Zähne & Kultur

Rituelle Zahnfeilungen gegen
ein lasterhaftes Leben

Michael Sachs
Rund um die Welt existieren unterschiedlichste Sitten und Gebräuche, in deren Rahmen Zähne rituell und ohne medizinische Notwendigkeit bearbeitet werden. Dabei reicht das Spektrum von kleinen Schmuckmodifikationen bis hin zu hochinvasiven Verstümmelungen oder gar Extraktionen. Auf der Insel Bali dienen die Zahnfeilungen bei Jugendlichen unter anderem als Mittel gegen die nach dem dortigen Glauben sechs Hauptlaster des Menschen.

Die rituelle Bearbeitung (Feilung oder Entfernung) von Zähnen war noch im 19. Jahrhundert auf fast allen Kontinenten bei zahlreichen Ethnien verbreitet (Abbildung 2): im Amazonasgebiet, in Zentralafrika und in Südostasien (Indonesien, Philippinen, Taiwan, Thailand, Vietnam). Das Hauptverbreitungsgebiet scheint demnach jeweils etwa 20 Grad nördlich beziehungsweise südlich des Äquators zu liegen. Aber auch noch heute wird die Feilung der Schneide- und der Eckzähne des Oberkiefers auf der Insel Bali von den dort wohnenden Angehörigen des balinesischen Hinduismus (agama tirtha = Religion des heiligen Wassers) regelmäßig durchgeführt. Der Autor konnte in den vergangenen Jahren an mehreren dieser religiösen Zeremonien auf Bali teilnehmen. Dargestellt wird die Zeremonie bei einer angesehenen Brahmanenfamilie (oberste Kaste) im Regierungsbezirk Bangli auf Bali.

Auf Bali werden den Jugendlichen beiderlei Geschlechts nach Erreichen der Pubertät und vor der Eheschließung die Schneidekanten der Schneide- und der Eckzähne im Oberkiefer abgeschlagen beziehungsweise abgefeilt. Diese Prozedur wird in der balinesischen Hochsprache (Basa Bali alus) der beiden oberen Kasten „mepandes“ genannt. In der Umgangssprache der unteren Kasten ist der Ausdruck „matatah“ (abgeleitet vom Verb natah = meißeln) oder „masangih“ (abgeleitet vom Verb sangih = feilen) üblich. Da die Zeremonie sehr aufwendig und kostspielig ist, werden oft mehrere Jugendliche beiderlei Geschlechts anlässlich großer Familienfeiern gemeinsam versorgt. Die hier wiedergegebenen Bilder (Abbildungen 1 und 3) stammen von einer nächtlichen Zahnfeilzeremonie wenige Stunden vor der gemeinsamen Weihe (mediksa) eines Hohepriester-Ehepaares (Pedanda Shiva).

Nach Mitternacht, zwei Tage nach Neumond, am Tag der Priesterweihe werden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zunächst in kostbare, gelb- bis goldfarbene Gewänder eingekleidet. Anschließend werden sie von älteren Freunden, die die Zahnfeilung schon hinter sich haben müssen, aus dem Hause getragen und zum Ort der Zahnfeilung gebracht: ein auf vier Pfeilern ruhender, an den Seiten offener Pavillon im Hofe des Gehöfts (bei Brahmanen griya genannt). Nach Gebeten sowie der Bereitstellung und rituellen Reinigung der zahlreichen, aufwendig hergestellten Opfergaben aus Pflanzenbestandteilen (Blüten) und jungen gelben Kokosnüssen (bungkaka Nyuh gading) durch Heiliges Wasser (tirtha) erscheint die die Zahnfeilung durchführende Person. In diesem Fall wird das Ritual durch eine Hohepriesterin (pedanda istri) der Familie geleitet.

Mit Hämmerchen, Meißel
und Metallfeile

Die Priesterin betet zunächst und schreibt die beiden heiligen Silben (ang – ah) auf die beiden Eckzähne. Diese Silben sind das balinesische Symbol für die Polarität der Welt: schwarz-weiß, Feuer-Wasser; gut-böse, Sonne-Mond, Mann-Frau. Anschließend bearbeitet die Hohepriesterin die sechs Oberkieferzähne mit einem Hämmerchen und einem kleinen Meißel (Abbildung 1). Abschließend feilt ein älterer Mann der Familie die Schneide- und die Eckzähne mit einer feinen Metallfeile auf gleiche Höhe (Abbildung 3). Dabei hält ein kleiner Holzwürfel*, der zwischen die rechten Molaren von Ober- und Unterkiefer gesteckt wird, den Mund offen. Schmerzmittel werden bei diesem Vorgang nicht verabreicht. Anschließend wird der Mund der Betroffenen mit dem Fruchtwasser einer jungen, gelben Kokosnuss ausgespült. Die Kokosnuss wird dann mit dem Spülwasser im Hof vergraben.

Was ist der religiöse Sinn dieser Zeremonie? Die balinesischen Hindus glauben, dass eine menschliche Seele nur dann in einem Körper (meist eines Angehörigen derselben Familie) wiedergeboren werden kann, wenn bei diesem zu Lebzeiten eine Zahnfeilung vorgenommen worden war. Außerdem wird durch die Zahnfeilung die Ähnlichkeit der beiden Eckzähne mit dem entsprechenden Hundezahn beseitigt. Auch unseren Vorfahren ist diese Ähnlichkeit aufgefallen, sie haben die beiden Eckzähne deshalb als „Dens caninus“ bezeichnet.

Darüber hinaus gelten in Bali die oberen Eck- und Schneidezähne als Sitz der sechs Hauptlaster (sad-ripu) des Menschen. Die entsprechenden unteren Zähne werden dagegen in ihrer ursprünglichen Form belassen, wohl um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zu stören: Nach der balinesischen Philosophie besiegt das Gute nie vollständig das Böse, denn beide gehören zum Wesen der polaren Welt. Die sechs Hauptlaster (Hauptfeinde) des Menschen sind nach balinesischer Definition: krodha (Zorn), kama (Wollust), loba (Habgier), madha (Unbeherrschtheit), moha (Dummheit) und matsarya (Eifersucht). Diese Hauptlaster entsprechen weitgehend den sieben christlichen Todsünden: Hochmut (saligia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia).

* Der Holzwürfel wird aus dem sogenannten Dapdap-Strauch hergestellt. Diese Pflanze wird in Bali häufig für religiöse Zeremonien verwendet [= Erythrina variegata L. (Leguminosaceae) = Coral tree].

Literaturliste

  • Ankermann, B. Kulturkreise und Kulturschichten in Afrika. Zeitschrift für Ethnologie 37 (1905), p. 54-90.

  • Buschan, Georg: Über Medizinzauber und Heilkunst im Leben der Völker. Berlin: O. Arnold 1941, p. 477-479.

  • Dapper, O[lfert Dr. med.]: Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa. Amsterdam: J. v. Meurs 1670, p. 634- 635 Königreich Momoemugu (Zentralafrika, heute Kongo).

  • Eiseman, Fred. B. jr.: Bali. Sekala & Niskala. Vol. I. Periplus Fifth Printin 2000, p. 108-114.

  • Uhle, Max: Über die ethnologische Bedeutung der malaiischen Zahnfeilung. Abhandlungen und Berichte des Königl. Zoologischen und Anthropologisch-Ethnographischen Museums zu Dresden; 1886/87, Nr. 4, p. 1-18.

Prof. Dr. med. Michael Sachs

Dr. Senckenbergisches Institut für
Geschichte und Ethik der Medizin
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Paul-Ehrlich-Str. 20,
60590 Frankfurt am Main
sachs@em.uni-frankfurt.de

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