Abseits der Praxis

Der tanzende Zahnarzt

Schon als Kind tanzte Kaloyan lliev, Zahnarzt und Fachzahnarzt für Oralchirurgie, wahnsinnig gern, später dann Standard und Latein in verschiedenen Vereinen. Als Studium, Beruf und Weiterbildung folgten, nahm die Zahnmedizin Priorität ein. Vor Kurzem zog es ihn aber wieder aufs große Tanzparkett – am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Dort wurde ihm bewusst: Es gibt bedeutende Verknüpfungen zwischen seiner Leidenschaft, dem Tanzen, und der beruflichen Tätigkeit.

Tanzen sei für ihn die ehrlichste und menschlichste Form der Kommunikation, die einem zur Verfügung steht. Iliev sieht darin sogar eine Art Offenbarung: „Wenn ich tanze, lege ich meine Seele für meine Mittanzenden und das Publikum hemmungslos und authentisch frei. Ich gehe eine sehr innige Bindung mit mir selbst ein und mache sie für alle in meiner Umgebung durch meinen Körper sichtbar.“ Genau das macht für den Zahnarzt das aktuelle Tanzprojekt im Staatstheater aus – eine Verbindung zu sich selbst und den Mitmenschen aufzubauen und zu spüren.

Iliev stammt aus Bulgarien. Seine erste Freundin bewegte ihn zum Tanzen und motivierte ihn, obwohl er – typisch Teenager – zunächst ablehnte und protestierte. Im Jugendalter ging er das Hobby dann immer professioneller an, mit 15 Jahren startete er seine Tanzsportausbildung. In Varna, im Heimatland, und später in Freiburg tanzte er Latein und Standard in insgesamt drei Tanzsportvereinen. Als Physikum, Klinik und die Weiterbildung zum Oralchirurgen anstanden, musste aber eine Pause her. Die Prioritäten lagen erst einmal auf der Zahnmedizin.

Mit 30 ging Iliev nach Karlsruhe und entdeckt dort das Tanzen für sich wieder. Er begann mit Ballett in einem der vielen Ballettvereine der Stadt. Bei seiner ersten Projektbeteiligung am Badischen Staatstheater war er zunächst als Statist im „Nussknacker“ von Bridget Breiner zu sehen. Das neue Tanzprojekt trägt den Titel „Human Condition“, es hatte am 20. April Premiere. Darin ist Iliev einer von 30 Laientänzern unter der Choreografie von Paul Calderone. Die Inszenierung widmet sich der Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein.

In dieser sich immer schneller beschleunigenden Welt zurechtzukommen, sei extrem schwer geworden, erklärt der Zahnarzt sein Empfinden. „Genauso wie die Technologien schneller werden, werden wir schneller gefordert, konkrete Antworten auf die Fragen nach unserer Identität, nach unserer Zugehörigkeit in unseren familiären und freundschaftlichen Strukturen und nach unserem Platz auf diesem Planeten zu liefern.“ Tanzen könne da eine Verbindung im anonymen Raum schaffen. Sie sei Kommunikation und Kunst, und die Kunst wiederum „eine einzigartige Möglichkeit uns selbst zu erkunden und die Antworten auf viele Fragen in uns zu finden – ohne durch einen digitalen Algorithmus beobachtet und beeinflusst zu werden“, philosophiert er.

Tanzen erhöht die Empfindsamkeit für das Gegenüber

Iliev findet, dass Tanzen eine große gesellschaftliche Bedeutung hat. Eine, die in heutigen Zeiten leicht in den Hintergrund rutschen kann. „Durch die Verbindung und durch die Sensibilität füreinander, schaffen wir Verständigung. Aus Verständigung wird Verständnis und das ist die Basis für Vertrauen, Intimität, Fürsorge, Freundschaft, Liebe und all das, was uns zu Menschen macht. So schafft Tanz in uns Freiräume, in denen wir uns selbst kennenlernen und die uns die Möglichkeit geben mit Neugier und Freude, anstatt mit Angst auf andere zuzugehen“, schwärmt der Zahnarzt von der Bedeutung seiner Leidenschaft.

Welche Rolle spielt das Tanzen in seinem beruflichen Alltag? „Tanzen vermittelt Körperbeherrschung, einen geschärften Sinn für Ergonomie und man lernt, seine Gestik, Mimik und Körpersprache den Bedürfnissen der jeweiligen Situation anzupassen. Körpersprache stellt ja eine fundamentale Ebene der Kommunikation dar – sowohl mit Patientinnen und Patienten als auch mit Kollegen.“ Die Fähigkeit, die Gefühlslage anderer zu deuten, sei nicht nur ein wichtiger Überlebensmechanismus, sondern auch die Grundlage für Interaktion und Zusammenarbeit – gerade wenn der Patient auf dem Stuhl den Mund geöffnet hat nicht mehr frei sprechen kann. „Kleine Zeichen sind für mich als Zahnarzt in dem Moment sehr wichtig, um den Patienten gut durch den Eingriff zu führen.“

„Patienten sind für die nonverbale Kommunikation besonders empfindsam, weil sie sich in der Praxis in einer Angst- oder Stresssituation befinden. Wenn wir als Zahnärzte die Körper­sprache der Ruhe und Empathie beherrschen, während wir authentisch und objektiv bleiben, abseits von zeitlichem und wirtschaftlichem Druck, dann schaffen wir eine tiefere Ebene des Vertrauens zu unseren Patienten“, erklärt Iliev. Dasselbe gelte für Mitarbeiter und besonders auch für Führungskräfte. „Es schafft eine ganz andere Ebene der Zusammenarbeit, wenn die Mitarbeiter wissen, dass die Führungsperson Ruhe behalten und konstruktiv auf deren Bedürfnisse eingehen kann“, so Iliev, der seit vergangenem Jahr Partner der Karlsruher Praxis „Zahnheilkunde am Ochsentor“ ist.

Die Perfektionierung kleinster Details bestimmt das Ergebnis

Was für viele, die keine Erfahrung mit professioneller Tanzarbeit haben, oft verborgen bliebe, sei der mühselige Entstehungsprozess von einem Stück. „Häufig arbeitet man über eine Stunde für gerade einmal 30 bis 60 Sekunden Choreografie. Erst, wenn diese aufgebaut ist, kann man sie verfeinern und am Ausdruck und dem Zusammengehörigkeitsgefühl des Tanzteams arbeiten. Diese Arbeit erinnert mich an unsere tägliche als Zahnmediziner: Wie viele Tüten Plastikzähne sind im Kampf mit der Kronen- und Kavitätenpräparation gefallen, bis wir endlich mal ein Gefühl für den Bohrer entwickelt haben? Diese Einsicht beim Entstehungsprozess eines Tanzstücks hat mir sehr viel Wertschätzung dafür gebracht, wie viel Jahre wir als Zahnärzte dafür arbeiten, um in einer Stunde eine komplexe Füllung zu legen oder in 20 bis 30 Minuten vier Weisheitszähne zu entfernen“, erklärt er die Parallele.

„Erst durch diesen mühevollen und zeitintensiven Lernprozess, das Experimentieren und diesen Perfektionismus können wir mit zügiger Geschwindigkeit und Vorhersagbarkeit unsere Patienten behandeln. Darauf sollten wir auch stolz sein!“, so Iliev. Das Mitwirken in den beiden Tanzstücken hat ihm ermöglicht, die Empfindsamkeit für die Personen gegenüber weiterzuentwickeln. Alle Beteiligten solcher Produktionen stünden unter einem hohen Druck. Gemeinsam ein Produkt zu kreieren, das anhand der subjektiven Wahrnehmung von hunderten und tausenden Unbekannten mit unterschiedlichen Hintergründen bewertet werde, sei auch für ihn eine mentale Herausforderung. „Im Unterschied zu unserer Arbeit, die nur von Kollegen anhand Leitlinien und Behandlungskonzepten, über Jahre und Jahrzehnte wissenschaftlich erprobt, beurteilt werden kann, wird die Arbeit von einer kunstschaffenden Person praktisch nur von Laien beurteilt.“

Auch die Arbeit im Tanztheater erfordere lange Einsatzzeiten, die deutlich über eine 40-Stunden-Arbeitswoche hinausgingen. Von den Tänzern fordern sie viel Aufmerksamkeit für den eigenen Körper ein, sagt der tanzende Zahnarzt. „Trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – schafften es diese Menschen mit Sanftheit, Respekt und Fürsorge füreinander da zu sein, zusammen zu arbeiten, ohne die eigene Authentizität und Professionalität zu verlieren. Und das, obwohl sie zu bestimmten Zeitpunkten auch um Rollen konkurrieren.“

„Das war sehr beflügelnd für mich zu erleben. Trotz des hohen Strebens nach Perfektion, die wir Zahnärzte in uns tragen, sollte man die eigene Verletzlichkeit wahrnehmen können und die des Gegenübers respektieren.“ Tanzen sei dafür ein sehr gutes Training.

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