Deutschlands größter Pflegefall
Die Ausgangslage
Seit 1995 gibt es die Gesetzliche Pflegeversicherung. Sie ist eine Pflichtversicherung, die sich aus der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) für gesetzlich Versicherte und der Privaten Pflegepflichtversicherung (PPV) für Privatversicherte zusammensetzt. Es handelt sich um eine Teilkostenversicherung. Ihre Leistungen reichen in der Regel nicht aus, um die gesamten Kosten für die Pflege zu decken, insbesondere wenn sie stationär erfolgt. Für Betroffene bleibt ein Eigenanteil, der seit Jahren kontinuierlich steigt. Gleiches gilt für die Beitragssätze. Wie die Pflegeversicherung, vor allem die SPV, langfristig finanziert werden soll, wird in dieser Legislatur ein zentrales Thema der Gesundheitspolitik sein.
Die Finanzierung der SPV …
… läuft – wie die der Rente und der GKV – über ein Umlageverfahren. Bis Ende 2021 konnten die jährlichen Ausgaben aus den Versichertenbeiträgen getragen werden. Zum 1. Januar 2025 beschloss die Bundesregierung eine Erhöhung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent. Für Versicherte ohne Kinder liegt er bei 4,2 Prozent. Die SPV steht vor großen Herausforderungen: Schon jetzt – obwohl die geburtenstarken Jahrgänge aktuell noch im Erwerbsleben stehen und Sozialversicherungsbeiträge entrichten – hat sie ein Finanzierungsproblem. Seit Jahren steigt der Beitragssatz (Abb. 1). Die Probleme werden sich verschärfen, wenn die Babyboomer in Rente gehen und einige Jahre später möglicherweise selbst pflegebedürftig werden.
Die Probleme
Sinkende Einnahmen: Der demografische Wandel wird die umlagefinanzierte SPV unter Druck setzen, weil immer weniger erwerbstätige Versicherte für die geburtenstarken älteren Jahrgänge aufkommen müssen.
Steigende Ausgaben: Laut Barmer Pflegereport 2024 wird sich die Pflegedauer in Deutschland „dramatisch erhöhen“. Bei kürzlich verstorbenen Pflegebedürftigen habe sie noch durchschnittlich 3,9 Jahre betragen, bei aktuell pflegebedürftigen Menschen rechnet die Barmer mit 7,5 Jahren. Als Grund für die längere Dauer wird die 2017 eingeführte Erweiterung des Pflegebegriffs genannt.
Hohe Eigenanteile: Die Kosten für die Unterbringung in einem Pflegeheim sind weitaus stärker gestiegen als die Leistungen, die Versicherte aus der Pflegeversicherung erhalten. Im Februar 2025 meldete der Verband der Ersatzkassen (vdek), dass Pflegebedürftige für einen Platz im Heim im Bundesdurchschnitt 3.000 Euro pro Monat zahlen.
Die Gründe
Ausweitung der staatlichen Leistungen: Alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung wurden zum 1. Januar 2025 um 4,5 Prozent angehoben. Die Anpassung der Leistungsbeträge hat ein Gesamtvolumen von 1,8 Milliarden Euro, die Pflegebedürftigen und Sozialhilfeträgern zugutekommen, finanziert von den Versicherten.
Erweiterung des Pflegebegriffs: Seit 2017 gilt ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, der nicht mehr von drei Pflegestufen, sondern fünf Pflegegraden spricht. Demenzielle Erkrankungen wurden miteinbezogen. Dadurch stieg die Zahl der Pflegebedürftigen stärker als durch die Alterung der Gesellschaft zu erwarten war. Auf Basis demografischer Daten hatte das Statistische Bundesamt für 2021 bis 2023 einen Anstieg um rund 100.000 zusätzliche Pflegebedürftige vorausgesagt. Die tatsächliche Zunahme lag bei 730.000 Menschen. Die Kosten in der SPV nahmen nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Jahr 2018 um 7,3 Milliarden Euro zu, ein Plus von 25 Prozent.
Personalkosten und Fachkräftemangel: Ein von der PKV ins Leben gerufener „Experten-Rat Pflegefinanzen“ stellte 2023 unter anderem fest, dass Pflegeleistungen personalintensiv sind ein geringes Rationalisierungspotenzial aufweisen. Kostensenkungen sind demnach schwer umzusetzen. Dazu trägt auch die Gehaltsentwicklung von Pflegekräften bei. Um dem Fachkräfteengpass entgegenzuwirken und den Beruf aufzuwerten, sind Pflegeeinrichtungen seit Mitte 2022 verpflichtet, Pflegekräfte nach Tarifvertrag zu bezahlen.
Lösungsvorschläge
Sockel-Spitze-Tausch: Dieses Konzept wurde 2017 erstmals von der „Initiative ProPflegereform“ in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsökonom Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen vorgestellt. 2019 griff die DAK es in ihrem Pflegereport auf. Ziel ist es, Pflegebedürftige durch eine Deckelung der Eigenanteile zu entlasten. Das Prinzip in Kürze: „Bisher zahlt die Pflegekasse den festen Sockel und die nach oben offene Spitze zahlen die Kunden als Eigenanteil. Jede Verbesserung treibt also nur die Kosten der Kunden in die Höhe. Mit dem Sockel-Spitze-Tausch drehen wir das um: Die Kunden bezahlen den festen Sockel und alle weiteren Kosten bezahlt die Pflegekasse.“ Ursprünglich wurden als Sockelbetrag 450 Euro genannt. Die Mehrkosten sollen aus Steuermitteln finanziert werden.
An diesem Ansatz gibt es folgende Kritik: Sollte der Steuerzuschuss nicht ausreichen, werden im umlagefinanzierten System die jüngeren Generationen stark belastet. Auch biete die Idee Raum für Fehlanreize. So könnten Pflegebedürftige immer mehr Leistungen in Anspruch nehmen, da diese für sie nicht mehr mit zusätzlichen Kosten verbunden sind. Um dem entgegenzuwirken, müsste der tatsächliche Pflegebedarf im Einzelfall bürokratisch aufwendig geprüft werden. Einige Kritiker würden ausgabendämpfende Ansätze vorziehen.
Pflege+ Versicherung: Der von der PKV initiierte „Experten-Rat Pflegefinanzen“ um Prof. Dr. Jürgen Wasem schlägt für die Finanzierung des Eigenanteils an der stationären Pflege eine kapitalgedeckte und für alle verpflichtende Pflegezusatzversicherung mit Auf- und Abbau von Alterungsrückstellungen vor. Sie soll mit einem Annahmezwang für die Versicherungsunternehmen verknüpft werden und ohne individuelle Gesundheitsprüfung und Vertriebsprovision erfolgen. Eine automatische Dynamisierung soll der Inflationssicherung dienen. Im Leistungsfall übernimmt die Versicherung die bei Pflegebedürftigen verbleibenden pflegebedingten Eigenanteile im Pflegeheim. Selbst zu zahlen wäre ein Anteil von zehn Prozent.
Kritik an dem Vorschlag üben die gesetzlichen Krankenkassen. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) lehnt das Konzept mit der Begründung ab, dass kapitalgedeckte Versicherungen erheblichen Marktrisiken ausgesetzt sind. Besser wäre aus Sicht der Kassen, wenn die PKV sich am Finanzausgleich der SPV beteiligen würde.