Forschung und Gesundheit in Groẞbritannien

Der Brexit hat sich nicht ausgezahlt

Nach wie vor wirkt sich der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union negativ auf die Gesundheitsversorgung im Land aus. Zudem gibt es Hinweise, dass das Land nach dem Brexit unattraktiver für Top-Forscherinnen und -Forscher geworden ist.

Im Februar 2024 erschien im britischen Magazin „The Lancet“ eine Bilanz mit dem Titel „Brexit und Gesundheit: vier Jahre später“. Darin erinnern die beiden Autoren Jessamy Bagenal und Martin McKeedaran zunächst daran, wie der britische National Health Service (NHS) im Jahr 2016 von der „Vote Leave“-Kampagne als zentrales Argument für den Brexit instrumentalisiert wurde. „Wir schicken der EU 350 Millionen Pfund pro Woche. Lassen Sie uns stattdessen unseren NHS finanzieren“, habe es damals geheißen. Ein Blick auf die Entwicklung seitdem bringt Bagenal und McKeedaran jedoch zu diesem Fazit: „Die Schäden für die Gesundheit und die Wirtschaft im Vereinigten Königreich häufen sich seit dem Brexit kontinuierlich an.“

Dabei räumen die Verfasser durchaus ein, dass die Frage, ob der Brexit dem National Health Service (NHS) geholfen oder geschadet hat, gar nicht so leicht zu beantworten ist. Es sei sehr kompliziert zu quantifizieren, wie viel Schaden der Austritt der Gesundheitsversorgung verursacht habe. Schließlich hätten danach neben der Corona-Pandemie auch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sowie immer wieder unterbrochene globale Lieferketten ihre Auswirkungen gehabt. Und: Zur Wahrheit gehört für Bagenal und Mckeedran auch, dass sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung, gemessen am Indikator Lebenserwartung, aufgrund von staatlichen Sparmaßnahmen schon seit den frühen 2010er-Jahren verschlechtert hat.

In diesem Zusammenhang weisen die Autoren jedoch auf einen erwiesenen Nachteil hin, der mit dem Brexit einhergegangen sei, nämlich den Verlust von finanziellen Mitteln unter anderem aus dem EU-Strukturfonds, die Investitionen in die Gesundheitsversorgung ermöglicht hätten. Ein Indikator für den Abwärtstrend bei der Gesundheitsversorgung ist für die Autoren auch die dramatische Zunahme bei der Zahl der Menschen, die auf eine NHS-Krankenhausbehandlung warten: Diese lag im Oktober 2023 bei 7,71 Millionen – und damit doppelt so hoch wie am Tag vor dem EU-Mitgliedschaftsreferendum im Juni 2016.

Viele zahnmedizinische Fachkräfte bleiben weg

Am offenkundigsten seien die Auswirkungen des Brexit bei der Personalsituation im NHS. „Seit 2016 ist die Zahl der medizinischen Fachkräfte, die aus der EU kommen, um im NHS zu arbeiten, drastisch gesunken. Von September 2016 bis September 2021 sank beispielsweise die Zahl der im Europäischen Wirtschaftsraum ausgebildeten und im Vereinigten Königreich registrierten Krankenschwestern und -pfleger um 28 Prozent“, heißt es in dem Artikel. Nur durch den Anstieg der Zuwanderung von Gesundheitspersonal aus dem Rest der Welt habe eine katastrophale kurzfristige Krise vermieden werden können. Jedoch habe die auf eine Reduzierung von Einwanderung fokussierte Politik der ehemaligen konservativen Regierung und die damit einhergehenden häufigen Änderungen der Rechtslage bei der Einreise viele Fachkräfte abgeschreckt. Erschwerend hinzu kommt aus Sicht der Autoren, dass aufgrund der negativen Auswirkungen des Brexit auf die Wirtschaftsleistung Großbritanniens das Geld für wettbewerbsfähige Gehälter und Investitionen in die Arbeitsumgebung fehle.

Ein im April 2024 erschienener Artikel im „British Dental Journal“ (BDJ) geht auf die Schwierigkeiten beim Recruitment von zahnmedizinischen Fachkräften ein. Das britische Gesundheitssystems sei auf eine beträchtliche Anzahl international qualifizierter Zahnärztinnen und Zahnärzte angewiesen. Die kombinierten Auswirkungen des Brexit und der COVID-19-Pandemie hätten tiefgreifende Auswirkungen auf die Zahl der neu registrierten internationalen Zahnärztinnen und Zahnärzte gehabt, resümiert das Team um Deborah Evans. Nach dem Brexit im Jahr 2020 seien nur 357 ausländische Bewerberinnen und Bewerber in das Register des „General Dentist Council“ aufgenommen worden. Im Jahr 2017 hatte deren Zahl bei 1.249 gelegen. „Die Ungewissheit über die Folgen des Brexit, einschließlich Fragen der Gesetzgebung, der Arbeitserlaubnis und der finanziellen Aspekte des Pfunds gegenüber dem Euro, haben die Rekrutierung im Ausland weiter negativ beeinflusst“, heißt es in dem BDJ-Artikel.

Und der eigene Nachwuchs macht auf Braindrain

Mit dem Verlassen der EU endete für Großbritannien für einige Jahre die Mitgliedschaft im EU-Forschungs- und Innovationsprogramm „Horizont Europa“. Als eine Folge daraus konnten Forschungsgelder nicht mehr beantragt werden. Das wiederum machte die britische Forschungslandschaft für wissenschaftliche Top-Kräfte weniger attraktiv. Eine Umfrage unter in Großbritannien arbeitenden Expertinnen und Experten in der Krebsforschung aus dem Jahr 2023 erörterte die Bedeutung Europas für den Forschungsstandort Großbritannien. Befragt wurde auch der Leiter eines Krebsforschungslabors. Seine Antwort: „Wir verlieren viele hochkarätige Nachwuchswissenschaftler, die sich entscheiden, in EU-Länder zu gehen, um Stipendien vom European Research Council zu erhalten. Dem Vereinigten Königreich droht eine Abwanderung wissenschaftlicher Talente, wenn wir es nicht schaffen, das Vereinigte Königreich für internationale Talente attraktiver zu machen. Die Möglichkeit, sich um Zuschüsse im Rahmen von Horizont Europa bewerben zu können, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung."

Im September 2023 gelang schließlich eine Einigung. Die Europäische Kommission teilte mit, dass Großbritannien wieder an Horizont Europa und außerdem am Erdbeobachtungsprogramm Copernicus beteiligt werde. „Das Vereinigte Königreich ist verpflichtet, einen finanziellen Beitrag zum EU-Haushalt zu leisten“, heißt es in der Erklärung der Kommission. „Insgesamt wird davon ausgegangen, dass das Vereinigte Königreich für seine Beteiligung an Horizont Europa und Copernicus durchschnittlich fast 2,6 Milliarden Euro pro Jahr bereitstellen wird.“ Im Zuge des Abkommens haben Organisationen und Forschende aus Großbritannien seit dem 1. Januar 2024 in gleicher Weise wie ihre Kollegen in den EU-Mitgliedstaaten Zugang zu den Mitteln von Horizont Europa.

Die Lancet-Autoren Bagenal und McKeedaran begrüßen grundsätzlich, dass die medizinische Wissenschaft und die Forschungsfinanzierung durch die beschlossene Zusammenarbeit mit der EU gestärkt worden sind. Jedoch: „Als lediglich assoziiertes Mitglied wird das Vereinigte Königreich nur begrenzten Einfluss auf die Forschungsagenda haben, und die Verzögerung des Beitritts war ein Hindernis für Forscher, Geldgeber und Regulierungsbehörden. Eine Abweichung von EU-Vorschriften könnte es zudem schwieriger machen als vor dem Brexit, globale klinische Studien im Vereinigten Königreich durchzuführen.“ Der gemeinnützige „Nuffield Trust“, der die Folgen des Brexit auf das britische Gesundheitssystem erforscht, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: „Die lange Zeit der Ungewissheit in Bezug auf Horizont Europa hat wahrscheinlich dazu geführt, dass britische Universitäten und Forscher Finanzierungsmöglichkeiten verpasst haben, die nie wiederkehren werden.“

Die Strategie ist jetzt leise Wieder-Annäherung

Großbritannien muss nach einem durch den Brexit ausgelösten Braindrain also wieder aufholen. Das bestätigt auch eine im Januar 2024 im „International Journal of Higher Education Research“ erschienene Studie von Autor Giulio Marini, die die Gehälter als Maßstab für die Hochkarätigkeit von Forschenden heranzieht. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: Seit seinem Votum für den Austritt aus der EU im Jahr 2016 zieht das Vereinigte Königreich im Durchschnitt Forschende von „geringerer Qualität“ an und es ist schwieriger geworden, die besten von ihnen im Land zu halten. Insgesamt, so Marinis Fazit, befinde sich Großbritannien als „Kunde“ und nicht als „Partner“ der EU-Institutionen in einer schlechteren Position.

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