Trends in der kraniofazialen Distraktionsosteogenese
Noch immer gelten die 1951 vom russischen Orthopäden Gawriil Abramowitsch Ilizarov aufgestellten klinischen Prinzipien der Distraktionsosteogenese: maximaler Erhalt der extraossären und medullären Blutversorgung, stabile Fixierung, Latenzzeit (3–7d), schrittweise Distraktion (1 mm/d) und Einhaltung der Konsolidierungszeit (je nach Alter zwischen vier und 16 Wochen). Dagegen sind die molekularbiologischen Grundlagen der Kallusdistraktion auch heute nicht abschließend geklärt.
Histologische und molekulare Vorgänge
Intramembranöse Ossifikation
Während bei der Frakturheilung eine endochondrale Ossifikation mit knorpeliger Zwischenstufe und sekundärer Verknöcherung stattfindet, weist die schrittweise Distraktionsosteogenese eine direkte intramembranöse Ossifikation auf [Runyan und Gabrick, 2017]. Dabei entwickelt sich in den ersten Tagen nach der Osteotomie eine fibrovaskuläre Brücke (sogenannte fibröse Interzone), bestehend aus Fibroblasten und chondrozytenartigen Zellen.
Nach Beginn der Distraktion (nach vier bis sieben Tagen) bildet sich zu beiden Seiten der fibrösen Interzone eine primär-mineralisierende Ossifikationsfront mit zahlreichen proliferierenden Osteoblasten aus, die eine säulenartige primäre Knochenbildung induzieren. Während der Konsolidierung kommt es dann von peripher nach zentral zu einer zunehmenden Osteoid-Mineralisierung zwischen den Säulen und letztlich zur Durchbauung der fibrösen Interzone [Runyan und Gabrick, 2017].
Aus der Geschichte der Distraktionsosteogenese
1906: Codivilla beschreibt nach schräger Osteotomie des Unterschenkels und Distraktion über eine Gipsapparatur mit einer Kraft von 30 kg einen schrittweisen Anbau an Knochen bei gleichzeitiger Adaption der umgebenden Weichgewebe [Codivilla, 2008].
1927: Rosenthal durchtrennt und verlängert einen Unterkiefer bei mandibulärer Retrognathie im Bereich der Prämolarenregion über eine an den Zähnen befestigte Apparatur [Wassmund, 1935].
1954: Der russische Orthopäde Gavriil Ilizarov führt über einen doppelten Ringfixateur mit stabiler kortikaler Pinfixierung großstreckige Extremitätendistraktionen mit einer Rate von 1 mm/Tag durch und beschreibt als erster die Prinzipien Latenz, Aktivierung und Konsolidierung unter Erhalt der Stabilität und Blutversorgung [Ilizarov, 1954].
1973: Snyder et al. verlängern einen Hundeunterkiefer um 14 mm über einen externen Distraktor mit erfolgreicher knöcherner Konsolidierung nach sechs Wochen [Snyder et al., 1973].
1976: Bell und Epker beschreiben die erste chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung über eine zahngetragene Apparatur zur transversalen Dehnung des Oberkiefers im Erwachsenenalter [Bell und Epker, 1976].
1992: Joseph McCarthy publiziert die ersten vier Fälle von Unterkieferdistraktionen an Kindern mit kraniofazialer Mikrosomie beziehungsweise Nagersyndrom [McCarthy et al., 1992].
ab 1995: Ausweitung der Distraktionsosteogenese auf den Alveolarfortsatz [Chin und Toth, 1996], das Mittelgesicht [Polley et al., 1995; Polley und Figueroa, 1997] und das Kranium [Hirabayashi et al., 1998; White et al., 2009].
Embryonale Regulation
Molekularbiologisch löst die Distraktion auch bei Erwachsenen Vorgänge aus, wie sie normalerweise in der Embryonalentwicklung stattfinden. Nach aktuellen Erkenntnissen werden skelettale Stammzellen, die an den Knochenenden residieren, nach der Osteotomie durch die mechanische Reizung der Distraktion aktiviert, wodurch Regulationsmechanismen initiiert werden, wie sie physiologischerweise nur in primären Neuralleistenzellen während der Embryogenese zu finden sind. Gesteuert werden diese Regulationen durch den Fokalen Adhäsionskinase (FAK)-Signalweg [Ransom et al., 2018].
Distraktortypen
Grundsätzlich haben sich zwei Distraktortypen, intern (Abbildung 1) und extern (Abbildung 2), entwickelt.

Beim internen Distraktor liegt die Apparatur subperiostal unter dem Weichgewebe, lediglich der Aktivierungsarm wird über die Haut oder die Schleimhaut nach außen geführt. Der externe Distraktor wird über transkutane Pins oder Halteplatten und Drahtkonstruktionen am Kiefer- beziehungsweise am Gesichtsschädelknochen fixiert. Beide Versionen haben spezifische Vor- und Nachteile.
Während der externe Distraktor auch postoperativ eine Korrektur des Verlagerungsvektors zulässt, ist die Distraktionsrichtung beim internen Gerät vorgegeben. Hauptnachteil des externen Distraktors ist das auffällige Erscheinungsbild für mehrere Monate, wobei sich die Patienten und ihr Umfeld erstaunlich schnell daran gewöhnen. Darüber hinaus bilden sich vor allem bei der Unterkieferdistraktion stärker sichtbare kutane Narben aus.
Virtuelle Planung
Wie in anderen Bereichen der kraniofazialen Chirurgie hat die computergestützte chirurgische Planung die Technik und die Sicherheit der kraniofazialen Distraktionsosteogenese erheblich verbessert. So können während der virtuellen Planung Risikostrukturen wie Zahnkeime oder der N. alveolaris inferior dreidimensional exakt dargestellt und bei der Platzierung der Osteotomie und des Distraktors berücksichtigt werden [Tan et al., 2019].
Die chirurgische Umsetzung mithilfe von individuell hergestellten Bohr- und Sägeschablonen ermöglicht die geplanten Bohrungen mit einer Fehlerabweichung von < 1 mm und das Setzen der Osteotomielinie mit einer Abweichung von weniger als 4° von der geplanten Achse [Vanesa et al., 2021]. In Anbetracht der beengten knöchernen Verhältnisse von Kleinkindern stellt diese Genauigkeit einen enormen Vorteil dar (Abbildung 3).
Ein weiterer Vorteil der virtuellen Planung liegt in der Simulation der Distraktion. So kann der Distraktionsvektor durch die Orientierung des Distraktors möglichst perfekt festgelegt werden, außerdem kann die Distraktionsstrecke und damit auch die Distraktionszeit abgeschätzt werden. Diese visuelle Darstellung der Gesichtsschädelverlagerung ermöglicht dem Patienten beziehungsweise den Eltern einen besseren Zugang zur geplanten Operation und erhöht dadurch die Compliance.
Nach der Herstellung eines 3D-Modells können die Fußplatten des Distraktors bereits präoperativ optimal an die Anatomie des Kiefers oder des Schädelknochens angepasst werden, wodurch sich wiederum die Passgenauigkeit und die Stabilität erhöhen bei gleichzeitiger Verkürzung der OP-Zeit. Die vereinfachte Applikation des Distraktors ermöglicht in vielen Fällen die Durchführung der Operation von intraoral mit zusätzlichen transbukkalen Bohrhilfen, da die direkte Aufsicht auf die Osteotomie durch die vorhandene Schablonenführung wegfällt (Abbildung 3F). Unterstützt wird dieses Vorgehen durch die transorale endoskopische Darstellung der Osteotomien und Bohrungen (Abbildung 4).
Neue piezochirurgische abgewinkelte Sägesysteme vereinfachen zudem die kontrollierte Osteotomie. Hauptnachteil der virtuellen Planung ist selbstverständlich die Notwendigkeit einer Computertomografie mit der einhergehenden Strahlenexposition. Dazu kommt, dass bei Kleinkindern diese Untersuchung oftmals in Narkose erfolgen muss, was aufgrund der veränderten Anatomie mit möglicher Kompromittierung des Luftwegs weitere anästhesiologische Probleme nach sich ziehen kann.
Indikationen
Die kraniofaziale Distraktionsosteogenese findet Anwendung in allen Bereichen des Gesichtsschädels, insbesondere im Unterkiefer, im Oberkiefer und im Mittelgesicht sowie im Kranium.
Unterkiefer
Ein traditionelles Anwendungsgebiet der Unterkieferdistraktion stellt die uni- oder bilaterale Mikrognathie des Unterkiefers bei kraniofazialer Mikrosomie dar (Abbildung 5).
Der Begriff der kraniofazialen Mikrosomie umfasst die weiteren Termini der hemifazialen Mikrosomie, des Goldenhar-Syndroms (in der Regel mit vertebralen Auffälligkeiten oder epibulbären Dermoiden) oder des auriculo-oculo-vertebralen Syndroms. Die Diagnose dieser nach Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten zweithäufigsten Gesichtsfehlbildung basiert auf der Klinik, etabliert hat sich zur Beschreibung der ein- oder beidseitigen Fehlbildungen das OMENS(Orbit, Mandible, Ears, Facial Nerve, Soft Tissue)-Klassifikationssystem. Die Ausprägung der Kieferdeformation basiert auf der Klassifikation nach Pruzansky und Kaban [Kaban et al., 1988].
Obwohl die kraniofaziale Mikrosomie – vor allem die Typen IIa und IIb – eine der ältesten Indikationen zur Unterkieferdistraktion darstellt, wird diese Anwendung derzeit sehr kontrovers diskutiert, da die frühkindliche Distraktion, insbesondere bei Pruzansky-Kaban-Klasse IIb ein wachstumsbedingtes Rezidiv nicht vermeiden kann und ein weiterer operativer Eingriff – in der Regel eine Umstellungsosteotomie – im frühen Erwachsenenalter erforderlich ist [Nagy et al., 2009; Pluijmers et al., 2014; Zhang et al., 2018].
Befürworter der Distraktion argumentieren, dass die in jedem Fall notwendige Umstellungsosteotomie vom vermehrten Knochenangebot der vorangegangenen Distraktion signifikant profitiert, wodurch ein besseres ästhetisches Ergebnis gegenüber der alleinigen bignathen Umstellung erreicht werden kann [Shakir und Bartlett, 2021]. Zu beachten ist die Gefahr einer Kondylusresorption des häufig nur rudimentär ausgebildeten Kiefergelenks als Folge der hohen Druckbelastung bei gleichzeitig insuffizienter Abstützung während einer Ramusdistraktion. Dieses Risiko kann und sollte durch die Eingliederung einer kieferorthopädischen Aufbiss-Apparatur und von anterioren Gummizügen zur Druckentlastung der Gelenkregion verringert werden (Abbildung 6).
Bei Patienten mit Typ-I- und -IIa-Deformitäten mit weitgehend gegebener Kiefergelenksfunktion ist mit geringeren Rezidivraten nach Distraktion zu rechnen, allerdings ist hier, vor allem beim Typ I, nach entsprechender kieferorthopädischer Vorbehandlung häufig die mono- oder bimaxilläre Umstellungsosteotomie ausreichend.
Unterkieferdeformitäten vom Typ III erfordern zumeist komplexe Rekonstruktionen des Ramus- und Gelenkbereichs mit costochondralem Rippentransplantat im Kindesalter und freier Fibula oder Kiefergelenkstotalendoprothese im Adoleszenz- und Erwachsenenalter [Cleveland et al., 2017; Resnick, 2018; Arif et al., 2024]. Häufig müssen diese Patienten zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen, so dass in jeder Behandlungsphase die psychosoziale Belastung des Kindes und der Eltern in die Entscheidung mit einfließen muss. Eine kürzlich verfasste Europäische Leitlinie beschäftigt sich ausführlich mit der Therapie der kraniofazialen Mikrosomie [Renkema, 2020].
Erweiterung des Atemweges
Das Treacher-Collins-Syndrom (Syn.: Franceschetti-Syndrom), das Nager-Syndrom sowie das Pierre-Robin-Syndrom stellen ebenfalls frühkindliche Fehlbildungen dar, die aufgrund des fehlenden Unterkieferwachstums zu einer massiven Einschränkung des Atemweges (Schlafapnoe) bis hin zur Notwendigkeit einer Tracheotomie führen können.
Hier kann die frühe Distraktion zur Erweiterung des Atemweges in Erwägung gezogen werden [Morrison et al., 2021; Peck et al., 2021]. Umstritten ist der Einsatz beim Pierre-Robin-Syndrom, da hier in den meisten Fällen der Luftweg über spezielle kieferorthopädische Apparaturen (zum Beispiel die sogenannte Tübinger Atemplatte) bis zur Nachentwicklung des Unterkiefers gesichert werden kann [Poets et al., 2019; Weismann C, 2024]. Dennoch zeichnet sich derzeit weltweit bei schweren Ausprägungen ein Trend zur frühen, neonatalen Distraktion ab, um die obstruktive Schlafapnoe unter Vermeidung einer Tracheotomie zu umgehen [Resnick et al., 2019]. Eine Ursache hierfür liegt möglicherweise im fehlenden Zugang zur konservativen Plattentherapie und im fehlenden interdisziplinären Know-how, weshalb die Behandlung in spezialisierten Zentren gefordert wird [Sullivan et al., 2023].
Alveolarfortsatz
Die Alveolarfortsatzdistraktion besitzt vor allem in Deutschland eine große Tradition und wurde mit der Entwicklung verschiedener Distraktoren maßgeblich vorangetrieben [Hidding et al., 1999; Nickenig et al., 2023]. Im Sinne einer Transportdistraktion stellt sie eine Alternative zu augmentativen Verfahren bei einer ausgeprägten Atrophie des Alveolarfortsatzes im Ober- oder Unterkiefer dar (Abbildung 7).
Dabei erfolgt die Ernährung des Transportsegments über das linguale beziehungsweise das palatinale Mukoperiost, das bei der Distraktion mitgedehnt wird. Die Alveolarfortsatzdistraktion ermöglicht einen enormen vertikalen Knochenzuwachs, allerdings besitzt sie ein relevantes Komplikationsrisiko [Ettl et al., 2010; Urban et al., 2019].
Durch das straffe orale Mukoperiost neigt das Transportsegment zu einer oralen Vektorinklination, zudem erfordern vestibuläre Ossifikationsdefizite nicht selten sekundäre laterale Augmentationen. Resorptionen des Transportsegments sowie die Bruchgefahr des atrophen Unterkiefers stellen weitere ernsthafte Risiken dar, weshalb sich die Alveolarfortsatzdistraktion gegenüber augmentativen Verfahren letztlich nicht als Standardlösung durchgesetzt hat.
Oberkiefer und Mittelgesicht
Klassische Indikationen für eine Oberkiefer- oder Mittelgesichtsdistraktion stellen nicht-syndromale (zum Beispiel Z.n. Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten oder Traumata) und syndromale (unter anderem die kraniofazialen Dysostosen M. Crouzon, M. Apert, M. Pfeiffer) Hypoplasien des Mittelgesichts dar. Dabei erfolgt die Distraktion je nach Ausprägung der Mittelgesichtshypoplasie (vor allem nasopharyngealer Luftweg, Exorbitismus, retrale Jochbein-, Nasen- und Oberkieferposition) in der Le-Fort-I-, der Le-Fort-II- oder der Le-Fort-III-Ebene [Engel et al., 2019; Figueroa et al., 2021; Hopper et al., 2021].
Klassisches Anwendungsgebiet der Le-Fort-I-Distraktion sind LKG-Patienten mit sehr hypoplastischem Oberkiefer und damit einhergehender ausgeprägter Klasse-III-Kieferbasenrelation (Abbildung 8). Hier ermöglicht die Distraktion gegenüber der Umstellungsosteotomie aufgrund der graduellen Dehnung der restriktiven Weichgewebe deutlich größere Vorverlagerungen (> 10 mm) bei gleichzeitig geringerer Rezidivgefahr und geringerem Risiko einer velopharyngealen Insuffizienz mit einhergehender Sprechverschlechterung [Kumar et al., 2006; Kloukos et al., 2018].
Erwähnt werden muss an dieser Stelle der Oberkieferhypoplasie natürlich auch die transversal gerichtete chirurgische Gaumennahterweiterung (GNE – SARPE), die sicherlich die häufigste Form der Oberkieferdistraktion im Rahmen kombinierter kieferorthopädisch-chirurgischer Therapien darstellt.
Auch auf Le-Fort-II- und -III-Ebene kann mithilfe der Distraktion gegenüber der konventionellen Mittelgesichtsvorverlagerung eine signifikant größere Vorverlagerung (bis zu 20 mm und mehr) bei gleichzeitiger Verringerung der perioperativen Morbidität (vor allem Infektionsgefahr) und der Rezidivrate [Shetye et al., 2010; Saltaji et al., 2014] erreicht werden. Hier hat sich die Distraktion eindeutig als Therapie der Wahl etabliert.
Grundsätzlich können auch für das Mittelgesicht sowohl interne als auch externe Distraktoren verwendet werden (Abbildungen 9 und 10). Interessanterweise lässt sich für das Mittelgesicht, vor allem in der Le-Fort-III-Ebene, ein weltweiter Trend hin zu den externen Apparaturen feststellen, was in erster Linie auf die bessere Steuerung des Distraktionsvektors und die höhere Flexibilität zurückzuführen ist [Bertrand et al., 2019].
Kombination Mittelgesicht und Unterkiefer
Bei älteren Kindern mit ausgeprägten Formen von Treacher-Collins-Syndromen wurde 2018 erstmalig eine kombinierte Distraktion des Mittelgesichts und Unterkiefers en bloc mit Rotation gegen den Uhrzeigersinn beschrieben, wodurch der oro- und der hypopharyngeale als auch der nasopharyngeale Luftweg erweitert wird – bei gleichzeitiger Etablierung einer eindeutigen dentalen Okklusion als Voraussetzung für ein stabiles Langzeitergebnis [Hopper et al., 2018]. Abbildung 11 zeigt dieses Vorgehen an einer eigenen Patientin, wie es in Deutschland erstmals erfolgreich durchgeführt werden konnte.
Auch für die hemifaziale Mikrosomie könnte die gleichzeitige laterale Distraktion des Unter- und Oberkiefers in Okklusion eine zielführende Option darstellen, da über die Okklusion und den Distraktor des Oberkiefers die vertikalen Kräfte der Ramusdistraktion auf das stabile Jochbein übertragen werden und somit die Resorptionsgefahr des Kondylus sinkt bei gleichzeitiger Gewährleistung der Okklusion [Lu et al., 2016].
Kranium
Auch Kraniosynostosen, also die frühzeitige Verknöcherung einer oder mehrerer Schädelnähte mit einhergehender Schädeldeformierung und möglicher Hirndruckerhöhung, können mithilfe der Distraktionsosteogenese als Alternative zur einmaligen Schädeldach-modellierenden-OP (zum Beispiel Fronto-Orbitales Advancement, FOA) behandelt werden. Das Schädeldach kann dabei anterior oder posterior distrahiert werden, wobei letzteres Vorgehen die größte Volumenzunahme ermöglicht [White et al., 2009; Derderian et al., 2015].
Noch einen Schritt weiter geht die sogenannte Monobloc-Distraktion, bei der neben dem vorderen Schädeldach gleichzeitig auch das Mittelgesicht zur Therapie eines eingeengten Atemwegs (Schlaf-Apnoe-Syndrom) oder eines ausgeprägten Exorbitismus distrahiert wird [Paternoster et al., 2021]. Im Vergleich zur konventionellen En-bloc-Verlagerung scheint die Distraktion hier mit einem niedrigeren Risiko für Rezidive, Infektionen, Blutverlust, Liquorfisteln oder Enzephalomeningozelen assoziiert [Kim et al., 2007; Mundinger et al., 2016]. Grundsätzlich muss an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen werden, dass all die zuletzt genannten Therapien des Kraniums ein gewisses Komplikationsrisiko besitzen und daher hochspezialisierten Zentren vorbehalten sind.
Schlussfolgerung
Die kraniofaziale Distraktionsosteogenese hat sich zur Korrektur ausgedehnter knöcherner und weichgeweblicher Defizite des Gesichts- und Schädelbereichs etabliert. Mittlerweile wird die Distraktionsosteogenese in nahezu allen Bereichen des kraniofazialen Skeletts angewendet. Hauptindikationen stellen ausgeprägte Retrognathien des Unterkiefers mit Beeinträchtigung des Luftwegs sowie syndromale oder nicht-syndromale Hypoplasien des Mittelgesichts dar. Die Bedeutung der Schädeldach- oder Monobloc-Distraktion gegenüber konventionellen Verlagerungstechniken (zum Beispiel Frontoorbitalem Advancement) bleibt abzuwarten.
Die kraniofaziale Distraktionsosteogenese führt in ihren Hauptindikationen zu einer einzigartigen Genese von Knochen- und Weichgewebe mit Verbesserung von Funktion und Ästhetik bei gleichzeitiger Verringerung der Operationszeit, der Morbidität und der Mortalität.
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