„Also haben wir uns ins Auto gesetzt und sind nach Prag gefahren!“
Mahlke (64) ist heute immer noch als Zahnarzt in der Gemeinschaftspraxis mit Ehefrau Marion und Sohn Christoph in Wittingen aktiv. Die niedersächsische Kleinstadt ist seit 1990 die neue Heimat der Familie. Vor der Flucht waren die Eheleute in einer Poliklinik in Stendal tätig. Der kräftige Mann mit der freundlichen Stimme ist abseits der Praxis Autoliebhaber, Verlagsgründer und Autor. Mit seiner Fluchtgeschichte sowie in der Doppelrolle als Zahnmediziner und Auto-Historiker ist er vor allem Zeitzeuge der damaligen DDR.
Wer dort das Abitur machen und dann studieren wollte, der durfte sich bekanntlich nicht systemkritisch äußern. „Wir sind oft gefragt worden, warum wir abgehauen sind. Viele dachten und denken immer noch, wir hatten dort alles, was wir brauchten, haben doch umsonst studiert. Ich antworte dann: 'Ja, stimmt.' Doch es gab Ende der 80er-Jahre zu viele Zahnärzte in der DDR. Das war die Folge einer Reaktion auf einen Mangel in den 1970ern. Turboartig wurde ausgebildet. Zu dieser Zeit konnte eigentlich jeder, der wollte, einen Studienplatz bekommen“, berichtet Mahlke.
Nur in der Urlaubszeit war Platz zum Behandeln
Nach abgeschlossenem Studium wurden Zahnärzte dann von einer staatlichen Kommission in einen Ort gesendet, um dort mindestens drei Jahre zu bleiben. „Für uns ging es 'gelenkt' nach Osterburg und in die Kreis-Poliklinik Stendal – da waren meine Frau und ich 27 Jahre alt. Dort waren aber auch zu viele Zahnärzte. In dieser Zeit gab es tatsächlich mehr Behandelnde als Arbeitsplätze.“ Konkret fanden die beiden regelmäßig kein freies Behandlungszimmer in der Klinik. Wenn Urlaubszeit war, freuten sie sich fast, dass sie endlich Platz und Gelegenheit zum Behandeln hatten.
Der Zahnarzt erinnert sich auch an das sogenannte Markensystem, eine Art Budget, mit dem die sehr knappen zahntechnischen Kapazitäten verteilt wurden. So gab es beispielsweise eine Marke, die für eine Krone, Teil- oder Vollprothese eingelöst werden konnte. „Mehr als acht Marken pro Monat und pro Behandler erinnere ich nicht“, erzählt Mahlke. „Endodontische Instrumente wurden mir im gesamten Jahr 1988 nicht zugeteilt, diamantierte Schleifkörper personenbezogen und je nach Devisenvorräten – weil West-Import. Die hat man in 'Schatzkästchen' sicherheitshalber nach Dienstschluss nach Hause in die eigene Wohnung mitgenommen.“
Ein weiteres Phänomen im Osten: die „Beutelsprechstunde". So bezeichnete der Volksmund das ungefragte Überlassen eines mit Filetfleisch, Westkaffee oder Südfrüchten gefüllten Beutels beim Eintritt ins Sprechzimmer. „Das beförderte die Herstellung der neuen Prothese ungemein“, erinnert sich Mahlke.
In der „Beutelsprechstunde“ ging es schneller zur Prothese
„Das heute so gern beschworene Solidaritätsgefühl der Menschen in der DDR beruhte in unserer Erfahrung mehr auf der Einsicht der gegenseitigen Abhängigkeit innerhalb der Mangelwirtschaft“, sagt er. Das waren für den jungen Zahnarzt und seine Frau dann auch die entscheidenden Fragen damals: „Wollen wir auch in Zukunft im Beruf eher Mangelverwalter sein und bleiben? Nie eigenverantwortlich agieren und dauerhaft von Innovationen abgeschnitten sein?
Über das Verteilungssystem der Bundesregierung kam die Familie nach ihrer Flucht nach Karlsruhe, wo Mahlke wenige Monate später bereits Assistenzzahnarzt in einer Praxis wurde. „Mein Chef dort war super. Er hat mir erst mal alles gezeigt. Ich habe sehr viel gelernt. Die Zahnmedizin im Osten war ungefähr 35 Jahre im Rückstand. Stellen Sie sich vor, die Zahnärzte in der DDR haben drei Bohrer zugeteilt bekommen. Waren die scharf, lief alles gut. Waren sie nicht mehr so scharf, wurde es vor allem für die Patienten unangenehm.“
„Ein fürchterlicher Zustand und dazu keine Perspektive!“, sagt er. Dazu kam, dass in dem Wohnort, in einer Senke gelegen, die Umweltverschmutzung so hoch war, dass ihr kleiner Sohn ständig unter Bronchitis litt. Ein Facharzt riet ihnen dazu umzuziehen – an die Ostsee oder ins Erzgebirge. „Aber das durften wir ja nicht. Also wurde uns geraten, ein Inhalationsgerät aus dem Westen zu besorgen. Nur hatten wir keine Westverwandtschaft. 100 Kilometer weiter in Wolfsburg gab es das in jeder Apotheke. Diese absurde Situation hat uns den finalen Anstoß zur Flucht gegeben. Also haben wir uns ins Auto gesetzt und sind nach Prag gefahren“, erzählt der Zahnarzt.
Die Zahnmedizin im Osten war 35 Jahre im Rückstand
Dort angekommen sind sie vom Auto in die U-Bahn gesprungen und zur Botschaft gefahren. Nach Tagen erfolgte die Ausreise mit Reichsbahnzügen durch die DDR. Erst als sie im bayerischen Hof ankamen, löste sich die Anspannung. „Da wussten wir, wir waren richtig und jetzt geht etwas Neues los“, schildert er die Gemütslage. Den Wartburg ließen sie in Prag zurück. Dass sie ihn später im März 1990 wiederbekommen würden, ahnten sie damals noch nicht. Auch nicht, dass kurz nach ihrer Flucht die Mauer fiel.
Der Wartburg wurde direkt von der Stasi beschlagnahmt, später – „Operation Zündspule“– erhielt Mahlke ihn zurück, War jemand geflüchtet und das aktenkundig, wurden nämlich alle seine Besitzobjekte eingezogen und in einem riesigen Geheimlager vor den Toren Berlins wie in einer überdimensionalen Asservatenkammer eingelagert. Darin befanden sich über 1.500 Wagen, alle gelistet – darunter auch Mahlkes Wartburg. „Diese Gründlichkeit hatte an dieser Stelle mal einen Vorteil!"