Cavitadaxia, Onychophagie, Wach-Bruxismus und Daumenlutschen bei Erwachsenen

Körperbezogene repetitive Verhaltens­störungen in der Zahnarztpraxis

Steffen Moritz
,
Natascha Bruhn
,
Jesper Delfs
,
Luca Hoyer
,
Stella Schmotz
,
Lucy Seute
Wenn Erwachsene unter Lippen-Wangen-Beißen, Nägelkauen, Wach-Bruxismus oder Daumenlutschen leiden, fällt das wegen der körperlichen Folgen oft zuerst in der Zahnarztpraxis auf. Die Identifikation dieser Verhaltensmuster sowie die Beratung über somatische oder psychologische Interventionen und Selbsthilfemethoden sind essenziell für die Behandlung.

Cavitadaxia (Lippen-Wangen-Beißen), Onychophagie (Nägelkauen), Wach-Bruxismus und Daumenlutschen bei Erwachsenen gehören zu den körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen (englischbody-focused repetitive behavior disorders“, BFRBDs). BFRBDs sind eine Gruppe unterschiedlicher Störungsbilder, deren kleinster gemeinsamer Nenner die schmerzhafte beziehungsweise schädliche Manipulation der eigenen Körperhülle ist.

Die bekanntesten Störungsbilder sind Trichotillomanie (das Ausreißen der eigenen Haare) und Dermatillomanie (das Pulen/Kratzen an der eigenen Haut, auch „Skin Picking“ genannt). Die Verhaltensweisen werden bewusst oder auch unbewusst beziehungsweise automatisiert ausgeführt. In diesem Artikel sollen die zahnmedizinisch relevanten Störungsbilder Cavitadaxia, Onychophagie, Wach-Bruxismus und Daumenlutschen bei Erwachsenen näher beleuchtet werden. Sie sind nicht nur aufgrund ihrer Folgen für den oralen Bereich für Zahnärztinnen und Zahnärzte bedeutsam, sondern sie fallen bei der zahnärztlichen Untersuchung oft auch erstmals auf.

Cavitadaxia

Cavitadaxia, auch als Lippen-Wangen-Beißen bezeichnet, beinhaltet das Beißen auf den Wangeninnenseiten, den Lippen und/oder den Rändern der Zunge. Die Prävalenzraten schwanken je nach Diagnosekriterien. Nach einer eigenen Prävalenzstudie auf Basis einer repräsentativen Stichprobe von 1.481 US-Amerikanerinnen und Amerikanern sind im Laufe ihres Lebens etwa 7,9 Prozent der Bevölkerung von Cavitadaxia mit psychischen und/oder physischen Folgen betroffen [Moritz et al., 2023a]. In dieser Studie galt sichtbares körperliches Verhalten als Kriterium für eine BFRBD. Die Punktprävalenz liegt bei 3,2 Prozent [Houghton et al., 2018].

Insgesamt liegen jedoch nur wenige Schätzungen der Prävalenzraten vor. Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei etwa 15 Jahren [Moritz et al., 2023b]. Risikofaktoren für Cavitadaxia sind unebene Stellen an der Wangeninnenseite oder den Lippen und die Neigung zu Wunden- und Narbenbildung in diesen Bereichen. Als Auslöser fungiert häufig Stress, wobei Cavitadaxia sowohl als temporäre Reaktion auf zeitlich begrenzte Stressoren (beispielsweise in Prüfungsphasen) wie auch als langfristiges Verhalten auftreten kann [Flaitz und Felefli, 2000].

Die typischen Symptome von Cavitadaxia sind Verletzungen der Mundschleimhaut, die sich durch verdickte Schleimhautareale mit einer unregelmäßigen Oberfläche auszeichnen und eine weiße Linie im Gewebe der Wangeninnenseite bilden. Diese Linie verläuft zumeist parallel zur Okklusionsebene, kann jedoch in Fällen, bei denen die Wangenschleimhaut mit den Fingern zwischen die Zähne gedrückt wird, auch weiter ausgedehnt sein [Schmelzeisen, 2022]. Darüber hinaus können in seltenen Fällen Erytheme, fokale Ulzerationen, Erosionen, Abszesse, Ödeme sowie Einblutungen in die Haut als Folgen von Cavitadaxia auftreten [Flaitz und Felefli, 2000].

Verletzungen, die nicht durch das Beißen entstanden sind (beispielsweise chronische Entzündungen), können durch das Lippen-Wangen-Beißen verstärkt werden. Die bereits vorhandenen oder entstehenden Verletzungen in der Mundschleimhaut lösen den Drang, auf die Lippen oder die Wangen zu beißen, erneut aus und verstärken das Verhalten. Da das Verhalten oft unbewusst auftritt, wird es in der Anamnese häufig verneint. Die Verletzungen bedürfen in vielen Fällen keiner medizinischen Behandlung [Schmelzeisen, 2022].

Onychophagie

Unter dem Begriff Onychophagie versteht man das Kauen an den Nägeln (Abbildung 1) mit psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen als Folge. Die Lebenszeitprävalenz dieser Störung liegt bei etwa elf Prozent [Moritz et al., 2023a], die Punktprävalenz bei 20 bis 30 Prozent [Lee und Lipner, 2022]. Die durchschnittliche Ersterkrankung tritt mit etwa neun Jahren früher auf als bei anderen BFRBDs [Moritz et al., 2023b]. Im Erwachsenenalter kommt Onychophagie seltener vor. Wird das Verhalten bewusst ausgeführt, dann häufig mit dem Ziel, Unebenheiten am Nagel oder der umliegenden Haut „auszubessern“. Andere Auslöser, die ebenfalls unbewusstes Nägelkauen auslösen, sind starker Stress, Nervosität, Neigung zu Perfektionismus sowie Langeweile [Lee und Lipner, 2022].

Vorbestehende Risikofaktoren für die Entwicklung einer Onychophagie sind spröde, dünne oder rissige Nägel, die Neigung an den Nägeln herumzuspielen und eine Nagelhaut, die sich leicht entzündet. Zusätzlich spielt das Nachahmen von Eltern und Geschwistern (Modelllernen) eine Rolle in der Entwicklung einer Onychophagie [Erdogan et al., 2021]. Betroffene berichten im Vergleich zu anderen BFRBDs über einen besonders starken Drang, das Nägelkauen auszuführen. Vor dem Verhalten wird oft über eine große Anspannung berichtet, der ein Gefühl der Erleichterung folgt [Lee und Lipner, 2022]. Das Kauen an den Nägeln wird selbst von Experten oft als schlechte Angewohnheit ohne echten Störungswert abgetan. Im Fall von starken Schäden ruft das Verhalten jedoch teilweise erhebliches Leid und/oder Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen hervor und sollte als Verhaltensstörung diagnostiziert werden.

Onychophagie schädigt auf der einen Seite die Nägel, was eine dauerhafte Störung des Nagelwachstums nach sich ziehen kann. Auf der anderen Seite kann es auch zu Schäden am Zahnfleisch und an den Zähnen führen; dazu gehören Zahnfleischverletzungen, die in Schwellungen und Entzündungen der Gingiva münden können. Aufgrund der Auslenkung der Schneidezähne beim Nägelkauen kann es bei gleichzeitiger Kraftapplikation durch eine Zahnspange zum „Jiggling“ und damit zu Wurzelresorptionen kommen [Odenrick et al., 1983]. Des Weiteren kann Onychophagie zu Abrasionen bis hin zur Absplitterung der Schneidezähne führen; auch Einzelzahnfehlstellungen kommen vor. Hinzu kommen Berichte über Schmerzen im Kiefergelenk bei chronischer Onychophagie sowie die Gefahr der Übertragung von Herpesinfektionen [Lee und Lipner et al., 2022].

Wach-Bruxismus

Wach-Bruxismus zählt im Unterschied zu Bruxismus im Schlaf ebenfalls zu den BFRBDs. Darunter versteht maneine wiederholte Kaumuskelaktivität, gekennzeichnet durch Kieferpressen und Zähneknirschen und/oder Anspannen oder Verschieben des Unterkiefers ohne Zahnkontakt. Viele Betroffene sind sich des Verhaltens nicht bewusst. Nach der eigenen vorgenannten Prävalenzstudie mit 1.481 Probanden sind 3,7 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von klinischem Wach-Bruxismus betroffen [Moritz et al., 2023a]. Die Punktprävalenz liegt bei schätzungsweise 26,5 Prozent [Lange, 2016].

Die Risikofaktoren sind in erster Linie psychosozial, etwa Stress. Zu den Folgen zählen neben Kopfschmerzen und Schwindel auch Hypertrophien und Schmerzen in der Kaumuskulatur (Myalgien). Zudem werden Attritionen beobachtet [siehe auch LL „Diagnostik und Therapie von Bruxismus“, 2019]. Betroffene berichten von Kiefergelenkknacken, Problemen bei der Mundöffnung (zum Beispiel beim Gähnen) und Okklusionsstörungen [Saulue et al., 2015].

Daumenlutschen bei Erwachsenen

Daumenlutschen bei Erwachsenen wird von den meisten Forschenden ebenfalls zu den BFRBDs gezählt. Das Fortbestehen dieses Verhaltens aus der Kindheit ins Erwachsenenalter ist eher selten und vermutlich auf erhöhte Stress- oder Angstlevel zurückzuführen [Shetty et al., 2015]. In der oben genannten Studie zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz von 1,3 Prozent [Moritz et al., 2023a]. Die Punktprävalenz wird auf 4,7 bis 6,3 Prozent geschätzt [Ganapathi et al., 2021]. Bei persistierendem Daumenlutschen kann es zu Zahn- und Kieferfehlstellungen kommen sowie zur forcierten Ventralentwicklung des Oberkiefers und der Protrusion der oberen Schneidezähne.

Außerdem wird der Unterkiefer in seinem Wachstum gehemmt und die unteren Schneidezähne werden retrudiert. Durch die Einlagerung des Daumens zwischen den Zahnreihen kann ein frontal offener Biss entstehen, der sich skelettal manifestieren und kaufunktionelle sowie Sprechprobleme wie Sigmatismus (Lispeln) zur Folge haben kann [Kahl-Nieke, 2001]. Das Verhalten und die Unterkieferrücklage haben oft auch negative Auswirkungen auf die Kiefergelenke und -muskeln [Ganapathi et al., 2021]. Abbildung 2 zeigt, wie das Saugen oder Lutschen an Daumen oder Fingern Druck auf Weich- und Hartgewebe des orofazialen Komplexes ausüben kann.

Die Folge ist eine verringerte Lebensqualität

Zusätzlich zu den körperlichen Folgen geht mit BFRBDs allgemein häufig eine verringerte Lebensqualität einher. Auf der einen Seite hängt dies mit komorbiden psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Ängsten zusammen [Solley und Turner, 2018]. Auf der anderen Seite empfinden Betroffene meistens Scham aufgrund des Verhaltens und der sichtbaren körperlichen Folgen. Beispielsweise sind Schäden an den Nägeln, die durch Onychophagie entstehen, nur schwer zu kaschieren und können zur Vermeidung von körperlichen Berührungen bis hin zur Vermeidung von sozialen Kontakten allgemein führen.

Die Relevanz für die zahnärztliche Praxis liegt in erster Linie in der Identifikation der körperlichen Symptome und in der Behandlung der Folgen. Etwa 90 Prozent der betroffenen Personen suchen jedoch keine psychologische Hilfe auf, weil sie häufig nicht wissen, dass es sich um eine behandelbare Störung handelt und nicht um eine „schlechte Angewohnheit“ oder gar um „Willensschwäche“ [Erdogan et al., 2021]. Zudem schämen sich viele Betroffene für ihr Verhalten und sprechen nicht von sich aus in einer Untersuchung darüber. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für einen chronischen Krankheitsverlauf. Beim Erkennen der typischen Symptome sollte der Patient oder die Patientin behutsam darauf angesprochen werden.

Klassifikation

Die hier aufgeführten BFRBDs sind im Vergleich zu anderen Störungsbildern wie Trichotillomanie und Skin Picking deutlich weniger erforscht. Das hängt vermutlich mit den aktuellen Klassifikationssystemen zusammen. Keines der vier oben beschriebenen Störungsbilder wird im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) oder in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD) als eigenständige Diagnose gelistet.

In der ICD-10 fallen die Störungsbilder unter F63.8 „Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. Als eigene Diagnose führt die ICD-10 von allen BFRBDs nur Trichotillomanie auf. Das chronische Kauen an der Mundschleimhaut wird auch als morsicatio buccarum bezeichnet (morsicatio labiorum = Beißen auf den Lippen; morsicatio linguarum = Beißen auf der Zunge) [Schmelzeisen, 2022] und kann alternativ als K13.1 „Wangen und Lippenbiss“ im Kapitel K13 „Sonstige Krankheiten der Lippe und der Mundschleimhaut“ klassifiziert werden. Onychophagie kann alternativ auch als „Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F98.88) diagnostiziert werden.

Im DSM-5 werden die hier beschriebenen Störungsbilder als körperfokussierte, sich wiederholende Verhaltensweisen bezeichnet, die der Kategorie „Zwangsstörungen und verwandte Störungen“ zugeordnet sind. Aus der englischen Version des DSM stammt der Begriff „body-focused repetitive behavior disorder“. Im DSM-5 werden nur Trichotillomanie und Dermatillomanie als eigenständige Diagnosen gelistet, die hier beschriebenen Störungen fallen unter „andere nicht näher bezeichnete Zwangsstörung und verwandte Störung“.

Mit der Einführung der ICD-11 im englischsprachigen Raum wurde die Einordnung der BFRBDs an das DSM-5 angepasst. Hier gehören die vier Störungsbilder zu den „sonstigen näher bezeichneten körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen“ (6B25.Y). Cavitadaxia kann als „Selbst beigebrachte Verletzung der Lippen“ (DA00.1) klassifiziert werden. Für Onychophagie gibt es die alternativen Klassifikationen als „Sonstige näher bezeichnete Anomalie der Nageloberfläche“ (EE10.1Y).

Um die Diagnose einer BFRBD stellen zu können, müssen folgende Kriterien erfüllt sein: wiederholte, erfolglose (selbst eingeleitete) Versuche, das betreffende Verhalten zu verringern oder zu beenden sowie ein klinisch signifikanter Leidensdruck oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen [APA, 2013; WHO, 2016].

Komorbidität und Differenzialdiagnostik

Wichtig ist, dass Bruxismus im Schlaf nicht zu den BFRBDs gehört. Die Unterscheidung zwischen Bruxismus im Wachzustand und im Schlaf birgt jedoch Schwierigkeiten, zumal in einigen Fällen weder Wach- noch Schlaf-Bruxismus aktiv wahrgenommen wird. Es wird vermutet, dass im Wachzustand eher ein Anspannen der Kaumuskeln mit wiederholtem oder anhaltendem Zahnkontakt oder ein Anspannen des Unterkiefers eine Rolle spielen. Zudem soll Wach-Bruxismus stärker mit psychologischen Faktoren zusammenhängen [Bracci et al., 2022]. Neben Bruxismus sollten auch andere Gründe für eine verstärkte Abnutzung der Zähne in Betracht gezogen werden, zum Beispiel das Beißen auf Gegenstände wie Stifte.

Neben Komorbiditäten mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder ADHS kommen in vielen Fällen mehrere BFRBDs gleichzeitig vor [Lee und Lipner, 2022].

Behandlung

Je nach Schwere der körperlichen Folgen, ist eine medizinische Behandlung und/oder eine psychologische Behandlung notwendig. Da es sich bei den BFRBDs in erster Linie um Verhaltensstörungen handelt, reicht es nicht aus, allein die körperlichen Schäden zu behandeln. Ohne die verhaltensbedingte beziehungsweise psychosoziale Ursache zu behandeln, treten die Konsequenzen wiederholt auf. Beispielsweise heilen die Verletzungen, die durch eine Cavitadaxia auftreten, bei Unterlassen des Beißens von allein ab, sodass keine weitere Behandlung notwendig ist.

Die oben genannten Vulnerabilitätsfaktoren von Cavitadaxia und Onychophagie, beziehungsweise die sensorischen Auslöser, können jedoch mit Hilfsmitteln eingedämmt werden. Bei Cavitadaxia können beispiels­weise Zahnschienen, die die Wangen vor dem direkten Biss mit den Zähnen schützen, oder Gele, die die Hautoberfläche der Wangeninnenseiten glätten, unterstützend hinzugezogen werden [Schmelzeisen, 2022].

Bei der Behandlung von Wach-Bruxismus können ebenfalls Zahnschienen hilfreich sein, die Zahnabrasionen beziehungsweise Verhaltensmuster unterbrechen und das Kiefergelenk entlasten. Dabei sollte jedoch auf Einschränkungen im Alltag geachtet werden, die bei Bruxismus im Schlaf keine Rolle spielen.

Bei Onychophagie kann man einer betroffenen Person raten, durch eine Maniküre das Beißen zu verhindern oder eine Nagelfeile zur Ausbesserung von Unebenheiten mit sich zu tragen. Auch bitterer Nagellack kann hier unterstützen. Auch die Verwendung von Fidget Toys (Zappelspielzeug) kann bei den verschiedenen BFRBDs helfen, indem man die Hände beschäftigt.

Was Zahnärzte tun können

Wurde die BFRBD durch das Erfragen des Verhaltens bestätigt, sollte die Patientin oder der Patient zunächst über das Störungsbild und die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden. Da aktuell kein Medikament für die Behandlung von BFRBDs zugelassen ist, stellen psychotherapeutische Ansätze aktuell die Methode der Wahl dar [Farhat et al., 2020]. Wie bei anderen psychischen Erkrankungen gibt es die Möglichkeit, von den Krankenkassen finanzierte Therapien (vor allem Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Therapie und systemische Psychotherapie) aufzusuchen.

Gehen andere psychische Erkrankungen mit der BFRBD einher und besteht ein starker Leidensdruck, ist eine Psychotherapie empfehlenswert. Hier stellt das „Habit Reversal Training“ (HRT) den aktuellen Goldstandard dar [Skurya et al., 2020]. Das HRT hat zum Ziel, die schädigende Verhaltensweise (zum Beispiel das Kauen an der Wangeninnenseite) durch eine alternative Handlung zu ersetzen. Diese Alternative ist eine starre, antagonistische Haltung, beispielsweise das Drücken der Zunge an den Gaumen bei Cavitadaxia. Diese alternative Handlung wird dann in verschiedene Situationen im Alltag integriert.

Selbsthilfemethoden

Für die Behandlung von BFRBDs haben sich unterschiedliche Selbsthilfemethoden als wirksam erwiesen. Zunächst gibt es eine Selbsthilfeadaption des HRT, die vor allem die starre Gegenbewegung anleitet. Auch die Entkopplung und die Entkopplung in sensu haben sich als hilfreich erwiesen. Hier ist das Ziel, die ursprüngliche Bewegung umzulenken und somit ebenfalls zu ersetzen. Die betroffene Person führt zunächst die dysfunktionale Bewegung initial wie üblich aus und lenkt sie dann kurz vor der Ausführung der BFRBD abrupt in eine andere Richtung um. So würde eine Person mit Onychophagie beispielsweise zuerst die Finger in Richtung Mund bewegen und dann – im letzten Moment – die Hand schnell zum Ohr umlenken. Bei der Entkopplung in sensu wird der erste Teil der Methode in der Vorstellung durchgeführt und erst der zweite Teil real umgesetzt.

Schließlich gibt es noch die „Habit Replacement“-Methode. Bei diesem Ansatz wird das Verhalten durch eine selbstfürsorgliche repetitive Bewegung ersetzt. Das können beispielsweise sanfte, kreisende Bewegungen sein. Durch den repetitiven Charakter soll die Verhaltensautomatisierung vereinfacht werden. Bei allen Techniken ist es wichtig, dass die Patientin oder der Patient zunächst beobachtet und protokolliert, in welchen Situationen das Verhalten auftritt. Besonders bei unbewussten BFRBDs ist dies ein essenzieller erster Schritt.

Hilfe zur Selbsthilfe

Als Zahnärztin oder Zahnarzt können Sie Ihre Patienten ermuntern, sich selbst zu helfen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten:

  • Auf unserer Website finden Sie Selbsthilfemethoden mit ausführlichen Erklärungen, die auch kostenlos heruntergeladen werden können. Dort finden sich auch Hintergrundinformationen zu den Störungsbildern und Tipps für den Alltag. Weitere Informationsseiten bietet beispielsweise die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

  • Um Wissen über die Störungsbilder und ihre Behandlungsmethoden zu verbreiten, hat unser Forschungsbereich eine kostenpflichtige Online-Schulung über BFRBDs entwickelt. Die Schulung eignet sich sowohl für medizinisches Personal (behandelnde Personen) als auch für betroffene Personen. Sie enthält Hintergrundwissen zu allen BFRBDs und Behandlungsmethoden sowie ausführliche Anleitungen zu Selbsthilfe.

Fazit

Cavitadaxia, Onychophagie, Wach-Bruxismus und Daumenlutschen bei Erwachsenen zählen zu den zahnärztlich relevanten körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen. Besonders weil der Großteil der Betroffenen von sich aus keine Hilfe aufsucht, ist es wichtig, dass die Verhaltensstörungen – insbesondere deren körperliche Folgen – in einer (zahn-)ärztlichen Routineuntersuchung erkannt werden. Patientinnen und Patienten sollten auf das Verhalten behutsam angesprochen und über die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden. In leichteren Fällen ist die Anwendung von Selbsthilfemethoden oft ausreichend; in schwereren Fällen ist dagegen eine Verhaltenstherapie ratsam.

Literaturliste

  • APA. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). doi.orghttps://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425596

  • Bracci, A., Lobbezoo, F., Häggman-Henrikson, B., Colonna, A., Nykänen, L., Pollis, M., Ahlberg, J. & Manfredini, D. (2022). Current Knowledge and Future Perspectives on Awake Bruxism Assessment: Expert Consensus Recommendations. Journal Of Clinical Medicine, 11(17), 5083. doi.org/10.3390/jcm11175083

  • Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie e.V. (DGKFO) (2019). Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Bruxismus“. register.awmf.org/de/leitlinien/detail/083-027

  • Erdogan, H. K., Arslantas, D., Atay, E., Eyuboglu, D., Unsal, A., Dagtekin, G. & Kilinc, A. (2021). Prevalence of onychophagia and its relation to stress and quality of life. Acta Dermatovenerologica Alpina, Pannonica, et Adriatica, 30(1), 15–19. https://doi.org/10.15570/actaapa.2021.4

  • Farhat, L. C., Olfson, E., Nasir, M., Levine, J. L. S., Li, F., Miguel, E. C., & Bloch, M. H. (2020). Pharmacological and behavioral treatment for trichotillomania: An updated systematic review with meta-analysis. Depression and Anxiety, 37(8), 715–727. doi.org/10.1002/da.23028

  • Flaitz, C. M., & Felefli, S. (2000). Complications of an unrecognized cheek biting habit following a dental visit. Pediatric Dentistry, 22(6), 511–512. DOI)

  • Ganapathi, A., Prabakar, J., & Jeevitha, M. (2021). Prevalence of malocclusion and its relationship with deleterious oral habits among 18–25 years old adults attending a private dental college- a hospital based cross sectional study. Journal of Contemporary Issues in Business and Government, 27(02). https://doi.org/10.47750/cibg.2021.27.02.060

  • Houghton, D. C., Alexander, J. R., Bauer, C. C., & Woods, D. W. (2018). Body-focused repetitive behaviors: more prevalent than once thought?. Psychiatry Research, 270, 389–393. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2018.10.002

  • Kahl-Nieke, B. (2001). Einführung in die Kieferorthopädie. München: Urban & Fischer.

  • Lee, D. K., & Lipner, S. R. (2022). Update on diagnosis and management of onychophagia and onychotillomania. In International Journal of Environmental Research and Public Health (Vol. 19, Issue 6). MDPI. doi.org/10.3390/ijerph19063392

  • McKinney, R., Olmo, H., & McGovern, B. (2022). Benign chronic white lesions of the oral mucosa. In StatPearls [Internet]. StatPearls Publishing. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK570596

  • Moritz, S., Scheunemann, J., Jelinek, L., Penney, D., Schmotz, S., Hoyer, L., Grudzień, D. & Aleksandrowicz, A. (2023a). Prevalence of body-focused repetitive behaviors and disorders in a diverse population sample – rates across age, gender, race and education. Psychological Medicine, 1– 7. https://doi.org/10.1017/S0033291723003392

  • Moritz, S., Penney, D., Mißmann, F., Snorrason, I., & Schmotz, S. (2023b). Same but different? Phenomenological differences among various types of body-focused repetitive behaviors. Annals of Clinical Psychiatry, 35(4). doi.org/10.12788/acp.0123

  • Odenrick, L., & Brattström, V. (1983). The effect of nailbiting on root resorption during orthodontic treatment. European Journal of Orthodontics, 5(3), 185-188. 10.1093/ejo/5.3.185

  • Saulue, P., Carra, M. C., Laluque, J. F., & d'Incau, E. (2015). Understanding bruxism in children and adolescents. International Orthodontics, 13(4), 489–506. https://doi.org/10.1016/j.ortho.2015.09.001

  • Schmelzeisen, R. (2022). Verletzungen der Mundschleimhaut - Diagnose und Therapie
    . Zm Online. www.zm-online.de/artikel/2002/die-mundschleimhaut/verletzungen-der-mundschleimhaut-diagnose-und-therapiern

  • Schmotz, S., Weidinger, S., Markov, V., Penney, D., & Moritz, S. (2023). Self-help for body-focused repetitive behaviors: A randomized controlled trial. Journal of Obsessive-Compulsive and Related Disorders, 38. doi.org/10.1016/j.jocrd.2023.100810

  • Shetty, S., Pitti, V., Satish Babu, C. L., Surendra Kumar, G. P., & Deepthi, B. C. (2010). Bruxism: a literature review. Journal of Indian Prosthodontic Society, 10(3), 141–148. https://doi.org/10.1007/s13191-011-0041-5

  • Skurya, J., Jafferany, M., & Everett, G. J. (2020). Habit reversal therapy in the management of body focused repetitive behavior disorders. Dermatologic Therapy, 33(6). doi.org/10.1111/dth.13811

  • Solley, K., & Turner, C. (2018). Prevalence and correlates of clinically significant body-focused repetitive behaviors in a non-clinical sample. Comprehensive Psychiatry, 86, 9–18. https://doi.org/10.1016/j.comppsych.2018.06.014

  • Tomás Carmona, I., Cameselle Tejeiro, J., Diz Dios, P., Seoane Lestón, J., Castro Ferreiro, M., & Limeres Posse, J. (2000). Morsicatio linguarum versus oral hairy leukoplakia. Dermatology (Basel, Switzerland), 201(3), 281–282. doi.org/10.1159/000018483

  • World Health Organization. (2016). International statistical classification of diseases and re-lated health problems (10th ed.). icd.who.int/browse10/2016/en

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Steffen Moritz

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistr. 52, Gebäude West 37,
20246 Hamburg
moritz@uke.uni-hamburg.de

Dr. med. dent. Natascha Bruhn

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Poliklinik für Kieferorthopädie
Martinistr. 52, Gebäude Ost 58,
20246 Hamburg

Dr. med. dent. Jesper Delfs

Kieferorthopädie in Lübeck,
Kücknitzer Hauptstr. 2,
23569 Lübeck

Luca Hoyer

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistr. 52, Gebäude West 37,
20246 Hamburg

M.Sc. Stella Schmotz

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistr. 52, Gebäude West 37,
20246 Hamburg

Lucy Seute

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistr. 52, Gebäude West 37,
20246 Hamburg

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.