Gangränöse Stomatitis

Noma – die vermeidbare Nekrose

Gangränöse Stomatitis (Noma) ist eine schwere bakterielle Infektion, die als Gingivitis beginnt. Innerhalb von nur wenigen Tagen nekrotisiert sie Weich- und Hartgewebe im Gesicht. Betroffen sind vor allem Kinder unter sieben Jahren. Jährlich erkranken rund 140.000 – der überwiegende Teil stirbt innerhalb der ersten 14 Tage, nachdem die ersten Symptomen aufgetreten sind. Dabei wäre die Krankheit einfach zu behandeln – und zu vermeiden.

Die größten Risikofaktoren sind mangelnde Mundhygiene und ein durch Mangelernährung oder Vorerkrankungen geschwächtes Immunsystem, schreibt die Hilfsorga­nisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF). Obwohl Erkrankte durch eine grundlegende Zahnpflege, Antibiotika und eine Wundbehandlung innerhalb weniger Wochen vollständig genesen könnten, sterben aktuell nach wie vor rund 90 Prozent von ihnen.

Die Gründe: In den betroffenen Bevölkerungsgruppen ist oft zu wenig über die Krankheit bekannt, Antibiotika sind nicht überall verfügbar und Forschung zu Noma findet aufgrund der mangelnden wirtschaftlichen Bedeutung für die Pharmaindustrie so gut wie nicht statt. Auch im öffentlichen Diskurs spielt die Erkrankung keine große Rolle, weshalb die Initiative Nachrichtenaufklärung Noma als eine der zehn „vergessenen Nachrichten des Jahres 2024“ kürte.

Eine der zehn vergessenen Nachrichten des Jahres 2024

Im Dezember 2023 wurde Noma nach jahrelangen Bemühungen in die Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten (neglected tropical diseases, NTDs) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen. Die Hoffnung ist, dass die Erkrankung damit die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient, und dass mehr finanzielle Mittel in die Erforschung der Krankheit fließen.

MSF behandelt an Noma erkrankte Menschen im akuten Zustand stationär und ambulant mit Antibiotika, leistet eine Wundversorgung sowie eine Flüssigkeits- und Nahrungsmitteltherapie. Ungleich aufwendiger als die Vermeidung oder die frühzeitige Behandlung sind die rekonstruktiven chirurgischen Operationen, die die Funktionalitäten des Gesichts wiederherstellen und eine angemessene Lebensqualität der Patienten gewährleisten sollen. Da die Wunden jedoch meist komplex sind und sich mit dem Wachstum der Kinder verändern können, müssen viele Betroffene zehn Jahre und mehr warten, bevor sie überhaupt operiert werden können.

Überlebende helfen Erkrankten

Aufmerksamkeit erhielt die Krankheit Anfang Mai, als Fidel Strub and Mulikat Okanlawon wegen ihrer Sensibilisierung für Noma vom TIME Magazin unter die weltweit 100 einflussreichsten Menschen im Gesundheitswesen 2024 gewählt wurden. Die beiden sind zwei der sehr seltenen Noma-Überlebenden und gleichzeitig Mitbegründer von Elysium. Die Überlebendenorganisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, Überlebende zu unterstützen und mit deren Hilfe eine Förderung der Mundgesundheit und frühzeitige Noma-Prävention und -Behandlung zu propagieren. Dieser integrative Ansatz sei notwendig, um zur Ausrottung von Noma beizutragen, teilt Elysium mit, da es immer noch zu wenig Wissen über Ausprägungen und Diagnosemöglichkeiten gebe, „obwohl die Krankheit seit der Antike bekannt ist".

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Mulikat Okolanwon musste in den 20 Jahren seit ihrer Erkrankung fünfmal operiert werden. Heute arbeitet sie in Sokoto, Nigeria, im Bereich Gesundheitsförderung und psychische Gesundheit. Sie will Betroffene und deren Familien unterstützen und als Vorbild dienen, dass auch Noma-Überlebende aktiver Teil der Gesellschaft sein können.

Die letzten Prävalenzdaten sind 25 Jahre alt

Laut WHO können auch immun­geschwächte Erwachsene aufgrund von HIV, Leukämie und anderen Krankheiten an Noma erkranken. Die Gangränöse Stomatitis tritt haupt­sächlich in Afrika südlich der Sahara auf, obwohl auch Fälle in Lateinamerika, Asien und anderen Regionen gemeldet wurden. Die letzten verfügbaren globalen Inzidenz- (140.000), Prävalenz- (770.000) und Sterblichkeitszahlen (90 Prozent) stammen dem Jahr 1998. Das bedeutet laut WHO, „dass das wahre Ausmaß der Belastung und die Quantifizierung der Noma-Überlebenden weitgehend unbekannt sind“. Jüngste Erkenntnisse wiesen darauf hin, dass die gemeldete Noma-Sterblichkeitsrate heute weniger als 90 Prozent betragen und durch eine frühzeitige Behandlung stark reduziert werden könnte. Seit Anfang der 2000er-Jahre wurde in der wissenschaftlichen Literatur über 13.000 Fälle von Noma berichtet.

Laut WHO gibt es Hinweise darauf, dass die Erreger von Noma unspezifische polymikrobielle Organismen sind. Noma gilt als opportunistische und nicht ansteckende Krankheit: Es gibt keine dokumentierten Beweise für eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch.

Noma wird anhand klinischer Kriterien diagnostiziert, die sich je nach Progressionsstadium unterscheiden. Derzeit gibt es keinen diagnostischen Test am Point-of-Care. Die WHO klassifiziert fünf klinische Stadien, die bei Noma auf eine einfache Gingivitis folgen:

  • Stadium 1 – akute nekrotisierende Gingivitis

  • Stadium 2 – Ödeme

  • Stadium 3 – Gangrän

  • Stadium 4 – Narbenbildung

  • Stadium 5 – Folgeerscheinungen


Eine frühzeitige Erkennung ist wichtig, da die Therapie in den frühen Stadien der Erkrankung, wenn sie als aggressiv geschwollene Gingiva auftritt, am wirksamsten ist. Die Behandlung umfasst in der Regel die Verschreibung von Antibiotika, Beratung und Unterstützung bei Praktiken zur Verbesserung der Mundhygiene, desinfizierendes Mundwasser (Salzwasser oder Chlor­hexidin können verwendet werden) und Nahrungsergänzungsmittel. Wenn die Behandlung in den frühen Sta­dien der Krankheit diagnostiziert wird, kann sie zu einer ordnungsgemäßen Wundheilung ohne langfristige Folgen führen.

1867 führten die Niederlande eine Statistik zu Noma-Todesfällen ein

Die Verwendung des Wortes Noma lässt sich bis Hippokrates (460–377 v. Chr.) zurückverfolgen. Ob es sich bei den von ihm beschriebenen „bösartigen Geschwüren“ tatsächlich um gangränöse Stomatitis gehandelt hat, ist jedoch offen. Die inhaltliche Bedeutung des aus dem Griechischen stammenden Wortes vοn („verschlingen“ oder „weiden“) könne sich auf alle denkbaren pathologischen Prozesse im Gesichts- und Mundbereich wie Stomatitis ulcerosa, Skorbut oder Syphilis beziehen, argumentieren diverse Autoren. Ab dem 17. Jahrhundert mehren sich medizinische Fallbeschreibungen, die eine Gangrän von Wangen, Lippen und Nase erwähnen, Noma wird aufgrund ihres überaus zerstörerischen Charakters aber lange Zeit für ein Krebsgeschwür gehalten. Erst im 19. Jahrhundert finden sich zunehmend Autoren, die die onkogene Ursache von Noma anzweifeln.

Um 1867 führten die Niederlande als erstes Land in Europa eine Statistik über die Todesfälle durch Noma ein. Bis 1874 listet diese 207 Fälle auf. Dann verschwindet die Erkrankung aus der Statistik – zu einer Zeit, als die in Europa vorherrschenden Epidemien, vor allem das massive, wiederholte Auftreten von Cholera, Typhus und Masern, sowie die zum Teil katastrophalen hygienischen Zustände und Mangel­ernährung ein Auftreten der Erkrankung nach heutigem Wissen stark begünstigt haben müssten. Bis 1900 werden jedoch nur 46 Fälle dokumentiert, zehn in den Städten München, Leipzig, Göttingen, Jena und Wien und 36 in St. Petersburg. Im gesamten Deutschen Reich der historisch-politischen Grenzen von 1914 bis 1945 einschließlich Ostpreußen tauchten in der Todesursachenstatistik einzig 1932 Noma-Sterbefälle (98) auf. In den darauffolgenden Jahren ist die Erkrankung dann wieder vollständig aus der deutschen Sterbestatistik verschwunden.

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kommt es sowohl bei Wehrmachtssoldaten an der Ostfront als auch in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen zu Noma-Fällen in heute nicht rekonstruierbarem Ausmaß. Der SS-Arzt und Kriegsverbrecher Josef Mengele beginnt daraufhin mit menschenverachtenden Medizinverbrechen an schätzungsweise 3.000 eigens für diesen Zweck ausgewählten Kindern und Erwachsenen. Die Tests zeigen, dass bei Noma-Patienten im fortgeschrittenen Gangränstadium durch eine Ernährungsumstellung auf vollwertige Kost sowie eine medizinische Behandlung mit Sulfonamid und Nicotinsäureamid eine Besserung eintritt, ein Aussetzen dieser beiden Interventionen aber zu einem Krankheitsrückfall führt. Die Injektion von Sekreten wiederum, die aus dem gangränösen Wundbereich von Noma-Patienten gewonnen wurden, löst auch bei bis dahin Gesunden großflächige Nekrosen aus.*

Den besten Überblick zum weltweiten Krankheitsgeschehen von 1950 bis 2019 liefert eine 2022 erschienene Meta­studie [Anaïs Galli et al.], die auf Basis von 283 ausgewerteten Untersuchungen über Fälle in insgesamt 88 Ländern berichtet. Für den Zeitraum von 2010 bis 2019 waren es Fälle in 23 Ländern – Afghanistan, Benin, Burkina Faso, China, Kamerun, Tschad, Äthiopien, Ghana, Guinea-Bissau, Indien, Indonesien, Italien, Kamerun, Kenia, Madagaskar, Mali, Niger, Nigeria, Pakistan, Senegal, Südafrika, Südkorea, Togo und Uganda.

*Anmerkung der Redaktion: Der Absatz zu SS-Lagerarzt Josef Mengele wurde nach diesbezüglichen Leserzuschriften zur Verdeutlichung um den Hinweis ergänzt, dass es sich bei Mengele um einen Kriegsverbrecher und bei seinen Experimenten um menschenverachtende Medizinverbrechen gehandelt hat. Das Auftreten der Erkrankung sowie die folgenden Experimente in deutschen Konzentrationslagern sollten als Teil der Geschichte von Noma in Europa jedoch nicht unerwähnt bleiben.

Sobald Noma jedoch das brandige Stadium der Krankheit mit einem sichtbaren Loch im Gesicht erreicht, ist es wahrscheinlich, dass Kinder, sofern sie überleben, schwere Gesichtsentstellungen erleiden, Schwierigkeiten beim Essen und Sprechen haben, mit sozialer Stigmatisierung und Isolation konfrontiert sind und eine rekonstruktive Operation benötigen, erklärt die WHO. Ihr Programm zur Bekämpfung von Noma aus dem Jahr 1994 ist dem WHO-Programm für Mundgesundheit unterstellt, das die globalen und regionalen Bemühungen zur Kontrolle der Erkrankung koordiniert. Ziel ist, die Kapazitäten von Gesundheitspersonal, sozialen Akteuren und Gemeinschaften zur Prävention, sofortigen Erkennung und Behandlung von Noma-Fällen zu stärken.

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