Nationaler Gesundheitsdienst in GB

Gelingt unter Labour die Sanierung des NHS?

13 Millionen Menschen in Großbritannien haben aktuell Schwierigkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten, ergab Mitte Juli eine Umfrage. „Our NHS is broken“ (Unser NHS ist kaputt), bilanzierte eine Woche zuvor auch der neue Gesundheitsminister Wes Streeting bei einem Auftaktgespräch mit Vertretern der British Dental Association (BDA). Die wagte einen Blick nach vorn – und zeigte sich „cautiously optimistic“ (vorsichtig optimistisch) angesichts der Wahlkampfversprechen der Labour-Partei.

An den Bemühungen der Regierung des Ex-Premierministers Rishi Sunak, den desolaten NHS zu sanieren, lässt die BDA rückblickend kein gutes Haar: Es gebe „herzlich wenig Anzeichen“ dafür, dass sich die Situation durch die „marginalen Änderungen“ der letzten Regierung verbessert hat, schreibt sie und untermauert dies mit Zahlen aus der Umfrage „GP Patient Survey 2024“ des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos.

Danach stieg die Zahl der unterversorgten Patienten seit 2023 um eine auf 13 Millionen und vervierfachte sich gegenüber der Situation vor der Corona-Pandemie. Damals hatten 4 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich selbstberichtete Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer Versorgung.

Briten verlieren den Glauben an den NHS

„The NHS: Is it still there for us when we need it?“ Zwischen 2008 und 2024 sank der Anteil der Briten, die dieser Ansicht zustimmen, von 82 auf 66 Prozent. Jeder fünfte Brite glaubt heute, dass der NHS nicht für ihn da sein wird, wenn er ihn braucht – 2008 vertraten nur 9 Prozent diese Ansicht. Dagegen sind 18 Prozent der Meinung, dass sie sich auf den NHS verlassen können.

Dabei fragten die Forschenden auch nach den Erfahrungen, die die Briten mit ihrem Gesundheitswesen gemacht haben. Die Hälfte der Bevölkerung gab an, dass sie im vergangenen Jahr trotz gesundheitlicher Probleme keinen Hausarzt des NHS aufgesucht hat. Sie dachten etwa, sie würden telefonisch eh nicht bei der Praxis durchkommen, die Wartelisten seien zu lang oder sie glaubten, der NHS biete ihnen keine gute Versorgung.

Etwa zwei Drittel der Befragten meinten, dass sie stattdessen Hilfe oder Rat aus anderen Quellen gesucht haben, darunter aus dem Internet, von Apothekern oder von Freunden und Familie. Frauen (54 Prozent) gaben häufiger als Männer (45 Prozent) an, dass sie sich trotz Krankheit gegen einen Arztbesuch entschieden haben. Dasselbe gilt für die Altersgruppe 44 Jahre und darunter (59 Prozent), verglichen mit den älteren Altersgruppen (42 Prozent).

Für die repräsentative Stichprobe befragte Ipsos 2.252 Personen im Alter von 16 bis 75 Jahren in ganz Großbritannien. Die Umfrage wurde online zwischen dem 21. und dem 24. Juni 2024 durchgeführt.

Schätzungsweise 5,6 Millionen Erwachsene seien in den vergangenen zwei Jahren daran gescheitert, einen Termin zu bekommen, heißt es weiter. Fast ebenso viele (5,4 Millionen) hätten in diesem Zeitraum schon gar nicht mehr versucht, einen Termin zu vereinbaren, weil ihnen der Glaube fehlte, einen ergattern zu können (Kasten).

Im Wahlkampf wurden mehr Zahnarzttermine versprochen

Etwa 1,25 Millionen finden die zahnärztliche Versorgung nach Angaben der BDA zu teuer, während weitere 780.000 Menschen auf einer Warteliste für einen NHS-Zahnarzt stehen. Shawn Charlwood von der BDA warnte: „Die NHS-Zahnmedizin hat für Millionen in diesem Land effektiv aufgehört zu existieren.“

Anfang dieses Monats traf sich Streeting dann mit den Zahnärztefunktionären, um Gespräche über eine Reform des NHS-Vergütungsvertrags zu beginnen. Dieser war in der Vergangenheit immer wieder für die schwindende Zahl von NHS-Zahnärzten verantwortlich gemacht worden, ein Trend, der in der Folge in Gebieten mit einkommensschwachen Patientengruppen zu krasser Unterversorgung geführt hatte.

Charlwood kommentierte wohlwollend, die neue Regierung habe „alte Probleme geerbt, ist aber glücklicherweise nicht in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin getreten“. Der Branchenverband bewertet es schon als positiv, dass Labour das Problem nicht wegzudiskutieren versucht, sondern klar benennt. Aber ob das reicht?

Während des Wahlkampfs hatte Labour damit um Stimmen geworben, 700.000 zusätzliche Zahnarzttermine pro Jahr schaffen zu wollen, 100.000 davon gezielt für Minderjährige. Dafür stellte die Partei zusätzlich 109 Millionen Pfund pro Jahr in Aussicht.

Klingt toll. Das Problem: Der Lösungsansatz ist nicht neu. Noch im Februar 2024 hatte die Tories-Regierung angekündigt, im Rahmen ihres NHS Dental Recovery Plan ab 2025 bis zu 2,5 Millionen zusätzliche NHS-Zahnarzttermine zu schaffen. Die Konservativen wollten sogar staatliche Mittel in Höhe von 200 Millionen Pfund verwenden, um unter anderem rund eine Million Mal einen Neupatienten-Zuschlag zwischen 15 und 50 Pfund zu zahlen, wenn der Patient nachweislich seit mindestens zwei Jahren keinen NHS-Zahnarzttermin wahrgenommen hatte.

Mit „Golden Hellos“ gegen die Zahnarztwüsten

Ein weiteres Werkzeug, das Labour einsetzen möchte, um aus unterversorgten „Zahnarztwüsten“ Oasen zu machen, sind „Golden Hellos“ genannte Bonuszahlungen. Mit 20.000 Pfund (umgerechnet 23.400 Euro) pro Kopf, ausgezahlt über drei Jahre, sollen Behandelnde überzeugt werden, ebenfalls für den NHS zu arbeiten. Doch auch hier verkauft die Arbeiterpartei alten Wein – in noch nicht einmal neuen Schläuchen.

Die Golden Hellos waren von der Sunak-Regierung im Mai 2024 eingeführt worden (zm berichtete), nicht ohne postwendend einen vernichtenden Kommentar der BDA zu kassieren. Die Maßnahme sei nichts als reine Augenwischerei, kommentierte damals der Vorsitzende Eddie Crouch gegenüber dem Branchendienst dentistry.co.uk. Die Bonuszahlungen für bis zu 240 Zahnärzte werde die Krise der Zahnmedizin im NHS auch nicht lösen. Denn: Eine wachsende Zahl von Zahnärzten sehe den „kaputten NHS-Dienst einfach nicht als einen Ort, an dem sie eine Karriere aufbauen können“.

Weiterer Schmerzpunkt im NHS: stationär und unter Vollnarkose durchgeführte Zahnextraktionen. Diese waren zuletzt der häufigste Hospitalisierungsgrund bei den Fünf- bis Neunjährigen (Kasten). Abhilfe soll nach den Plänen der Labour-Regierung ein überwachtes Zahnputzprogramm für Drei- bis Fünfjährige in den am stärksten benachteiligten Gebieten Großbritanniens schaffen. Dieser bereits Ende 2023 unterbreitete Vorschlag wird von der British Society of Paediatric Dentistry (BSPD) explizit unterstützt. Er sieht vor, dass Kinder, die Schulen und Kindergärten in sozioökonomisch benachteiligten Gebieten besuchen, beaufsichtigtes Zähneputzen und einen Vorrat an Zahnbürsten und Zahnpasta zum Mitnehmen erhalten.

Arme Kinder haben mehr Zahnextraktionen unter Vollnarkose

In einer retrospektiven Kohortenstudie analysierten Forschende die elektronischen Gesundheitsakten von 608.278 Kindern im Alter von 5 bis 16 Jahren. Außerdem flossen in die Auswertung Daten zur Einkommensverteilung nach dem Income Deprivation Affecting Children Index (IDACI) ein, der London in Gebiete mit einer durchschnittlichen Bevölkerung von 1.500 Personen oder 650 Haushalten einteilt und den Anteil der Kinder unter 16 Jahren in Haushalten mit niedrigem Einkommen für diese Gebiete beschreibt. Von Interesse war das Vorhandensein von mindestens einer Zahnextraktion unter Vollnarkose (Dental extraction under general anaesthetic, kurz DGA), die als Indikator für schwere Karies und mangelnden Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung gedeutet wurde.

Ergebnisse: Insgesamt hatten 3.034 von 608.278 Kindern mindestens eine Zahnextraktion unter Vollnarkose, davon 5,5 Prozent mindestens zwei. Dies variierte je nach lokaler Verwaltungsregion, ethnischer Herkunft und Benachteiligung auf Gebietsebene stark. Kinder, die in Gebieten mit dem niedrigsten sozioökonomischen Status lebten, hatten im Mittel eine 3-mal höhere Wahrscheinlichkeit für eine solche DGA als Kinder aus Gebieten mit einem hohen Status. Im Extremfall – Kinder mit niedrigstem Status verglichen mit denen aus dem privilegiertesten Gebiet – vervierfachte sich die Wahrscheinlichkeit.

Nicola Firman, Carol Dezateux, Vanessa Muirhead, „Inequalities in children’s tooth decay requiring dental extraction under general anaesthetic: a longitudinal study using linked electronic health records“, BMJ Public Health Jul 2024, 2 (1) e000622; DOI: 10.1136/bmjph-2023-000622

Immerhin: Dieser Vorschlag geht über die zuletzt kommunizierten Anstrengungen der Vorgängerregierung hinaus. Deren Initiative „Smile4Life“ hatte zwar ähnliche Interventionen wie Sensibilisierungsmaßnahmen für Eltern in sozioökonomisch besonders benachteiligten Gebieten sowie eine Bündelung der bereits bestehenden Aktionen lokaler Behörden und Einrichtungen beinhaltet, aber offenbar (noch) nicht zielgerichtet gewirkt.

Kommt das beaufsichtigte Zähneputzen für Kinder?

Seit mehr als zehn Jahren fordert die BSPD beaufsichtigtes Zähneputzen für Kinder. Es gebe Studiendaten aus Schottland, die zeigen, dass die mit solchen Frühinterventionen erreichten Kinder langfristig kostengünstiger für den NHS sind, argumentiert die Fachgesellschaft. Außerdem könne die Maßnahme den Grundstein für ein „zahnärztliches Zuhause“ legen – also eine kontinuierliche und präventiv ausgerichtete Beziehung zu einem NHS-Zahnarzt. „Wir müssen anerkennen“, schreibt die BSPD weiter, „dass einige Kinder ohne eigenes Verschulden mehr Hilfe brauchen, um den mundgesunden Start ins Leben zu bekommen, den jedes Kind verdient.“

„Einige Kinder benötigen ohne eigenes Verschulden mehr Hilfe, um den Mundgesundheitsstart ins Leben zu bekommen, den jedes Kind verdient.“

British Society of Paediatric Dentistry

Dr. Charlotte Eckhardt, Dekanin der Fakultät für Zahnchirurgie am Royal College of Surgeons of England, begrüßt den stärkeren Fokus auf Prävention, der im Rettungsplan der Labour Party auszumachen ist. Die aktuelle Situation sei beschämend und ein klarer Indikator für die grassierende gesundheitliche Ungleichheit im Land, sagt sie. Die vergleichbar einfach umsetzbare Einrichtung von beaufsichtigtem Zähneputzen in der Schule hält sie für bestens geeignet, um die Mundgesundheit von Kindern direkt zu verbessern und indirekt Zahnputzroutinen zu Hause positiv zu beeinflussen.

Darüber hinaus sieht Eckhardt dringenden Bedarf für ein neues Fluoridierungsprogramm, um gesundheitliche Ungleichheiten abzubauen. Die Gebiete mit den niedrigsten Raten an Kinderzahnextraktionen hätten Wasserfluoridierungsprogramme, argumentiert sie und zitierte aus einem Bericht des britischen Gesundheitsministeriums aus dem März 2022.

Helfen würde auch ein neues Wasserfluoridierungskonzept

Danach könnte durch eine Fluoridierung von 0,7 Milligramm pro Liter die Karieslast in wohlhabenden Gegenden um 17 Prozent und in den am stärksten benachteiligten Gebieten um 28 Prozent gesenkt werden. Die Zahl der kariesbedingten Hospitalisierungen würde den Berechnungen zufolge gleichzeitig um 45 bis 68 Prozent zurückgehen.

Bis jetzt hat Labour-Gesundheitsminister Streeting das Thema nicht aufgegriffen. Einen besonderen Bezug zur Ungleichheit der Gesundheitsversorgung in Großbritannien hat er indes. Der 41-Jährige ist nach eigenen Angaben selbst in einem benachteiligten Gebiet Ost-Londons in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen.

Literaturliste

  • Gray-Burrows K A, Day P F, El-Yousfi S, Lloyd E, Hudson K, Marshman Z. A national survey of supervised toothbrushing programmes in England. Br Dent J 2023; doi: 10.1038/s41415-023-6182-1.

  • BSPD and FDS welcome supervised toothbrushing plan. Br Dent J 235, 671 (2023). doi.org/10.1038/s41415-023-6491-4

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