Rituelle Zahnentfernung im alten Taiwan
Die als Zahnablation bekannte Praxis, gesunde Zähne zu extrahieren, äußerte sich im alten Taiwan vor allem in der Entfernung der oberen Vorderzähne: In der Regel wurden die Schneidezähne und/oder die Eckzähne gezogen. Die Tradition ist mit den ersten austronesischen Gemeinschaften verbunden und breitete sich später im gesamten asiatisch-pazifischen Raum aus.
Bis jetzt fehlte allerdings eine umfassende Studie über diesen Brauch und man wusste sehr wenig über dessen Entwicklung, die Gründe für sein Fortbestehen und die ihn umgebenden sozialen und kulturellen Normen. Die Archäologin Yue Zhang von der Australian National University in Canberra füllt mit ihrer Arbeit nun diese Lücke. Die von ihrem Team untersuchten Skelettreste stammen von über 250 archäologischen Stätten in Taiwan.
Entstanden ist die Praxis etwa 4.800 vor Christus in Taiwan während der Jungsteinzeit (4.800–2.400 vor Christus), als die dortigen Jäger- und Sammler sesshaft wurden. In Bauerngemeinschaften stellten sie fortan Geschirr aus Keramik her, bauten Reis und Hirse an und domestizierten Tiere.
Die am häufigsten aufgezeichneten Muster der Zahnablation waren 2I 2 C 1 und 2I 2, wobei 2 eine beidseitige Entfernung und der hochgestellte Index den oberen Zahn und seine Position bezeichnet. Die Skelettreste belegen, dass Zahnablationen bei beiden Geschlechtern gleichermaßen durchgeführt wurden. Von ihren Ursprüngen an der Küste aus breiteten sich die Zahnablation, die Bestattung und der Ackerbau in den umliegenden asiatisch-pazifischen Regionen aus.
Die Methode und das Alter, in dem die Zahnentfernung durchgeführt wurde, variierten. Generell wurde in den nördlichen Regionen Taiwans das Herausschlagen der Zähne mit einem Metall-, Holz- oder Steinwerkzeug bevorzugt. In den südlichen Regionen wurden die Zähne dagegen meist gezogen, was üblicherweise durch ein oder zwei Holz- oder Bambusstäbe erleichtert wurde, die an einem Faden befestigt waren, der eng um den Zahn gewickelt war. Aufgrund der traumatischen Natur eines solchen Ereignisses wurde die Zeremonie normalerweise im Winter geplant, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Die extrahierten Zähne wurden dann begraben.
Nach dem Eingriff wurde die Wunde mit Salz oder der Asche einer Miscanthus-floridulus-Pflanze gefüllt, um die Blutung zu stoppen und einer Entzündung vorzubeugen. Diese Extraktionen ohne Betäubung mussten nicht nur junge Erwachsene, sondern bereits sechs- bis achtjährige Kinder über sich ergehen lassen.
Mäusezähne galten damals als attraktiv
Warum aber diese schmerzhafte Prozedur? Zhang und ihre Kollegen kommen zu dem Schluss, dass es – je nach Gruppe – unterschiedliche Gründe für die Zahnablation gab: So deuten die Funde darauf hin, dass die Zähne vor allem entfernt wurden, um attraktiver auszusehen. Ein animalischer Gesichtsausdruck mit vorstehenden Zähnen oder Lippen wie bei Hunden, Affen oder Schweinen galt als unästhetisch. Bewundert wurde dagegen das Gebiss von Mäusen. Offenbar spielten aber auch praktische Überlegungen eine Rolle: Man wollte überzählige oder kariöse Zähne verhindern, Schmerzen beim Tätowieren vorbeugen, eine bessere Aussprache ermöglichen und die Verabreichung von Medikamenten oder Nahrung im Fall eines Wundstarrkrampfs gewährleisten.
„Zähne sind mehr als nur anatomische Bestandteile, sie können als Leinwand für eine reiche kulturelle Symbolik dienen.“
Yue Zhang
Die Zahnentfernung könnte zudem auch eine Mutprobe gewesen sein, ein Ritus für den Übergang ins Erwachsenenalter oder ein Merkmal zur Unterscheidung der Stammesmitglieder von Fremden, erklären die Forscher. Zahnentfernungen galten darüber hinaus auch als sichtbares Zeichen, um die Tapferkeit eines Vorfahren zu ehren. „In vielen Fällen wurde das markante Ergebnis als Beweis für Tapferkeit oder als Maß für Reife angesehen“, schreibt Zhang.
Im späten Neolithikum hörte man jedoch nach und nach auf, Männern die Zähne zu entfernen. Ab der Eisenzeit, etwa 1.900 vor Christus, wurde die Praxis dann fast ausschließlich bei Frauen angewandt. Die Gründe für diesen Wandel bleiben rätselhaft. Zhang liefert jedoch eine mögliche Erklärung: „Der Rückgang der Zahnablation bei Männern könnte umfassendere kulturelle und soziale Veränderungen widerspiegeln. Vielleicht haben sich lokalere Ausdrucksformen durchgesetzt oder die Zahnablation könnte auch anders interpretiert worden sein.“
Die umfassendsten ethnografischen Berichte zu dieser Sitte entstanden während der japanischen Herrschaft 1895 bis 1945, insbesondere als von 1901 bis 1909 Umfragen unter den indigenen Gruppen durchgeführt wurden. Danach wurden durch die bewaffnete Unterdrückung der Ureinwohner in den 1910er-Jahren viele lokale Traditionen ausgelöscht, darunter auch die Zahnentfernung, die einige Gemeinschaften dennoch bis Mitte des 20. Jahrhunderts weiter praktizierten.
Die Studie:
Yue Zhang et al.: Ritual tooth ablation in ancient Taiwan and the Austronesian expansion, Archaeological Research in Asia (2024). DOI: 10.1016/j.ara.2024.100543