Ein Gewinn für die Gesundheitsbranche
Der deutsche Gesundheitssektor hat mit den Behandlungen im Medizintourismus 2022 einen Umsatz von schätzungsweise 880 Millionen Euro erwirtschaftet, wie eine Untersuchung der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) ergab. Insgesamt reisten demnach im Jahr 2022 Patientinnen und Patienten aus 149 Ländern für eine Behandlung nach Deutschland. Hauptgrund für den Anstieg seien die zunehmenden Patientenzahlen aus Kuweit, aber auch aus Staaten wie Usbekistan oder Kasachstan. Zahlen für 2023 und 2024 gibt es nach Angaben der Hochschule noch nicht. Die Untersuchung der Hochschule beruhe auf eigenen Erhebungen und den Daten des Statistischen Bundesamtes, diese lägen immer erst mit einer Verzögerung von etwa anderthalb Jahren vor.
Drei Viertel der Medizintouristinnen und -touristen stammten aus Nachbarländern in Europa, so die Untersuchung weiter. Den Spitzenplatz nehme hier erneut Polen ein. Die Zahl von 11.270 Behandlungen bedeute einen Anstieg um 8,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das größte Nachfrageplus habe Dänemark mit 46 Prozent verzeichnet (insgesamt 880 stationäre Patienten). Zudem habe es innerhalb und außerhalb Europas eine deutlich stärkere Nachfrage aus dem englischsprachigen Raum gegeben – mit den Herkunftsländern USA (plus 73 Prozent), Kanada (plus 67 Prozent), Irland (plus 58 Prozent) und Australien (plus 580 Prozent).
Starker Anstieg aus den Golfstaaten
Die Hochschule hatte bereits im vergangenen Jahr steigende Patientenzahlen aus den Golfstaaten prognostiziert, was sich in 2022 bestätigt habe, unterstreicht Mariam Asefi, Leiterin des Bereichs Medizintourismus an der H-BRS. Mehr als 560 kuwaitische Patienten und Patientinnen seien 2022 in Deutschland stationär behandelt worden (ein Plus von 580 Prozent zum Vorjahr). Asefi geht davon aus, dass sich dieser Trend weiter fortsetzen wird. Sie rechnet für die Jahre 2023 und 2024 mindestens mit einer Verdopplung der Zahlen. Einen weiteren starken Anstieg erwartet sie auch bei den Patientenzahlen aus Ägypten (2022 ein Plus von 58 Prozent).
„Geschätzt werden die Preise, die Lage und der Service“
Mariam Asefi, Leiterin des Forschungsbereichs Medizintourismus an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin, hat bei ihren Forschungsarbeiten über Medizintourismus aus dem Ausland nach Deutschland auch den Bereich Zahnmedizin im Blick. Zwar gebe es derzeit keine speziellen Erhebungen dazu, weil sich die Forschungen der Hochschule auf die elektiven medizinischen Bereiche konzentrierten, erklärte sie in einem Gespräch mit den zm. „Die Zahnmedizin wird aber von uns mit beobachtet“, sagte sie. Als Beispiel nannte sie ausländische Diabetespatienten. Viele von ihnen müssten vor oder während ihrer stationären Behandlung auch einen Besuch beim Zahnarzt vornehmen, um mögliche allgemeinmedizinische und zahnmedizinische Wechselwirkungen abklären zu lassen. Im Blick habe der Forschungsbereich auch den grenzüberschreitenden Weg von deutschen Patienten, die sich im Ausland behandeln lassen wollen. Asefi nannte hier etwa Behandlungen in Polen, Ungarn oder der Türkei.
Behandelt würden onkologische Fälle wie etwa Brustkrebs oder Prostatakrebs – regelmäßig nachgefragt von Patienten aus dem arabischen Raum. Nachgefragt werde auch die Behandlung von komplexen Fällen aus der Neurologie oder dem Bereich Seltener Erkrankungen, oder komplexe Fälle in der Unfallchirurgie. „Verunfallte Motorradfahrer oder Rennfahrer aus dem arabischen Raum zählen zu den typischen Fällen.“ Nicht zu vergessen seien Nachfragen nach Schönheitschirurgie oder Kinderwunschbehandlungen.
Und warum kommen die Patienten bevorzugt nach Deutschland und gehen nicht etwa in die USA? Hier verwies Asefi auf das Preis-Leistungs-Verhältnis: „Medizin in den USA ist teurer“, sagte sie. Nicht zuletzt sei hierzulande die geografische Lage ein Vorteil. Generell sei die Visavergabe in Deutschland sehr kompliziert, aber für einige Patienten dennoch leichter als in den USA. „Auch der touristische Faktor spielt eine Rolle, etwa für die begleitenden Angehörigen.“ Geschätzt werde auch der Service. „Wir beobachten derzeit einen Trend bei polnischen Schwangeren, die nach Deutschland zur Entbindung kommen und das auch privat bezahlen.“
Was finanzielle Aspekte angeht, sind die ausländischen Patientinnen und Patienten nach Angaben Asefis mehrheitlich Privatzahler und werden im privaten sowie im öffentlichen Sektor behandelt. „Doch es gibt auch Fälle, bei denen Patienten aus dem EU-Ausland kommen und die Kostenerstattung ihrer Versicherung in Anspruch nehmen“, berichtete die Wissenschaftlerin.
Doch ist Medizintourismus angesichts eines wachsenden Ärzte- und Fachkräftemangels überhaupt willkommen? Eine Aufnahme ist laut Asefi nur möglich, wenn bestimmte Kliniken Kapazitäten aufweisen könnten, das sei regional aber sehr unterschiedlich. Positiv entwickelt habe sich in den vergangenen Jahren zudem der internationale Austausch von Fachkräften. Viele Ärztinnen und Ärzte seien aus dem Ausland nach Deutschland gekommen – eine Win-win-Situation für die Ärzte, die Arbeit suchten, wie für die deutschen Krankenhäuser und Universitätskliniken, die Personal benötigten. Nicht zuletzt ermöglichten die extra budgetieren Einnahmen den Kliniken Investitionen in deren Infrastruktur. „Und“, betont Asefi abschließend, „jede kulturelle Interaktion ist eine Bereicherung – wir können alle voneinander lernen.“
Das Gespräch führte Gabriele Prchala.
Das Wachstum bei den Zahlen der ausländischen Patientinnen und Patienten lässt sich der H-BRS zufolge auch 2022 bundesweit beobachten. Lediglich Sachsen-Anhalt und das Saarland bildeten hier eine Ausnahme, so die Hochschule. Die Gesundheitsziele in Bayern und Baden-Württemberg hätten um jeweils 16 Prozent zugelegt. Besonders stark entwickelt hätten sich die nordöstlichen Bundesländer. Am deutlichsten sei dieser Trend in Hamburg festzustellen (plus 37 Prozent), gefolgt von Schleswig-Holstein (plus 30 Prozent). Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg verzeichneten demnach jeweils ein Plus von mehr als 20 Prozent. In Berlin sei ein Anstieg um 14 Prozent zu verzeichnen. Die Hauptstadt investiere kontinuierlich in die Vermarktung als Medizintourismus-Standort, betont die H-BRS. Ähnlich starke Zahlen ließen sich in Nordrhein-Westfalen beobachten.
Zahlen zum Medizintourismus
stationäre Patienten aus dem Ausland
2022: 73.166 (+17,46 Prozent gegenüber Vorjahr): stationäre Patienten aus 149 Ländern
2021: 62.289 (-5 Prozent gegenüber Vorjahr): stationäre Patienten aus 141 Ländern
2020: 64.586 (-33,62 Prozent gegenüber Vorjahr): stationäre Patienten aus 177 Ländern
2019: 97.298 (-2,12 Prozent gegenüber Vorjahr): stationäre Patienten aus 184 Ländern
ambulante internationale Patienten
2022: circa 109.017
2019: circa 145.000
Summe internationale Patienten
2022: 182.183
2021: 155.100
2020: 161.586
2019: 242.298
geschätztes Erlösvolumen internationaler Patienten
2022: rund 880 Millionen Euro pro Jahr
2021: rund 750 Millionen Euro pro Jahr
2020: rund 777 Millionen Euro pro Jahr
M. Asefi, Eigene Berechnung 2024, Daten Statistisches Bundesamt 2022
Asefi wertet die Zahlen als insgesamt gutes wirtschaftliches Ergebnis für die Gesundheitsbranche. Die Kliniken stünden derzeit aufgrund von Inflation und Fachkräftemangel vor vielen Herausforderungen. Mit dem Ende der Corona-Pandemie stellt Asefi eine „globale Euphorie“ beim Medizintourismus fest. Aber inzwischen gebe es auch einige stärkere Mitbewerber wie die Türkei oder auch Spanien. „Die Türkei gilt derzeit weltweit als Vorreiterin bei der Vermarktung ihrer Medizintourismus-Angebote wie beispielsweise von Haartransplantationen, in der Zahnmedizin oder bei Schönheitsoperationen. Der Medizintourismus von deutschen Patientinnen und Patienten in die Türkei ist drastisch gestiegen.“ Hier sei eine stärkere Qualitätssicherung notwendig, betonte sie.