als auch durch UV-Licht polymerisiert werden. Zu den Pionierarbeiten Schnebels gehörte, durch die Zugabe von tertiären Aminen eine intraorale Autopolymerisation der Acrylatkunststoffe auszulösen. Für die Lichtpolymerisation konstruierte er ein mit Abschirmungen und speziellen Metallspiegeln versehenes UV-Lichtgerät. In Schnebels Patentschrift aus dem Jahr 1940 findet sich auch die Empfehlung, den Kunststoffen auf Acrylatbasis „harte Mineralstoffe“ hinzuzufügen, um deren Härte und „Abreibbeständigkeit“ zu erhöhen.
Wenn Forschungsleistung mit Standesdenken kollidiert
Der Erfinder selbsthärtender Kunststoffe, Ernst Schnebel, war Leiter der „Hauptprüfstelle und des Versuchslaboratoriums“ des Reichsverbandes Deutscher Dentisten (RDD). Er hatte als handwerklicher Dentist gegenüber der akademischen Zahnärzteschaft keinen einfachen Stand. So sah sich noch 1941 der im Text zitierte Universitätsprofessor Friedrich Schoenbeck veranlasst, die Bedeutung von Schnebels Forschungen zu relativieren und in die Nähe „bewusster Propaganda“ zu rücken. Er schrieb, dass er Schnebels „sicherlich sehr mühevolle Arbeiten“ zwar anerkenne, sie aber nicht unbedingt als „wissenschaftliche Tat“ bezeichnen wolle. Als Schnebel 1942 im Alter von 61 Jahren verstarb, geriet sein Lebenswerk noch einmal in den Strudel berufspolitischen Denkens: Die Dentisten feierten Schnebels Arbeiten als Beleg für die Leistungskraft des Berufsstands – immerhin konnte man die Entwicklung kostengünstiger und ressourcenschonender Dentalmaterialien als wichtigen Beitrag zur Stärkung der Wirtschaft im Krieg verkaufen. Die akademische Zahnärzteschaft schwieg dazu vornehm – in den zm fand sich zu seinem Tod nur eine kurze Meldung in der Rubrik „Personalien“.
International bekannt wurden Schnebels Forschungsergebnisse erst durch den sogenannten Blumenthal-Report aus dem Jahr 1947, einer Verlautbarung des Amtes der amerikanischen Militärregierung (Office of Military Government for Germany U. S.), der höchsten Verwaltungseinrichtung der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands [Blumenthal, 1941]. Dieser Bericht mit dem Titel „Recent German Developments in the field of dental Resins (field information agency, technical united states group control council for Germany; abgekürzt F.I.A.T.)“ gibt Auskunft über die Entwicklung des selbsthärtenden Kunststoffs. Blumenthal wies in seinem Report darauf hin, dass die Herstellung des ersten selbsthärtenden (self-hardening) Acrylats (Palapont S. H.) auf die Entdeckung von Ernst Schnebel zurückgehe. Kurze Zeit nach Erscheinen des Blumenthal-Reports mit seinen Offenlegungen wurden zahlreiche solcher Produkte weltweit auf dem Markt angeboten, so zum Beispiel 1949 das Präparat „Rapid-Palodont“ durch die Degussa- und Heraeus-Tochterfirma Kulzer [Staehle und Sekundo, 2021, 2022].
Fazit
Obwohl sich die Versuche von 1949 und 1955 in ihrer Zielsetzung und Vorgehensweise vollkommen unterschieden, führten sie letztlich zu demselben Ergebnis, nämlich dass eine Säureätzung von Zahnschmelz die Kunststoffhaftung verbessern kann. Im einen Fall (1949) war dieses Phänomen für den Forscher unerwünscht, da es seine Studien behinderte [Staehle, 1949], im anderen Fall (1955) war es für den Forscher höchst willkommen, da es die Option bot, seinen Zielen näher zu kommen [Buonocore, 1955].
Beide Arbeiten weisen in der Darstellung der Methodik gravierende Schwachstellen auf. So vermisst man unter anderem in der Studie von 1949 die Nennung von Anzahl und Typen der untersuchten Zähne oder die quantifizierte Eingrenzung und Überprüfung des Haftverhaltens (1949). Bei der Studie von 1955 wiederum fehlen unter anderem Angaben zur Deklaration des eingesetzten Kunststoffs und zur Realisierung einer definierten Haftfläche.
Die Forschungsergebnisse könnten wegen dieser Limitierungen nach heutigen Standards kaum publiziert werden. Gleichwohl führten sie zu epochalen Entdeckungen, wobei die bahnbrechende Arbeit von 1955 inzwischen als „Klassiker“ zu den berühmtesten Publikationen in der Zahnmedizin überhaupt zählt [Sanches und Michael, 2018].
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