Gibt es so etwas wie „Kariesmüdigkeit“?

Christoph Benz

Als Ernst Jessen 1897 in Straßburg die erste große Untersuchung zur Mund­gesundheit von Schulkindern im deutschen Reich durchführte, waren die Ergebnisse dramatisch schlecht: 93 Prozent der Kinder hatten im Durchschnitt 7,5 kariöse Zähne. Der günstige Zucker aus heimischer Produktion hatte in kurzer Zeit seinen Zerstörungszug durch die Münder gestartet. Besonders deutlich fiel das den Zeitgenossen bei den Kindern auf, vermutlich weil man sich noch daran erinnern konnte, dass es diese Zerstörung früher nicht gab.

Die Schulzahnklinik – eine Lösung auf Zeit

Ernst Jessen hatte 1888 bereits den zahnärztlichen Unterricht an der Universität Straßburg begründet und entwickelte dort nun eine Lösung, die für die folgenden 30 Jahre die Kinderzahnmedizin in Deutschland bestimmen sollte. 1902 gründete er die vermutlich erste Schulzahnklinik der Welt mit dem Ziel, die Kinder dort nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu behandeln. Die Politik sprang sofort auf den Zug auf und mit wachsender Geschwindigkeit wurden bis 1932 schließlich 1.000 häufig kommunale Schulzahnkliniken gegründet. In der NS-Zeit passten sie nicht mehr in das ideologische Bild.

Nach dem Krieg gewann im Westen die freie Zahnarztwahl die Oberhand: Kollektive Untersuchung, aber individuelle Behandlung. 1949 wurde dazu der „Deutsche Ausschuss für Jugendzahnpflege“ (DAJ) gegründet, der auf der längeren Zeitachse dann die Gründung von Landesarbeitsgemeinschaften (LAGen) initiierte.

Dualismus aus Gruppen- und Individualprophylaxe

In der ersten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS) 1989 war der DMFT-Index der Zwölfjährigen mit 6,4 nicht so viel besser als in Jessens Untersuchung, dies aber immerhin mit deutlich höherer „Filled“-Komponente. Als erste Reaktion wurden die Individualprophylaxe-Leistungen eingeführt und der präventive Siegeszug bei Kindern und Jugendlichen begann.

Dem öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) und den LAGen mit ihren vielen Tausend ehrenamtlich engagierten Kolleginnen und Kollegen kommt dabei eine ganz wichtige Rolle zu:

  • Sie erreichen Kinder, die bislang nicht zahnärztlich betreut werden, und sie motivieren alle anderen.

  • Sie setzen früh das Ritual, Mundpflege als wichtigen Teil der Körperpflege zu verstehen.

  • Sie prägen und schulen Multiplikatoren: Hebammen, Erzieherinnen und Lehrer.

Die individuelle Betreuung in den Praxen kann darauf aufbauen und den positiven Effekt verstärken, verstetigen und ins erwachsene Leben überführen.

Kommt jetzt die Karies zurück?

Nach 1989 stellte sich die Mundgesundheit der Kinder mit jeder weiteren DMS besser dar bis hin zu einem DMFT-Fabelwert von 0,47 im Jahr 2014. Fabelwerte sind aber keine Garantie, dass es nicht auch wieder in die andere Richtung geht. Zwei Gründe könnten tatsächlich dafür sprechen. Einmal besteht ein Zusammenhang zwischen der Mundgesundheit und der sozialen Situation. Da geht die Schere in Deutschland gerade wieder auseinander. Zudem nahm in der Corona-Zeit die Betreuung durch ÖGD, LAGen und Zahnärzte ab. Aber es könnte auch noch einen dritten Aspekt geben, nämlich dass Fabelwerte „kariesmüde“ machen – die Patienten genauso wie uns. Schweizer Studien zeigen, wie schnell die Probleme wieder loslaufen, wenn das präventive Engagement nachlässt.

Deshalb scheinen jetzt drei Punkte wichtig:

  • Die Arbeit des ÖGD und der LAGen muss gestärkt werden – und sie sollten sich auch nicht nur auf Risikokinder konzentrieren. Niemand weiß, wie viele der anderen Kinder ins Risiko kommen, wenn die Motivation nachlässt.

  • Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten die Aufmerksamkeit für FU- und IP-Leistungen stärken.

  • Und ja, wer noch nie Karies hatte, versteht das Problem nicht. Aber hier hilft vielleicht eine Erkenntnis aus der DMS 5: 78 Prozent der Zwölfjährigen haben Gingivitis. Blutstropfen motivieren und helfen später auch bei der gedanklichen Umstellung hin zur Parodontitisprävention.

Seien Sie gespannt auf die Ergebnisse der DMS 6: Am 17. März 2025 wird sie in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Sich wieder neu auf die Ziele der Prävention zu fokussieren, macht aber jetzt schon Sinn!

Prof. Dr. Christoph Benz
Präsident der Bundeszahnärztekammer

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Prof. Dr. Christoph Benz

Präsident der BZÄK
Bundeszahnärztekammer

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