Körpermodifikationen bei den Wikingern
Die Gruppe um Matthias S. Toplak, Wikingermuseum Haithabu, und Lukas Kerk, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, untersuchte für ihre Studie die Überreste von 130 männlichen Wikingern aus dem 11. Jahrhundert, deren Zähne offenbar absichtlich transformiert wurden. Die meisten von ihnen stammten von der schwedischen Insel Gotland und hatten in ihre Schneidezähne horizontale Furchen gefeilt. Für dieses ungewöhnliche Phänomen gab es Toplak zufolge bisher drei Erklärungen: „Als Markierung von Sklaven, für ein besonders grimmiges, kriegerisches Aussehen, oder als Erkennungsmerkmal früher Handelsgilden.“
Wikinger mit gefeilten Zähnen waren Kaufleute, keine Krieger
Dieser zweiten Deutung schließen sich die deutschen Wissenschaftler an: Sie vermuten, dass die Markierungen kodierte Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft darstellten – möglicherweise wirklich zu Händlern, die im Raum Gotland und auf dem nahen schwedischen Festland aktiv waren. „Wir gehen davon aus, dass dieser Brauch als Identifikationsmerkmal einer geschlossenen Gruppe von Kaufleuten diente“, erläutert Toplak. „Ihre Mitglieder konnten sich so gegenseitig erkennen.“ Der aktuelle Forschungsstand deute darauf hin, dass die Feilungen Schiffsgemeinschaften oder Handelsverbände, späteren Gilden ähnlich, kennzeichneten. Schließlich sind die Orte, an denen die Wikinger begraben wurden, im 11. und im 12. Jahrhundert allesamt wichtige Handelszentren gewesen, darunter Kopparsvik und Slite auf Gotland und Sigtuna und Birka auf dem Festland.
„Sicher erscheint zumindest, dass die Feilungen, zumeist auf den Schneidezähnen des Oberkiefers, unter Oberlippe und Bart nur sehr eingeschränkt sichtbar waren, selbst wenn man sie mit einer dunklen Paste beispielsweise aus Ruß einfärbte“, erzählt Toplak. Der Träger musste seine bearbeiteten Zähne demnach ganz bewusst zeigen: Dieser Umstand spreche also für ihren Einsatz als Initiationsritus und konspiratives Erkennungszeichen eines geschlossenen Verbunds und gegen die Funktion als modischer oder ästhetischer Körperschmuck. Die absolute Mehrheit der Zahnfeilungen sei zudem bisher aus Männergräbern bekannt, die keinerlei Hinweise auf eine Kriegeridentität des Toten aufweisen, berichtet Toplak.
Das Wikingergrab und seine Geschichte
Das Gräberfeld von Kopparsvik aus der Spätwikingerzeit lag an der Westküste von Gotland, wenige hundert Meter südlich der mittelalterlichen Stadtmauer von Visby. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fand man bei der industriellen Erschließung des Geländes Skelettteile und Schmuck, aber erst in den 1960er Jahren wurde der Bereich großflächig untersucht und ein Gräberfeld mit über 300 Bestattungen ausgegraben. Obwohl bereits damals deutlich wurde, dass sich viele der Bestattungen deutlich von dem unterschieden, was auf den übrigen Gräberfeldern Gotlands zu Tage kam, dauert es mehrere Jahrzehnte, bis das Fundmaterial in den Archiven wiederentdeckt und aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde.
Mit über 330 ausgegrabenen von ursprünglich schätzungsweise 400 bis 450 Gräbern, die teilweise durch die industrielle Nutzung des Geländes zerstört wurden oder mutmaßlich noch unentdeckt im Umfeld des Industriegebietes ruhen, war Kopparsvik das größte wikingerzeitliche Gräberfeld Gotlands. Erste Bestattungen können an den Übergang vom 9. zum 10. Jahrhunderts. datiert werden, der Großteil der Gräber wurde im Laufe des 10. bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts. angelegt.
Die zweite prägende Entdeckung wurde erst in den letzten Jahren von der schwedischen Anthropologin Caroline Arcini gemacht: Über drei Dutzend der bestatteten Männer wiesen an den Schneidezähnen horizontal eingefeilte Riefen auf. Zahnfeilungen sind in vielen Kulturkreisen eine übliche Form von Initiationsriten, aus der skandinavischen Wikingerzeit wie generell aus Europa waren jedoch lange keine vergleichbaren Fälle bekannt. Erst in den letzten Jahren werden immer mehr Fälle dieser Modifikationen zumeist im östlichen Skandinavien – Birka, Sigtuna, Gotland, Öland und Südschweden – entdeckt, der Großteil der etwa 100 bekannte Individuen stammt von Kopparsvik.
Erste Zeitungsartikel und Fernsehdokumentationen deuteten die Zahnfeilungen als Ausdruck einer kriegerischen Elite, die sich durch diese Form der Modifikation ein besonders grimmiges Aussehen geben wollte. Obwohl diese These dem populären Bild des wilden Wikingerkriegers entspricht, weisen die Fakten in eine andere Richtung. Bis auf einzelne Ausnahmen, wie den enthaupteten Mann in dem bekannten Massengrab von Weymouth in England, gab es bei keinem der Männer mit Zahnfeilungen Hinweise auf eine Kriegertätigkeit. Kaum einer war mit Waffen bestattet worden und nur einzelne hatten verheilte oder tödliche Verletzungen der Knochen, die auf eine Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen schließen ließen.
Die Mehrheit dieser Männer war allerdings an wichtigen damaligen Handelsplätzen bestattet worden. Wahrscheinlicher ist daher, dass es sich bei den Zahnfeilungen um einen Initiationsritus und ein Identifikationsmerkmal eines geschlossenen Händlerverbundes ähnlich späterer Gilden handelte. Dieser Theorie folgend könnten sich Angehörige dieses Verbundes durch die Zahnfeilungen ausweisen und erhielten möglicherweise Handelsvorteile, Schutz oder andere Privilegien, die im Hochmittelalter maßgeblich für den Erfolg des Konzeptes von festen Handelsgilden wurden.
Quelle der Informationen ist der Blog von Dr. Matthias Toplak, Direktor des Wikinger Museums Haithabu in Busdorf bei Schleswig.
Die vermutlich extremste Form von Körpermodifikationen in der Wikingerzeit waren jedoch die sogenannten Turmschädel. Eine Besonderheit, die Toplak zufolge über ein Jahrhundert weitestgehend ignoriert wurde: Auf drei weit voneinander entfernt liegenden Gräberfeldern auf der schwedischen Insel Gotland waren drei erwachsene Frauen mit typisch gotländischer Tracht bestattet worden, deren Köpfe zu Turmschädeln deformiert waren. Dabei wurden zumeist durch eine zirkulär um den Kopf umlaufende Bandagierung die elastischen Schädelknochen von kleinen Kindern in den ersten ein bis zwei Lebensjahren so gepresst, dass der Kopf eine langgezogene, eiförmige Form erhielt. Die Schädeldeformierungen waren wahrscheinlich ein modisches Statussymbol oder dienten der Präsentation einer bestimmten Identität.
Das vertraute Bild der Wikinger muss revidiert werden
Trotz ihrer Lage zwischen anderen Wikingergräbern waren die drei Frauen von Gotland lange Zeit in das 6. Jahrhundert datiert und für merowingerzeitliche Langobardinnen gehalten worden – entsprechend der damaligen Forschungsmeinung, wonach die Sitte der Turmschädel in Europa mit dem Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter endete. Toplak: „Eine genauere Untersuchung dieser Gräber und der Trachtbeigaben – bei zwei Bestattungen bestehend aus reichen Fibel- und Schmuckgarnituren – und dem Kontext der Gräberfelder zeigt jedoch eindeutig, dass alle drei Gräber in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts angelegt worden sein müssen.“
Wie diese in Skandinavien ansonsten völlig unbekannte Sitte nach Gotland gelangte, sei noch völlig ungeklärt. Vielleicht hatten die drei Frauen die ersten Lebensjahre als Kinder gotländischer Händler in Südosteuropa verlebt oder wurden dort sogar geboren? „Enge Handelsverbindungen zwischen Skandinavien und besonders Gotland in die osteuropäischen Gebiete und bis hinunter in das Schwarze und das Kaspische Meer sind für die Wikingerzeit durch archäologische Funde wie auch historische Quellen gut belegt“, betont Toplak.
„Veränderungen am Körper zur Zurschaustellung der Identität beziehungsweise als Schmuck waren somit vereinzelt auch in der Wikingerzeit üblich“, resümiert Toplak. Die mit der Vorstellung des wilden Wikingerkriegers assoziierten Tätowierungen seien zwar wahrscheinlich, könnten aber nicht zweifelsfrei belegt werden: „Stattdessen lassen sich mit Zahnfeilungen und Schädeldeformationen zwei unerwartete Formen von Körpermodifikationen nachweisen, die neues Licht auf das altbekannte und vertraute Bild der Wikingerzeit werfen.“
Toplak, M. S. and Kerk, L.: (2024) „Body Modification on Viking Age Gotland: Filed Teeth and Artificially Modified Skulls as Embodiment of Social Identities”, Current Swedish Archaeology, 31, pp. 79-111. doi: 10.37718/CSA.2023.09