Studie zur Lebenserwartung in Deutschland

Deutschland verliert weiter den Anschluss an Westeuropa

Bei der Lebenserwartung fällt Deutschland im Vergleich zum restlichen Westeuropa weiter zurück, so eine aktuelle Studie. Seit den 2000er-Jahren ist die Sterblichkeitslücke stetig angewachsen. Der Grund: Nachholbedarf bei der Prävention und bei der Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Bei der Lebenserwartung gehört Deutschland in Westeuropa zu den Schlusslichtern und verliert weiter den Anschluss. Das ergab eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. Untersucht wurden Sterblichkeitstrends über mehrere Jahrzehnte hinweg. Der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa habe im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre betragen. Der Abstand habe sich bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert, heißt es dort. Der Beginn der 2000er-Jahre habe dabei einen Wendepunkt in der Dynamik der Sterblichkeitsentwicklung markiert, so das Autorenteam der Studie. Dies erkläre sich überwiegend durch die Sterblichkeit an nichtübertragbaren Krankheiten. Die Studienautoren verglichen Deutschland mit 14 Ländern: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, dem Vereinigten Königreich sowie der Schweiz.

Ostdeutschland konnte der Studie zufolge nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 zunächst den Rückstand gegenüber Westdeutschland und Westeuropa erheblich verringern. Dazu hätten auch massive finanzielle Investitionen in die Gesundheitsversorgung beigetragen. Bis Anfang der 2000er-Jahre habe dann die Lebenserwartung der Frauen in Ostdeutschland zu Westdeutschland aufgeschlossen und auch gegenüber dem restlichen Westeuropa erheblich aufgeholt. Die Männer in Ostdeutschland hätten zunächst ebenfalls den Abstand gegenüber Westdeutschland und dem restlichen Westeuropa reduzieren können, ergab die Studie weiter. Allerdings sei bei ihnen im Gegensatz zu den Frauen bis heute ein Abstand von rund einem Jahr gegenüber Westdeutschland geblieben.

Bei den Männern 1,8, bei den Frauen 1,4 Jahre weniger

Der Wendepunkt habe sich dann seit der Jahrtausendwende abgezeichnet. Ab dann hätten sowohl West- als auch Ostdeutschland gegenüber den anderen Ländern Westeuropas an Boden verloren, so das Autorenteam weiter. Während der Rückstand von Deutschland bei der Lebenserwartung der Männer im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre betragen habe, sei dieser bis 2022 auf 1,8 Jahre angestiegen. Ein ähnliches Bild zeige sich bei den Frauen: Hier habe sich der Abstand bei der Lebenserwartung von 0,7 Jahren (2000) auf aktuell 1,4 Jahre vergrößert. Lediglich im ersten Jahr der Corona-Pandemie 2020 habe bei beiden Geschlechtern eine kurzfristige Annäherung an den westeuropäischen Durchschnitt verzeichnet werden können, da die Coronasterblichkeit in Deutschland zunächst deutlich geringer ausgefallen sei als in anderen Ländern Westeuropas, so das Wissenschaftlerteam.

Einzelne Altersgruppen haben den Studienergebnissen zufolge unterschiedlich zu dem wachsenden Rückstand Deutschlands in der Lebenserwartung beigetragen. Während die Sterblichkeit von Menschen unter 50 Jahren im Rahmen des westeuropäischen Durchschnitts liege, sei sie bei den über 65-Jährigen deutlich erhöht. Bei den Frauen wiesen in Deutschland gerade Personen im Alter ab 75 Jahren eine höhere Sterblichkeit auf als Gleichaltrige im westeuropäischen Ausland. Dagegen trage bei den Männern insbesondere die Altersspanne zwischen 55 und 74 Jahren zur Lücke bei.

Bereits in einer vorherigen Studie habe nach Angaben des jetzigen Autorenteams belegt werden können, dass das deutsche Defizit im Vergleich zu Vorreiterländern, wie etwa der Schweiz, Frankreich, Spanien oder Japan, vor allem auf einen Nachteil in der Sterblichkeit im höheren Erwachsenenalter zurückzuführen sei (bei Männern ab 50 Jahren, bei Frauen ab 65 Jahren). Hinsichtlich der Todesursachen erkläre sich der Rückstand insbesondere durch eine höhere Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dies gelte selbst im Vergleich zu anderen „Nachzüglerländern“ wie den USA und dem Vereinigten Königreich. Die immer noch hohe kardiovaskuläre Sterblichkeit in Deutschland scheine auch auf unzureichende Prävention und Primärversorgung zurückzuführen zu sein, so die Autoren.

Die Gesundheitspolitik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Die Unterschiede zwischen den Ländern spiegelten unter anderem auch Differenzen in der Gesundheitspolitik wider, so die Autoren weiter. Das zeige sich etwa in Bezug auf die Prävention, die Früherkennung und die Behandlung von Erkrankungen. Empirische Belege deuteten darauf hin, dass nationale gesundheitspolitische Maßnahmen etwa bei der Eindämmung des Tabak- und Alkoholkonsums, bei der Vorbeugung und Behandlung von Bluthochdruck, bei der Krebsvorsorge, bei der Straßenverkehrssicherheit, bei Lebensmittelstandards und Ernährung, bei Kindergesundheit sowie Infektionskrankheiten und Luftverschmutzung in den vergangenen vier Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern zu erheblichen Verbesserungen der Gesundheit der Bevölkerung beigetragen haben. Die Tatsache, dass benachbarte Länder mit ähnlichen sozioökonomischen Bedingungen unterschiedliche Gesundheitsergebnisse aufweisen, deute darauf hin, dass sich die Länder im Grad der Umsetzung gesundheitspolitischer Maßnahmen zum Teil erheblich unterscheiden.

„Deutschland braucht eine Initiative für Prävention“

Eine Initiative für Prävention und Gesundheit ist in Deutschland dringend notwendig, so das Fazit auf einer Tagung des Wissenschaftsrats (WR) am 22. Mai in Berlin. Öffentliche Gesundheit und die dort spezialisierten Dienste und Wissenschaftsdisziplinen müssten im Schulterschluss Gesunderhaltung und Krankheitsvermeidung in den Fokus nehmen, so die Empfehlung des WR. Es fehle in der Gesundheitsprävention nicht an Einzelerkenntnissen, viel mehr mangele es an deren Umsetzung und der Vernetzung der Akteure. „Hunderttausende Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes- und Krebserkrankungen wären vermeidbar, würden wir früher ansetzen“, erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf der Tagung. „Wir brauchen daher eine Trendwende bei Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz. Die Nationale Präventions-Initiative setzt dafür wichtige Impulse“, so der Minister.

Die Experten der Tagung diskutierten auch konkrete Maßnahmen für eine erfolgreiche Prävention. Dazu gehörten unter anderem eine bessere Datengrundlage, die Vernetzung aller Akteure, verbindliche politische Ziele innerhalb einer nationalen Strategie und wirksame Anreize für ein gesundheitsbewusstes Verhalten. Grundsätzlich müsse die Prävention in der Medizin einen höheren Stellenwert einnehmen.

Um Deutschlands Rückstand bei der Lebenserwartung in Westeuropa zu überwinden, müsse insbesondere in höheren Altern eine weitere Verringerung der Sterblichkeit erzielt werden. Vor allem bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen scheine Handlungsbedarf zu bestehen. Die genauen Gründe für den Widerspruch zwischen einer gut finanzierten, technologisch fortschrittlichen und gut zugänglichen Gesundheitsversorgung und der schlechten Platzierung Deutschlands bei der Lebenserwartung insbesondere im Bereich der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen seien jedoch noch nicht ausreichend erforscht.

Die Autoren verweisen ferner auf internationale Daten. Diese deuteten darauf hin, dass die Bevölkerung in Deutschland durchschnittlich schlechtere Ernährungsgewohnheiten aufweist. Das gelte etwa für das geringere Angebot an Gemüse und Obst und dessen vergleichsweise mäßigen Konsum. Auch sei zu erwarten, dass die raucherbedingte Sterblichkeit bei Frauen in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten im westeuropäischen Vergleich überdurchschnittlich zunehmen werde. Wichtig sei auch der Hinweis, dass Deutschland unter den ökonomisch hoch entwickelten Ländern über einen langen Zeitraum hinweg im internationalen Vergleich einen der letzten Plätze in Bezug auf die öffentliche Gesundheitspolitik einnehme. Dies gelte insbesondere in den Bereichen Tabak- und Alkoholprävention sowie Ernährung.

„Deutschland könnte viel mehr erreichen“

Dr. Grigoriev, warum ist der Handlungsbedarf in Sachen Lebenserwartung in Deutschland so groß? Liegt es am Gesundheitssystem?

Die genauen Gründe für den Widerspruch zwischen einer gut finanzierten, technologisch fortschrittlichen und gut zugänglichen Gesundheitsversorgung und der schlechten Platzierung Deutschlands bei der Lebenserwartung sind noch nicht ausreichend erforscht. Allerdings wird durch unsere Studie ziemlich klar, dass eine stärkere Fokussierung auf die Prävention und die Früherkennung chronischer Krankheiten erforderlich ist. Früherkennung und Prävention sollten in einem breiteren Kontext verstanden werden. Das ist nicht nur ein Thema für Mediziner und politische Entscheidungsträger. Die Verbreitung von Wissen über gesundes Verhalten in die breite Öffentlichkeit hinein spielt eine Schlüsselrolle bei der Verringerung der Sterblichkeit.

Haben die bisherigen Präventionsstrate­gien nicht gut genug gegriffen – gerade bei den großen Volkskrankheiten?

In Deutschland gibt es zwar Fortschritte bei der Senkung der Sterblichkeit, diese entwickeln sich jedoch langsamer als in den anderen westeuropäischen Ländern. Die Beispiele dieser Länder belegen, dass Deutschland mit seiner starken Wirtschaft und seinem Gesundheitssystem viel mehr erreichen könnte. Eine stärkere Fokussierung auf die Prävention und die Früherkennung chronischer Krankheiten, insbesondere bei der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, würde hier viel Potenzial für Verbesserungen bieten. Die Verbesserung des Gesundheitssystems allein reicht aber nicht aus, es müsste auch eine wirksame Gesundheitspolitik betrieben werden. Leider bekleidet Deutschland einen der letzten Plätze in Bezug auf die öffentliche Gesundheitspolitik (Public Health). Dies gilt insbesondere in den Bereichen Tabak- und Alkoholprävention sowie Ernährung.

In einem wissenschaftlichen Expertenkommentar zu unserer Studie aus dem vergangenen Jahr haben Stephan Baldus, Kardiologe an der Universitätsklinik Köln, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mögliche Strategien zusammengefasst [Baldus und Lauterbach, 2023]. Dazu gehören die Gesetzgebung, bevölkerungsweite Gesundheitschecks, die Einführung elektronischer Gesundheitsakten und andere Initiativen. Die Autoren nennen konkrete Beispiele von Ländern, die es besser gemacht haben: Japan, die Niederlande, Schweden und Dänemark.

Was genau läuft in den Vergleichsländern anders oder besser?

Japan hat eine spezielle Gesetzgebung, die die Primärprävention fördert. Dazu gehören Gesundheitschecks und Anreize für gesundes Verhalten. In Schulen werden gesunde Lebensmittel bereitgestellt und Ernährung ist offizieller Bestandteil des Lehrplans. In den Niederlanden gibt es zum Beispiel ein Screening-Programm für familiäre Hypercholesterinämie. Dänemark hat durch die Einführung eines elektronischen Gesundheitsaktensystems mit automatisierter Datenerfassung bei Hausärzten eine bemerkenswerte Verbesserung bei der Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren verzeichnet. Und Schweden hat Register eingeführt, die Krankheitsentitäten verfolgen und die eng mit der Erhebung der nationalen Krankheitslast verbunden sind. Dazu gehört ein webbasiertes System zur Verbesserung und Entwicklung der evidenzbasierten Versorgung bei Herzerkrankungen. 

Das Gespräch führte Gabriele Prchala.

Die auffallend hohe Morbidität durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, komplexe chirurgische Behandlungen und übermäßige Krankenhausaufenthaltsraten sowie der hohe Prozentsatz von Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Krankenhäuser erst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien und mit Multimorbidität erreichen, deuten auf Versäumnisse bei der Prävention, der Früherkennung und der Behandlung hin, so das Fazit. Um die Nachhaltigkeit der Finanzierung und des Funktionierens des Gesundheitswesens zu gewährleisten, erscheine eine Diskussion über eine Neuadjustierung von Prioritäten und Investitionen im Gesundheitswesen dringend angebracht. Mehr Forschungsarbeit und mehr Daten seien notwendig.

Fazit

Die auffallend hohe Morbidität durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, komplexe chirurgische Behandlungen und übermäßige Krankenhausaufenthaltsraten sowie der hohe Prozentsatz von Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Krankenhäuser erst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien und mit Multimorbidität erreichen, deuten auf Versäumnisse bei der Prävention, der Früherkennung und der Behandlung hin, so das Fazit. Um die Nachhaltigkeit der Finanzierung und des Funktionierens des Gesundheitswesens zu gewährleisten, erscheine eine Diskussion über eine Neuadjustierung von Prioritäten und Investitionen im Gesundheitswesen dringend angebracht. Mehr Forschungsarbeit und mehr Daten seien notwendig.

Grigoriev, P.; Sauerberg, M. et al., Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland im internationalen Kontext. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 67(5): 493–503. https://doi.org/10.1007/s00103-024-03867-9

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