Maẞnahmen für eine bessere Versorgung auf dem Land

Was wir von Finnland lernen können

Die medizinische Versorgung auf dem Land droht in manchen Regionen Deutschlands immer schwieriger zu werden. Stichworte sind der demografische Wandel oder der Ärzte- und Fachkräftemangel. Ein Blick nach Finnland zeigt, welche Modelle unter ähnlichen Herausforderungen greifen können, um die Probleme im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen. Die Finnen setzen auf regionale Einheiten mit größeren Handlungsspielräumen, Teamarbeit und eine digitale Vernetzung.

Finnland hat viel Erfahrung darin, eine medizinische Versorgung in der Fläche zu organisieren. Das geht jedenfalls aus einem neuen Whitepaper hervor, das die SBK Siemens-Betriebskrankenkasse vor Kurzem veröffentlicht hat. Das Papier wurde zudem Mitte Juni in einem Online-Fachgespräch des Autorenteams Franziska Beckebans, Leiterin Versorgung der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), und dem in Finnland lebenden freien Journalisten und Autor Sven Preusker weiter vertieft.

Lange Wege zum Facharzt, Landarztpraxen ohne Nachfolge, Fachkräftemangel, kleinere Krankenhäuser an der Belastungsgrenze und der fortschreitende demografische Wandel führen in Deutschland oftmals zu Versorgungsproblemen im Gesundheitswesen. Wie Gesundheitsversorgung in strukturschwachen Regionen funktionieren kann, zeigt das Whitepaper am Beispiel von Finnland. Dort leben auf einer Fläche annähernd so groß wie Deutschland gerade einmal 5,5 Millionen Menschen.

SOTE – die Gesundheitsreform in Finnland

Die umfangreiche finnische Sozial- und Gesundheitsreform (SOTE) wurde – nach jahrelangen Vorarbeiten – zum 1. Januar 2023 umgesetzt. Ziel ist die Stärkung der finanziellen Basis der Versorgung, gleiche Zugangsmöglichkeiten für alle und die Reduzierung von Ungleichheiten. Gesundheitszentren sind die Hautanbieter für die Primärversorgung. Zentrale Aufgaben sind die Basis-Versorgung von akuten und chronisch erkrankten Patienten, Gesundheitsberatung, Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen und die zahnärztliche Versorgung. Die Zentren bieten Sprechstunden von Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten, Zahnärztinnen und Zahnärzten, Zahnhygienikern und Physiotherapeuten. An größeren Standorten ist eine zusätzliche Diagnostik (zum Beispiel Röntgen) möglich.

Patientinnen und Patienten haben mehrere Möglichkeiten des Zugangs zur Versorgung: Bei akuten Problemen erfolgt eine telefonische Konsultation des Gesundheitszentrums. Geschulte Krankenpflegekräfte nehmen sofort eine Einschätzung vor, ob und wann ein Besuch im Zentrum notwendig ist, bei Bedarf kann ein Arzt noch während des Erstkontakts konsultiert werden. Bei nicht-akuten Problemen wird ein Fragebogen im Internet ausgefüllt, der Basis für die weitere Diagnostik und die Terminvergabe ist. Auch der direkte Gang vor Ort zum Zentrum ist möglich, dann erfolgen dort eine Einschätzung durch die Krankenpflegekräfte.

Für Notfälle – auch nachts, an Wochenenden und Feiertagen – gibt es gemeinschaftliche Notdiensteinrichtungen der Grund- und Spezialversorgung. Außerdem existiert eine 24-Stunden-Bereitschaft an größeren Zentren. Es gibt eine landesweite Beratungs-Telefonnummer 116117 und eine landesweite Notrufnummer 112.

Eine staatliche Online-Plattform für medizinische Versorgung (Kanta) beinhaltet unter anderem eine ePA, in der beispielsweise Diagnosen und Rezepte, aber auch Entscheidungen zur Organspende hinterlegt und teilweise angefordert werden können. Inzwischen sind nahezu alle erhobenen gesundheitsbezogenen Daten digitalisiert. Nach persönlicher Identifizierung können Nutzerinnen und Nutzer auf ihren personalisierten Patientenbereich (My Kanta Pages) zugreifen.

Gesundheitszentren sichern die Grundversorgung

130 Gesundheitszentren mit insgesamt 510 Standorten bilden die erste Anlaufstelle für alle Patientinnen und Patienten, um die Grundversorgung von akuten Fällen bis hin zu chronisch Kranken sicherzustellen. Unterschiedliche medizinische Fachkräfte arbeiten in den Zentren unter einem Dach. dort sind auch Ärztinnen und Ärzte angestellt. Diese können parallel dazu privatärztlich tätig sein. In den Zentren kommt den Pflegefachkräften als „Gatekeeper“ eine Schlüsselrolle zu. Sie entscheiden in einer Art Triage über das weitere Vorgehen – etwa ob eine ärztliche Untersuchung oder ärztlicher Rat notwendig ist.

Die Ausbildung der Pflegefachkräfte (Nurses) erfolgt ausschließlich an (technischen) Universitäten, dauert dreieinhalb Jahre und umfasst 210 ECTS-Punkte (ECTS = European Credit Transfer and Accumulation System). Ziel ist die selbstständige Berufsausübung im Bereich Pflege. Darauf aufbauend kann eine Weiterbildung zum Gesundheitspfleger mit Fokus Public Health erfolgen (sechs Monate, 30 ECTS-Punkte) – das sind dann die „Gatekeeper“ in den Zentren. Mit einer zusätzlichen Weiterbildung (45 ECTS-Punkte) erwirbt man die Befähigung, bestimmte Medikamente selbstständig zu verordnen und bestimmte Verordnungen von Ärzten zu verlängern. „Nurse Practitioners“ oder „Physician Assistants“ üben also in Finnland erweiterte Tätigkeiten aus, die dort früher Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren.

Zahnärztliche Versorgung

Nur zahnärztliche Notfälle oder Sozialfälle laufen in Finnland über das staatliche System, berichtet der Autor des Whitepapers, Sven Preusker, gegenüber den zm. Dafür zuständig seien Zahnkliniken, die an Krankenhäusern oder Notaufnahmen angesiedelt sind. Man könne dort auch Termine machen – allerdings mit sehr langen Wartezeiten. Für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr sei die Zahnbehandlung im öffentlichen System kostenfrei (auch Kieferorthopädie), berichtet Preusker weiter. Reguläre Check-ups würden in der ersten, in der fünften und in der achten Klasse stattfinden, die Gemeinde, wo die Schule besucht wird, lade dazu ein. Auch bei den regulären schulärztlichen Untersuchungen werde auf Mundgesundheit eingegangen. Die meisten Behandlungen erfolgen laut Preusker aber privat. Die staatliche Sozialversicherung Kela zahlt dabei einen (kleinen) Anteil der Rechnung.

Weitere Informationen sind etwa auf der Webseite www.infofinland.fi/en/health/dental-care zu finden. Wer keine dringende Behandlung benötigt, muss demnach mehrere Monate warten. Spätestens innerhalb von vier Monaten muss ein Zugang zur medizinischen Versorgung erfolgen. Wer einen Termin vereinbaren möchte, ruft den örtlichen Mundgesundheitsnotdienst an und es wird schnell geholfen. Abends und am Wochenende ist die Notfallversorgung in größeren Einheiten zentralisiert. Wer auf dem Land lebt, muss möglicherweise in die nächste Stadt reisen, um versorgt zu werden. Wer eine anspruchsvollere Behandlung benötigt, erhält eine Überweisung zur weiteren Behandlung. Wer seinen Termin nicht storniert hat, bekommt eine Gebühr ohne Anwesenheit berechnet.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland: Es gibt keine freie Arztwahl und beim Besuch eines Gesundheitszentrums ist eine finanzielle Beteiligung fällig. Ambulante Behandlungen und die Pflege zu Hause sind in Finnland die Regel, stationäre Behandlungen hingegen die Ausnahme. Chronisch Erkrankte und ältere Pflegebedürftige werden zu Hause von mobilen Teams versorgt, die von den zuständigen Gesundheitszentren gesteuert werden. Insgesamt setzt Finnland sehr stark darauf, dass die Einwohnerinnen und Einwohner selbst Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Gesundheitskompetenz wird bereits in der Schule gelehrt. Arbeitgeber sind verpflichtet, ein betriebliches Gesundheitsmanagement anzubieten.

Und im Gegensatz zu Deutschland gibt es im finnischen Gesundheitswesen eine konsequente Digitalisierung, wie im Whitepaper ausgeführt wird. Die elektronische Patientenakte (ePA) ist seit mehr als 20 Jahren ein zentrales Werkzeug, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Opt-out ist grundsätzlich möglich, wird aber selten genutzt. Seit 2008 lassen sich Rezepte für verschreibungspflichtige Medikamente digital ausstellen, Verordnungen können in jeder Apotheke abgeholt werden (inzwischen auch in weiteren Ländern wie Estland und Schweden). Alle Akteurinnen und Akteure im Gesundheitswesen, auch private Anbieter, sind verpflichtet, die ePA zu nutzen. Die Bürgerinnen und Bürger können so zu jeder Zeit alle über sie gespeicherten Daten einsehen.

Dänemark und Groẞbritannien

Die SBK Siemens Betriebskrankenkasse hat bisher Whitepaper zu zwei weiteren Ländern veröffentlicht: zu Dänemark und zu Großbritannien.

Dänemark: Fokussiert wird hier die Rolle der Digitalisierung und der elektronischen Patientenakte (ePA). 1999 hatte Dänemark die erste landesweite E-Health-Strategie verabschiedet, 2003 wurde das staatliche Gesundheitsportal sundhed.dk eingeführt. Dort finden Bürgerinnen und Bürger ebenso wie medizinisches Fachpersonal relevante Informationen rund um die Gesundheit und das Gesundheitswesen. Die digitale Gesundheitsakte war von Anfang an ein integraler Bestandteil der Gesamtstrategie.

Das „Sundhedsjournalen“ stellt seit 2012 Testergebnisse, Überweisungen, Arztbriefe und weitere medizinische Informationen digital bereit. Auch Kinder haben eine ePA, die Verwaltung übernehmen die Eltern, Ärzte können aktuelle Medikationen einsehen. Auch Angehörige können Zugriff auf die Akte eines Patienten erhalten. Alle Einwohnerinnen und Einwohner erhalten gleich nach der Geburt die sogenannte CPR-Nummer. Diese Identifikations- und Referenznummer wird übergreifend für alle Behörden verwendet, nicht nur im Gesundheitssektor. Funktionen wie das elektronische Rezept sind integriert. Seit 2004 sind Ärztinnen und Ärzte aus der Primärversorgung verpflichtet, ein IT-System für die Verwaltung elektronischer Patientenakten zu verwenden. Die Hausärzte sind über klinische Nachrichtensysteme mit Fachärzten, Apotheken, Laboren und Krankenhäusern verbunden. Die Steuerung der digitalen Angebote erfolgt von staatlicher Stelle.

Großbritannien: Hier greift das Whitepaper das Thema Datenschutz heraus. In Arbeit ist demnach eine einheitliche Cybersicherheitsstrategie, die ab 2030 alle Sektoren der Gesundheitsversorgung erfassen soll. Hackerangriffe sind für britische Institutionen oft ein Problem, zum Beispiel griffen Kriminelle im Sommer 2023 das IT-System des Bart Health NHS Trusts an, eines Krankenhausbetreibers in London mit über 2,5 Millionen Patientinnen und Patienten. Gefordert wurde ein Lösegeld, die Hacker hatten 70 Terabyte an sensiblen Daten an sich gebracht. Als Konsequenz hat jetzt das NHS Cyber Security Operations Centre (NHS CSOC) die Aufgabe, den Akteuren im Gesundheitswesen in Echtzeit Schutz vor verdächtigen Aktivitäten zu bieten und Maßnahmen für das Cybersicherheitsmanagement zu definieren.

In Großbritannien gibt es auch die ePA. Die Versicherten können eigenständig entscheiden, welche Daten sie teilen wollen und mit wem. Hausarztpraxen und medizinische Fachkräfte können bei Einwilligung auf Basisinformationen wie Allergien und Medikamente zugreifen. Wer will, kann auch sensiblere Informationen wie die medizinische Vorgeschichte oder Gründe für die Einnahme bestimmter Medikamente speichern. Jeder kann selbst entscheiden, ob er einer Datenfreigabe zu Forschungs- und Planungszwecken zustimmt. Es gibt ebenfalls die Option, sich komplett gegen eine Freigabe seiner persönlichen Gesundheitsdaten auszusprechen – das wird jedoch sanktioniert. Man kann dann weder den elektronischen Rezeptdienst noch die elektronische Überweisung nutzen.

Preusker benennt aber auch Probleme, mit denen das finnische Gesundheitssystem zu kämpfen hat: So gebe es etwa Personalmangel, einen steigenden Kostendruck und Bestrebungen, diese zu senken. Auch der Zugang zur Versorgung sei manchmal problematisch. Zudem nähmen seelische Erkrankungen zu, bei langen Wartezeiten und fehlenden Therapiemöglichkeiten.

Vier Ansätze, die für Deutschland interessant sein könnten

Das Whitepaper stellt vier Ansätze des finnischen Gesundheitswesens heraus, die Deutschland nach Ansicht des Autorenteams adaptieren könnte:

1. Regionale Strukturen stärken
Empfohlen wird, regionale Initiativen zu fördern und den (vertraglichen) Handlungsspielraum für die Beteiligten vor Ort zu erweitern. Regionale Versorgungskonzepte sollten bestehende Strukturen und Angebote miteinander vernetzen.

2. Arztunterstützende Berufe ermächtigen
Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels müsse diskutiert werden, welche Aufgaben zum Beispiel Pflegekräfte künftig selbstständig übernehmen können. Auch neue Berufsbilder wie Community Nurses oder Physician Assistants könnten die Versorgung entlasten. Die Autoren räumen allerdings ein, dass die Ärzteschaft in Deutschland auf solche Vorschläge bisher verhalten reagiert habe.

3. Digital vernetzen
Eine gelebte „ePA für alle“ erleichtert nach Auffassung des Autorenteams die interdisziplinäre Zusammenarbeit und sorgt für Transparenz in der Behandlung. In Deutschland müssten bürokratische Hürden abgebaut werden. Telemedizin sollte kein zusätzliches Angebot darstellen, sondern müsse Hausbesuche oder Konsultationen vor Ort ersetzen.

4. Gesundheitskompetenz stärken
Prävention und Gesundheitskompetenz seien eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, schreiben die Autoren. Sie gehörten in den schulischen Lehrplan und müssten auch danach durch passgenaue Angebote immer wieder adressiert werden – egal ob in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz.

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