„Ich lerne hier Selbstwirksamkeit“
Vor zehn Jahren noch war ich mir meiner Berufswahl gar nicht so sicher. Ich hätte auch Geografin oder Sozialwissenschaftlerin werden können. Letztlich wollte ich aber praktisch und nah am Menschen arbeiten, in einem Beruf, der überall relevant ist. Deshalb habe ich die Zahnmedizin gewählt und mich nach meiner Assistenzzeit für ein Curriculum in der Oralchirurgie entschieden, was mir für diesen Weg dienlich erschien. Als dann im Frühjahr die internationale Organisation Mercy Ships bei mir anfragte, bewarb ich mich. Zwei Wochen später flog ich nach Westafrika zu einer Stippvisite, die mich in meinem Vorhaben bestärkte. Dann folgten Impfungen, Organisatorisches und Werbung für das Projekt – und Abschiedsbesuche.
Nun bin ich seit vier Monaten an Bord. Noch immer lebe ich mich ein, finde neue Routinen heraus, wachse in meiner Rolle als Leiterin eines Teams, in dem Personalwechsel an der Tagesordnung sind. Ich kann mitgestalten, ausprobieren und ein gutes Arbeitsklima prägen. Unsere Arbeit zeichnet sich durch Effizienz, Qualität und gute Beziehungen aus – dies ist umso wichtiger, da wir ein multikulturelles Team formen, bei dem verschiedene Arbeits- und Kommunikationsstile aufeinandertreffen.
Nachkontrollen sind kaum organisierbar
Die Zahnmedizin hier sieht anders aus als zu Hause. Prothetik fällt praktisch ganz weg – auch deswegen, weil wir an Bord kein Dentallabor und keine -techniker haben. Wir konzentrieren uns hier auf chirurgische, konservierende und präventive Zahnheilkunde. Für die meisten Menschen sind die Behandlungen nicht bezahlbar, obwohl die Kosten umgerechnet im einstelligen Bereich liegen. Viele der Zähne, die wir entfernen, sind nur noch Wurzelreste. In Extremfällen entfernen wir bei einem Patienten bis zu zwölf Zähne beziehungsweise Wurzelreste. Wir nähen mit resorbierbaren Fäden, geben jedem Patienten Schmerzmittel und ausführliche postoperative Verhaltensanweisungen mit.
Die Nachkontrolle bleibt meistens aus, weil das organisatorisch nicht machbar ist. Viele unserer Patientinnen und Patienten reisen aus weit entfernten Teilen des Landes an und sind nicht alle für mehrere Tage hier unterzubringen. Das fordert mich manchmal heraus, so wenig nachbetreuen zu können und keine Rückmeldung zu bekommen. Keine Möglichkeit zu haben, Zähne in irgendeiner Form zu ersetzen, insbesondere bei jungen Menschen. Oder auch nur im Ansatz funktionstherapeutisch gesunde Okklusionen herstellen zu können.
Es geht in erster Linie darum, Infektionsherde auszuräumen oder ihnen vorzubeugen. Viele Fälle, die in unserer MKG-Abteilung behandelt werden, sind tragische Verläufe, deren Ursachen in jahrelang persistierenden, unbehandelten Infektionen dentalen Ursprungs liegen. So stellte sich vor Kurzem eine junge Frau mit einer Schneidekantendistanz von zwei Millimetern bei vollständiger Kieferklemme vor. Sie ernährte sich seit drei Jahren von Brei, den sie durch die Zähne einsaugte. Bildgebend stellte sich eine massive Ankylose des rechten Kiefergelenks dar. Ihrer Beschreibung zufolge ging diesem Verlauf ein schmerzender Molar im rechten Unterkiefer voraus.
Da die wenigsten Patienten gut genug Englisch für eine klare Verständigung sprechen, arbeiten wir mit Übersetzern. Fast alle meine Patienten, ob jung oder alt, machen bei uns die erste Zahnarzterfahrung ihres Lebens. Sie hören zum ersten Mal davon, dass es wichtig ist, sich zweimal am Tag die Zähne zu putzen. Wegen des nicht vorhandenen Vorwissens musste ich lernen, meine Botschaft auf das Wichtigste herunterzubrechen, damit das behalten wird. Wir gehen in die Wartezimmer und durch die Stationen des Hospitals, führen kurze interaktive Präsentationen zum Thema Zahnpflege durch. Wir geben den Patienten Hefte mit Informationen über Mundgesundheit und Vorbeugung von Erkrankungen mit, mit der Einladung, die Inhalte mit der Familie und in der Nachbarschaft zu teilen, damit so viele wie möglich davon erfahren.
Meine Botschaften müssen möglichst einfach sein
Zur klinischen Aufgabe kommt für mich hier die administrative Seite der Praxisführung hinzu. Gut strukturiert zu sein ist umso wichtiger, da es bis zu vier Monate dauern kann, bis eine Bestellung von Instrumenten, Verbrauchsmaterialien oder Ersatzteilen per Schiffscontainer eintrifft. Glücklicherweise ist unsere Praxis aber hervorragend ausgestattet und es fehlt an nichts. Ich kann so hochwertig behandeln, wie ich es gewohnt bin. Für OPGs schicken wir die Patienten ein Deck höher, DVT ist ebenfalls gegeben. Neben unserem Behandlungsstuhl an Bord haben wir einen zweiten Stuhl in unserem „Hospitainer“, ein Container auf dem Dock, ich nenne es „das dentale Camping“.
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In speziellen Fällen widme ich mich der „kreativen Zahnheilkunde“. Uns wurde von der MKG-Chirurgie eine 28-jährige Tumorpatientin zugewiesen, die nach einer Resektion des linken Oberkiefers durch eine postoperative Dehiszenz des Lappens eine massive Gaumenspalte aufweist. Die Idee ist, ihr eine Gaumenplatte für den Oberkiefer anzufertigen. Dafür habe ich erste Kontakte mit der Dentaltechnik in Freetown aufgenommen – und erfahren, wie aufwendig es ist, eine einfache Klammerprothese herstellen zu lassen.
Am Ende entsprach die Platte leider nicht den Anforderungen; und so habe ich mir von den Handwerkern hier an Bord Draht erbeten, selber drei Klammern gebogen und mich dabei an alte Drahtbiege-Übungen erinnert. In Rücksprache mit dem vorstehenden MKG-Chirurgen der Organisation versuchen wir nun ein Tiefziehgerät oder einen 3-D-Scanner zu ordern, dann können wir Schienen und Verbandsplatten unkompliziert selbst herstellen.
Besonders nah geht mir der Fall eines dreijährigen fröhlichen Jungen, dessen Gesicht durch einen hochvaskulären Tumor an Wange und Lippen entstellt ist. Wenn das operative Risiko eines Krankheitsbildes zu hoch ist, langfristig nicht Erfolg versprechend oder einer zu hohen Nachsorge bedarf, die im Land und durch uns nicht gewährleistet werden kann, werden manche Fälle für eine Operation abgelehnt. So auch sein Fall. Er ist ein Beispiel für viele, von denen wir niemals wieder hören werden.
Jetzt habe ich einen gänzlich anderen Alltag – mit bereichernden und herausfordernden Seiten. Ich lebe ja nicht wirklich in Afrika, sondern auf einem Schiff in einem kleinen Universum für sich. Es gibt die Möglichkeit, jeden Tag beim Mittagessen interessante Menschen aus aller Welt kennenzulernen, Teil einer großen Lebensgemeinschaft zu sein, die vereint ist in einem höheren gemeinsamen Ziel. Ich genieße auch den Komfort, keinen Haushalt führen zu müssen. Am Wochenende kann ich an wunderschönen Stränden surfen gehen.
Die Realität hier erdet und befreit mich
Ich arbeite in einem zahnärztlichen Team, in dem alle hochmotiviert sind. Und ich muss vor der Behandlung nicht an die Kostenaufklärung denken, sondern kann mich auf das Eigentliche konzentrieren, mir die Zeit nehmen, die ich brauche. Dafür muss ich mich aber an Essenszeiten und Ausgangssperren halten, büße persönliche Freiheiten ein. Ich vermisse es, auf ruhigen, sauberen Wegen laufen zu gehen, und vor allem meine Freunde.
Die Realität, die ich hier erlebe, erdet und befreit mich von meinen Illusionen, dass in der (Selbst-)Optimierung die Erfüllung liegt, oder dass wir das Leben allein meistern müssen. Wir sind dafür gemacht, aufeinander angewiesen zu sein. Das hat mich Afrika immer schon gelehrt und ich liebe es dafür. Menschen, die sich für eine andere Welt öffnen und darauf einlassen können, werden hier viel Freude bei einem Einsatz finden. Der Bewerbungsprozess kann sich etwas ziehen. Nichtsdestotrotz: Wir haben viel Arbeit und freuen uns zurzeit insbesondere über die Unterstützung durch ZFA.